Es ist heute eine allgemein bekannte Tatsache, dass das Werk Rousseaus von wesentlicher Bedeutung für Herder gewesen ist, aber es fehlt fast völlig an Versuchen, dieses Verhältnis genau zu bestimmen. Jedermann weiss, dass Herder Rousseau vieles verdankt; aber was er ihm eigentlich verdankt, in welcher Richtung sich der Einfluss des Franzosen ausgewirkt hat, das ist bisher entweder nur flüchtig oder nur unter Beschränkung auf gewisse Spezialgebiete dargelegt worden. Schon Gervinus glaubt, Herders Wesen am besten dadurch verdeutlichen zu können, dass er ihn Rousseau gegenüberstellt, beide als im Grunde gleichartige Geister erkennt und den Unterschied zwischen ihnen allein in ihren Uebertreibungen sieht: Herder geht zu weit in seinem Optimismus, Rousseau in seinem Pessimismus. Sieht Gervinus hier noch von einer Untersuchung der kausalen Bedeutung Rousseaus für Herder ab, so erscheint Herder bei Hettner fast ausschliesslich als ein Schüler des Genfers, und diese Ansicht findet sich in neuerer Zeit bei Bartels wieder, der Herder bedenkenlos als den deutschen Rousseau bezeichnet. Zweifellos geht Bartels dabei weit über das Ziel hinaus, und diese Uebertreibung ist umso erstaunlicher, als der Biograph Herders, Haym, deutlich genug auseinandergesetzt hatte, dass der Einfluss Rousseaus, so gross er auch ist, jedenfalls Grenzen hat und schon von Hettner überschätzt worden war. So zuverlässig aber auch die Ausführungen Hayms über das Verhältnis Herders zu Rousseau sind, so ist doch der Biograph im Gegensatz zu Hettner zu sehr geneigt, gewissen abfälligen Aeusserungen Herders über Rousseau übermässigen Wert beizulegen, und dadurch erscheint bei ihm dieses Verhältnis wieder zu sehr im negativen Licht. Die schon von Hettner erkannten Uebereinstimmungen im Werke Herders und Rousseaus entgehen auch Haym nicht, doch möchte er sie mehr dem “genius epidemicus der Zeit,” als einer direkten Beeinflussung zuschreiben. Einer eingehenden Untersuchung, die allein das Problem von Einfluss oder Parallelität entscheiden kann, geht aber auch Haym aus dem Wege, sodass die Frage nach wie vor als ungelöst gelten muss. Dies gilt in ganz besonderem Masse von derjenigen Lehre, die sowohl bei Herder wie bei Rousseau im Zentrum ihrer Werke steht, der Lehre von der Entwicklung des Menschengeschlechts, wie sie der berühmte Discours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes am eindrucksvollsten verkündet hat.