Bernhard Suphan selber hat einmal bemerkt, dass “Herder in Luthers Schriften bewandert war wie wenige” Menschen des achtzehnten Jahrhunderts und dass “keiner von den klassischen Zeitgenossen die Grösse des Reformators in so vollen Tönen und zu alien Zeiten gerühmt hat wie er.” Dies wichtige Gesamturteil, dem auch Rudolf Haym nicht widerspricht, weist auf den beträchtlichen Umfang der herderschen Lutherkenntnisse wie auch auf den hohen Grad seiner Lutheranerken-nung hin, insofern manche andere Deutsche der Herderzeit, vor allem Hamann und Lessing, ebenfalls über ein beachtliches Lutherwissen verfügten und den Reformater gehörig lobten. Ist Klopstocks Lutherinteresse vorwiegend sprachlich-künstlerisch, Goethes und Schillers trotz mancher Feinheit und Prägnanz doch mehr peripherisch als zentral, so ist die Lutherkenntnis Hamanns, Herders und Lessings erheblich umfassender. Bei allem Gemeinsamen nun in dem Lutherbilde der drei Letztgenannten bestehen aber auch zwischen ihnen wesentliche Unterschiede in ihrer Stellung zu Luther, Unterschiede, die sich bis in den Kern ihrer verschiedenen Persönlichkeiten erstrecken. In Herders Verhältnis zu Luther lassen sich im allgemeinen drei Hauptepochen unterscheiden, die Rigaer, die Bückeburger und die Weimarer, von denen die letzte wegen ihrer Länge wie auch wegen ihrer Reichhaltigkeit in zwei Unterteile zerfällt, die Jahrzehnte von 1776 bis 1786 und, nach einem mehr als fünfjährigen Schweigen über Luther, von 1792 bis zu Herders Tod. Innerhalb dieser einzelnen Epochen jedoch wird die Darstellung nicht streng chronologisch verfahren, sondern, ohne Ansprüche auf Vollständigkeit bei der Masse des Materials, nur das Wesentliche mehr systematisch als historisch vorzulegen sich bemühen. Allein Hauptgesichtspunkte und Hauptentwicklungslinien können im Rahmen dieses Aufsatzes berücksichtigt werden.