Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Bernhard Suphan selber hat einmal bemerkt, dass “Herder in Luthers Schriften bewandert war wie wenige” Menschen des achtzehnten Jahrhunderts und dass “keiner von den klassischen Zeitgenossen die Grösse des Reformators in so vollen Tönen und zu alien Zeiten gerühmt hat wie er.” Dies wichtige Gesamturteil, dem auch Rudolf Haym nicht widerspricht, weist auf den beträchtlichen Umfang der herderschen Lutherkenntnisse wie auch auf den hohen Grad seiner Lutheranerken-nung hin, insofern manche andere Deutsche der Herderzeit, vor allem Hamann und Lessing, ebenfalls über ein beachtliches Lutherwissen verfügten und den Reformater gehörig lobten. Ist Klopstocks Lutherinteresse vorwiegend sprachlich-künstlerisch, Goethes und Schillers trotz mancher Feinheit und Prägnanz doch mehr peripherisch als zentral, so ist die Lutherkenntnis Hamanns, Herders und Lessings erheblich umfassender. Bei allem Gemeinsamen nun in dem Lutherbilde der drei Letztgenannten bestehen aber auch zwischen ihnen wesentliche Unterschiede in ihrer Stellung zu Luther, Unterschiede, die sich bis in den Kern ihrer verschiedenen Persönlichkeiten erstrecken. In Herders Verhältnis zu Luther lassen sich im allgemeinen drei Hauptepochen unterscheiden, die Rigaer, die Bückeburger und die Weimarer, von denen die letzte wegen ihrer Länge wie auch wegen ihrer Reichhaltigkeit in zwei Unterteile zerfällt, die Jahrzehnte von 1776 bis 1786 und, nach einem mehr als fünfjährigen Schweigen über Luther, von 1792 bis zu Herders Tod. Innerhalb dieser einzelnen Epochen jedoch wird die Darstellung nicht streng chronologisch verfahren, sondern, ohne Ansprüche auf Vollständigkeit bei der Masse des Materials, nur das Wesentliche mehr systematisch als historisch vorzulegen sich bemühen. Allein Hauptgesichtspunkte und Hauptentwicklungslinien können im Rahmen dieses Aufsatzes berücksichtigt werden.
1 Herders Sämmtliche Werke, herausgegeben von Suphan, xviii, 543.
2 Vergleiche hierzu: Fritz Blanke, “Hamann und Luther”, Luther-Jahrbuch, x (1928), 28–55, und Heinz Bluhm, “Lessings Stellung zu Luther”, Germanic Review, xix (1944), 16–35.
3 W. Richter, “Wandlungen des Lutherbildes und der Lutherforschung”, Monatshefte, xxxviii (1946), 137–139.
4 Bluhm, a.a.o., 21 ff.
5 Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I (Tübingen: Mohr, 1923), S. 381 ff.
6 Bluhm, a.a.o., 23–24.
7 Vergleiche zur Sache Joh. Kirschfeldt, Herders Konsistorialexamen in Riga 1767 (Riga: Herdergesellschaft, Abhandlungen Bd. 5, 1935).—K. ist durchaus der Meinung, dass Herder sich “einwandfrei zur evangelisch-luterischen Kirche” (S.31) bekenne. Interessant ist auch K.S Bemerkung, dass “der Pietismus in Riga nie heimisch gewesen” (S. 33) sei.
8 Eduard Gronau, “Herders religiöse Jugendentwicklung”, Zeitschrift für systematische Theologie, viii (1930), 308–346.
9 Der Nordische Aufseher, i; 26. Stuck, 18. Mai 1758. S. 223–4. Die Angabe in Suphan, II, 368 ist ungenau.
10 Man denke an die Ode “Die deutsche Bibel.”
11 S. 30. Jeder Zweifel, dass mit dem “Schwärmer” Klopstock gemeint ist, wird beseitigt durch Hamanns handschriftliche Eintragung in dem Exemplar der von Faber du Faur'schen Sammlung in Yale: “Klopstock im Nordischen Aufseher, den Kramer … herausgegeben.”
12 Herder in Bückeburg (Tübingen, 1905).
13 Bluhm, a. a. O., 34–35.
14 Suphan, xxx, 307: “Wer war Luther?—Ein gelehrter und frommer Mann, der die christliche Lehre, die zu seiner Zeit sehr verderbt war, von vielen Irrthümern und Aberglauben gereinigt hat.”
15 Eine Liste der von Herder zitierten Werke Luthers, die ich mir provisorisch zusammengestellt habe, ist von erstaunlichem Umfang und unterstützt Suphans massgebendes Urteil, dass Herder zu den lutherbelesensten Menschen des achtzehnten Jahrhunderts gehört.