In dem kleinen Aufsatz “Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit des Kunstwerks” vom Jahr 1798 führt Goethe den Nachweis, daß “das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden” sind, und daß die Verschiedenheit so weit geht, daß der Künstler keineswegs danach streben dürfe, daß sein Werk sich wie ein “Naturwerk” darstelle und einem solchen zum Verwechseln ähnlich sei. Die Beweisführung geht von der Oper aus, dem Kunstwerk, das nach seinem Wesen von Naturwahrheit denkbar weit entfernt sei, dessen Kunstwahrheit, aber, wenn man die Wirkung als Maßstab nimmt, sich nicht bestreiten lasse. Was aber für die Oper gelte, treffe mutatis mutandis auf alle Künste zu, sie erstrebten keine Wahrheit, keine äußere Gleichheit mit der Wirklichkeit, sondern nur eine auf ihren eignen inneren Gesetzen beruhende Wahrscheinlichkeit. So treffend die Ausführungen sind, so sind sie doch nicht erschöpfend, und man muß in der eingeschlagenen Richtung einen Schritt über Goethe hinaustun. Das Kunstwerk ist nicht nur keine bloße Nachahmung der Natur, sondern wenn es das wäre, wenn es nur einen in der Wirklichkeit vorhandenen Vorgang oder Gegenstand kopierte, so würde es damit aufhören, ein Kunstwerk zu sein. Die Photographie oder die Wachsfigur im Raritätenkabinet sollen der Wirklichkeit so ähnlich als möglich sein, sie werden mit der ausdrücklichen Absicht geschaffen, den Beschauer über ihre Nichtwirklichkeit zu täuschen. Diese Absicht lässt sich jedoch nur bis zu einem gewissen Grad durchführen, die Täuschung wird niemals vollkommen sein, und daraus ergibt sich, daß die Nachbildung mit Notwendigkeit hinter dem Vorbild zurückbleibt und im Vergleich mit ihm als etwas Unvollkommenes erscheint. Bei ihrer Betrachtung drängt sich der Vergleich mit dem Original, mit der Wirklichkeit, auf, und da dieser zu ihren Ungunsten ausfallen muß, so erweckt die Nachahmung in dem Beschauer eine Empfindung der Unzulänglichkeit, also grade das Gegenteil von dem reinen Lustgefühl, das das Kunstwerk hervorrufen soll.