Die auβerordentliche Bedeutung, die Goethe für Thomas Mann gewonnen hat, ist nicht im Aesthetischen begründet. Goethe hat keineswegs im Formalen vorbildlich auf Thomas Mann gewirkt; schon deshalb nicht, weil Thomas Mann ja weder Lyriker noch Dramatiker ist, und was die Erzählung anbelangt, so haben Werke wie der “Werther” und der “Wilhelm Meister,” die in der Tat eine Tradition gebildet haben, schwerlich direkt, sondern höchstens durch Zwischenglieder auf Thomas Mann Einfluβ ausgeübt. Man mag den “Tonio Kröger” als einen späten Ausläufer des durch den “Werther” begründeten Weltschmerzromans betrachten: weder im Temperament noch in der Struktur, weder im Lyrismus noch in der Leidenschaft sind die beiden Werke wirklich vergleichbar. Am ehesten lieβe sich der “Tonio Kröger” noch in die Nähe von Storms “Immensee” einreihen, in dem manches von der Substanz des “Werther” verdünnt und verfeinert wiederkehrt: die kühle Atmosphäre, der leise und behutsame Gang der Handlung, die Abneigung gegen Szenen und Ausbrüche, die fast selbstverständliche Haltung des Verzichts, der gedämpfte Ton, die Vorliebe für Unausgesprochenes, nur Angedeutetes, die durchgehende Lebensproblematik lassen “Immensee” und “Tonio Kröger” in der Tat verwandt erscheinen, auch wenn sie im Zauber der lyrischen Naturstimmung auf der einen Seite, der Meisterschaft dialektischer Formulierungskunst auf der anderen weit auseinandergehen.