Unsere Überlegungen gehen von der Voraussetzung aus, daß vor der Untersuchung der Diachronie eines Textes, vor dem Versuch also einen Text aus seinem geschichtlichen Werden zu verstehen, eine Beschreibung des Textes in seiner Synchronie zu erfolgen hat. Diese Voraussetzung wurde eigentlich bei der Textbehandlung immer schon gemacht, wenigstens da, wo man einen eher philologischen, der konkreten sprachlichen Gestalt des Textes zugewandten Schritt von einer den Bezug des Textes zur Geschichte im weitesten Sinn untersuchenden Perspektive unterschied. Dennoch hat es Sinn, diese Voraussetzung ausdrücklich zu formulieren, weil die Sprach-und Literaturwissenschaft heute mittels eines Stratifikationsmodells die verschiedenen Ebenen eines sprachlichen Gebildes deutlicher unterscheidet, und so einer synchronen Beschreibung eines Textes einen genaueren und vor allem geordneteren und nachprüfbaren Weg weist, als ihn die ältere Forschung ging. Weil sie häufig, von heute aus gesehen vorschnell von der Inhaltsebene eines Textes ausging, kam sie zu Textgliederungen, innerhalb derer die einzelnen Elemente in Spannung zueinander standen, und wertete diese Spannungen, in die Diachronie übergehend, als Anzeichen literar-kritischer Einschnitte bzw. traditionsgeschichtlicher Verwerfungen, und zwar auch in Fällen, wo eine eingehendere, die verschiedenen sprachlichen Ebenen berücksichtigende Beschreibung eines Textes in seiner Synchronie diese Spannungen als nichtexistent nachweisen kann.