Bei allen Völkern ist die zu Sprüchen geprägte Volks- und Lebensweisheit uralter Besitz. Auch in der deutschen Literatur beginnen die zwei wesensverschiedenen Quellen der spruchhaften Literaturgattung, nämlich Volksgefühl und Uebersetzungsliteratur, bereits in früher Zeit zu fliessen. Lang müsste natürlich die Liste bei letzterer sein, wollte der mit ihr vertraute Kenner nur ein ungefähres Bild ihrer mannigfaltigen Wirkungsweise entwerfen. Denn ein Cato, Facetus, Moretus, Floretus, Regimen Scholarium, Speculum Morum, Liber de Contemptu Mundi, Traditio Morum, Liber Moralis, Phagifacetus, Poenitentiarius, usw. geben nur ein sehr unvollkommenes Bild der ungeheuren Masse der gnomischen Poesie, die vermittels mehr oder minder gut gelungener Uebersetzungen zur Verfügung gestellt, bei günstigen Voraussetzungen auf empfänglichen Boden fiel und so allmählich dem immer umfangreicher werdenden Spruchschatze einverleibt werden konnte. Früh wurden ausser deutschen Sprichwörtern auch verdeutschte in den Dienst der Schule gestellt, wobei, ganz der mittelalterlichen Gepflogenheit entsprechend, dem Schüler nebst gutem Latein auch gediegene Lebensweisheit übermittelt werden sollte. Dem Inhalt nach decken sich die meisten dieser Lehrsprüche mit guten Ratschlägen und Vorschriften, wie sie zumeist in der Bibel, den Kirchenvätern und in den moralisierenden Schriften der Alten zutage treten.