(I) Eines der folgenreichsten und wichtigsten Ergebnisse der geschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments war die gegen Ende des 19. Jh. gewonnene Erkenntnis, daß die Erwartung des baldigen Kommens der Gottesherrschaft und des Weltendes eine grundlegende Bedeutung für das Denken des frühen Christentums gehabt habe. Mit dieser Feststellung soil natürlich nicht gesagt sein, daß bis zu jenem Zeitpunkt niemand auf das Vorhandenscm einer eschatologischen Naherwartung im Neuen Testament aufmerksam geworden wäre; zahireiche neutestamentliche Texte sprechen ja zu deutlich von den bevorstehenden Endereignissen, als daß ihre Aussagen hätten unbeachtet bleiben können. So hat schon Hugo Grotius daraufhingewiesen, daß Paulus davon überzeugt war, er könne das letzte Gericht noch zu semen Lebzeiten erleben, hat aus dieser exegetischen Beobachtung freilich nur chronologische Konsequenzen gezogen. Hundert Jahre später aber hat der englische Deist Matthew Tindal in seinem Werk Christianity as Old as the Creation: or the Gospel a Republication of the Religion of Nature (1730) die umfassendere Beobachtung gemacht, daß in fast alien Schriften des Neuen Testaments die Überzeugung herrsche, das Ende der Welt sd nahe, und daß die Urchristen aufdiesen Glauben ihre ethischen Mahnungen gegründet hatten. ‘But, if most of the Apostles… were mistaken in a matter of this consequence, how can we be certain, that any one of them may not be mistaken in any other matter?’. Tindal hat also die eschatologische Naherwartung als Grundanschauung fast der ganzen Urchristenheit erkannt, darüber hinaus aber auch darauf hingewiesen, daß die Nichterfüllung dieser Erwartung zu der Konsequenz führen müsse, daß die Apostel auch in anderen Punkten im Irrtum gewesen scm können.