Das fast ausschließliche Interesse neutestamentlicher Textkritik an der Erstellung eines Urtextes hat die Frage in den Hintergrund verdrängt, wie die frühe Christenheit mit dem Text der Evangelien umging. War er für sie ein heiliger Text wie das Alte Testament für die Juden und ersten Christen, oder nahmen sich die Gemeinden die Freiheit, den Text nach den eigenen Bedürfnissen abzuwandeln? Die synoptische Forschung nimmt für die Entstehung der Evangelien auf jeden Fall einen freien Umgang mit der Überlieferung an. Wundergeschichten wurden zur Befriedigung der frommen Neugier erweitert, während Wortüberlieferung zur einprägsameren knappen Form der einzelnen Sprüche neigte. Nun kann man allerdings für das zweite Jahrhundert, in der sich die unterschiedlichen Textformen bildeten, nicht ohne weiteres dasselbe annehmen wie für die ersten Christen. Die Texte waren für die Gemeinden auf jeden Fall kostbare Güter, da nicht nur das Material – ob Papyrus oder Pergament – teuer war; auch das Abschreiben war kostspielig, einerlei ob man es in der kurzen Freizeit vornahm, die nach einem langen Arbeitstag blieb, oder ob man die Möglichkeit hatte, eine Abschrift in Auftrag zu geben. Ob die Texte jedoch in dem Sinn für heilig gehalten wurden, daß alles daran lag, sie unverändert weiterzugeben, erscheint als fraglich, da wir zu viele Varianten kennen, die den Sinn des Textes wenn nicht theologisch so doch stilistisch verändern.