Strukturanalytische Überlegungen zum Gleichnis vom Reichen Mann und Armen Lazarus (LK 16, 19–31)
Published online by Cambridge University Press: 05 February 2009
Unsere Überlegungen gehen von der Voraussetzung aus, daß vor der Untersuchung der Diachronie eines Textes, vor dem Versuch also einen Text aus seinem geschichtlichen Werden zu verstehen, eine Beschreibung des Textes in seiner Synchronie zu erfolgen hat. Diese Voraussetzung wurde eigentlich bei der Textbehandlung immer schon gemacht, wenigstens da, wo man einen eher philologischen, der konkreten sprachlichen Gestalt des Textes zugewandten Schritt von einer den Bezug des Textes zur Geschichte im weitesten Sinn untersuchenden Perspektive unterschied. Dennoch hat es Sinn, diese Voraussetzung ausdrücklich zu formulieren, weil die Sprach-und Literaturwissenschaft heute mittels eines Stratifikationsmodells die verschiedenen Ebenen eines sprachlichen Gebildes deutlicher unterscheidet, und so einer synchronen Beschreibung eines Textes einen genaueren und vor allem geordneteren und nachprüfbaren Weg weist, als ihn die ältere Forschung ging. Weil sie häufig, von heute aus gesehen vorschnell von der Inhaltsebene eines Textes ausging, kam sie zu Textgliederungen, innerhalb derer die einzelnen Elemente in Spannung zueinander standen, und wertete diese Spannungen, in die Diachronie übergehend, als Anzeichen literar-kritischer Einschnitte bzw. traditionsgeschichtlicher Verwerfungen, und zwar auch in Fällen, wo eine eingehendere, die verschiedenen sprachlichen Ebenen berücksichtigende Beschreibung eines Textes in seiner Synchronie diese Spannungen als nichtexistent nachweisen kann.
1 Jülicher, A., Die Gleichnisreden Jesu, 2 (Tübingen, 1910, Neudruck Darmstadt 1963), 617–41.Google Scholar
2 Hirsch, E., Frühgeschichte des Evangeliums, 2, Die Vorlage des Lukas und das Sondergut des Matthäus (Tübingen, 1941), 224–27.Google Scholar
3 Greßmann, H., Vom reichen Mann und armen Lazarus, Abh. d. Kgl. Pr. Akad. d. W., Phil. hist. 7 (Berlin, 1918).Google Scholar
4 Norden, E., Die Geburt des Kindes, Geschichte einer religiösen Idee (1924, Neudruck Darmstadt 1958), 84 f.Google Scholar
5 Ders., a. a. O., 85.
6 Bultmann, R., Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen, 6 1964), 193.Google Scholar
7 Ebd.
8 Ders., a. a. O., 213.
9 Ders., a. a. O., 213, 221.
10 Ders., a. a. O., 213.
11 Jeremias, J., Die Gleichnisse Jesu (Göttingen, 1962), 185.Google Scholar
12 Ebd.
13 Der Gebrauch des unbestimmten καì αTóς gehört zu den Spracheigentümlichkeiten des Lukasevangeliums (nicht der Apg.!) vgl. Zerwick, M., Graecitas Biblica (Rom, 1966), 199Google Scholar; Michaelis, W., Das unbetonte καì αTóς bei Lukas, St. Th. 4 (1951), 86–93.Google Scholar
14 Der Einwand, die prächtigen Kleider des Reichen seien ein solches Pendant, übersieht, daß sie nur Requisiten des festlichen Mahles (vgl. Mt 22, 1–14) nicht selbständiges Element sind.
15 εìλκωμήνος (V 20); τ⋯ έλκη (V 21).
16 Vgl. J. Jeremias, a. a. O., 183.
17 Vgl. Mußner, F., Die Botschaft der Gleichnisse Jesu (München, 1961), 73.Google Scholar
18 J. Jeremias, ebd., verweist darauf, daß Lazarus ‘die einzige Gestalt eines Gleichnisses (ist), die einen Namen erhält’ sodaß der Name ‘also besondere Bedeutung’ hat.
19 Eichholz, G., Gleichnisse der Evangelien, Form, Überlieferung, Auslegung (Neukirchen–Vluyn, 1971), 224.Google Scholar
20 Nach J. Jeremias, a. a. O., 183 ist ‘an der Brust Abrahams’ die ‘Bezeichnung des Ehrenplatzes beim himmlischen Gastmahl zur Rechten des Hausvaters Abraham’. Vgl. ebd.: ‘Auf Erden sah (Lazarus) den Reichen an der Tafel sitzend, jetzt darf er selbst am Festtisch sitzen.’ Besser wäre die Formulierung: jetzt sieht der Reiche ihn am Festtisch sitzen.
21 Vgl. Grundmann, W., Das Evangelium nach Lukas, Th.K.N.T. 3 (Berlin, 5 1969), 329.Google Scholar
22 An sich ist das schon für das Gegensatzpaar arm/reich zu sagen. Arm/Reich ist ja keine Naturgegebenheit, sondern ein kulturell/geschichtlich vermitteltes Verhältnis: Der Arme ist arm, weil der Reiche reich ist und umgekehrt. Die Geschichte des Gleichnisses ‘enthüllt’ durch die Konfiguration des Reichen und des armen Lazarus diesen Tatbestand und läßt ihn nicht in die Verdunkelung einer Naturgegebenheit entgleiten.
23 Zu den Termini ‘erzählte Welt’, ‘besprochene Welt’ vgl. Weinrich, H., Tempus, Besprochene und erzählte Welt (Stuttgart, 1964).Google Scholar
24 Der Reiche versucht in seiner Not sich der Hilfe des Lazarus zu versichern, der Arme reicht über sein Begehren hinaus nicht aus nach fremder Hilfe. Es ist Überinterpretation, darin einen Hinweis auf die gottvertrauende Bescheidung des Armen zu vermuten (gegen W. Grundmann, a. a. O., 327). Doch ist es sicherlich ein erzählerisches Mittel, mit dem zur Anschauung gebracht werden soil, daß Gott es ist, der dem Lazarus in der Umkehrung der Verhältnisse zu Hilfe kommt.
25 Kahlefeld, H., Gleichnisse und Lehrstücke im Evangelium, 2 (Frankfurt, 1963), 97.Google Scholar
26 Ebd.
27 H. Kahlefeld, a. a. O., 94.
28 J. Jeremias, a. a. O., 181.
29 H. Kahlefeld, a. a. O., 98.
30 J. Jeremias, a. a. O., 185; H. Kahlefeld, a. a. O., 98, ‘nur die Wende des Geschicks’.
31 So auch W. Bauer, Wb, 370.
32 So J. Jeremias, a. a. O., 185.
33 Vgl. auch H. Kahlefeld, a. a. O., 98 f.