Bei der literarkritischen, auf traditionsgeschichtliche Untersuchung zielenden Analyse der Ostererzählung bei Matthäus wird zumeist vorausgesetzt, daß die Perikope von den Grabeswächtern (Matt. xxvii. 62–6) und die vom Betrug der Hierarchen (xxviii. 11–15) zwei aufeinander bezogene legendarische Erweiterungen der älteren Osterüberlieferung seien, die ihre Entstehung dem in xxviii. 15 sichtbar werdenden apologetischen Motiv verdanken und deshalb keiner weiteren Beachtung wert sind. Nach der Ausschaltung dieser beiden Perikopen pflegt sich die Analyse dem Abschnitt xxviii. 1–10 zuzuwenden (die besonderen Probleme des vielverhandelten Schlusses des Evangeliums, xxviii. 16–20, sollen im Folgenden außer Acht bleiben). Setzt man nun – wie ich meine, mit Recht – die Abhängigkeit des Matthäus von Markus voraus, so sind einerseits die Abwandlungen in Matt, xxviii. 1–8 gegenüber Mark. xvi. 1–8 redaktionskritisch zu erklären (auch darauf soil im Folgenden nicht der Ton liegen); andererseits ist zu fragen, ob Matthäus neben Mark. xvi. 1–8 noch andere Überlieferungen benutzt hat, durch die die Erweiterungen und gegebenenfalls auch die Abwandlungen der matthäischen Darstellung bedingt sind. F¨r xxviii. 9–10 ist diese Frage m. E. negativ zu beantworten. Man hat zwar gelegentlich erwogen, ob Matthäus bei der Erscheinung des Auferstandenen vor den Frauen einer zusätzlichen Quelle oder gar der uns verlorengegangenen Fortsetzung hinter Mark. xvi. 8 folgt., Aber der Auferstandene weiB nach Matthaus den Frauen nichts anderes zu sagen als das, was sie bereits vom Angelus interpres am Grabe gehört hatten; außer daß den Frauen der Gruß des Auferstandenen zuteil wird, bedeutet die kleine Szene fur sie nur eine im übrigen folgenlose Unterbrechung ihres eifrigen Bemühens, den Auftrag des Engels schnell auszurichten. Das spricht dafür, daß sich die kleine Szene und in Verbindung damit die Abwandlung des abrupten Endes bei Markus der literarischen Arbeit des Matthäus verdanken, der der Grabauffindungserzählung einen befriedigenderen Abschluß geben wollte. Hatte sich diese Erzählung wohl urspriinglich aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, die nach der älteren Passionsüberlieferung (und noch nach Markus und Matthäus) einzigen Getreuen unter dem Kreuz, die Frauen, auch ihren Anteil am Ostergeschehen erleben zu lassen, ohne daß dieser Anteil mit der Überlieferung von den eigentlichen Osterwiderfahrnissen (I. Kor. xv. 5–7) in Konflikt geraten sollte, so machte sich nun die Tendenz geltend, auch den Frauen eine wirkliche Osterbegegnung zuteil werden zu lassen – eine Tendenz, die sich in Joh. xx, wenn auch auf eine Frau eingeschrankt (Joh. xx. 1 und 11–18), breiter entfaltet hat.