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Lichtenbergs Anfänge in Ihren Wesenszügen

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Franz H. Mautner*
Affiliation:
Hobart College

Extract

Als Gottfried Christoph Lichtenberg 1799 starb, war er der öffentlichen Meinung als angesehener Physiker und als viel bewunderter satirischer Schriftsteller bekannt, der allerdings mit dem Aufstieg der deutschen Literatur nicht habe Schritt halten können. Von dem Zeitpunkte aber an, da sein Bruder, bald nach Lichtenbergs Tode, aus dem Nachlaβ die Notizhefte herausgab, jene unausschöpfliche, Jahrzehnte hindurch fortgeführte Sammlung von Beobachtungen und Gedanken, von Wendungen und Einfällen, begann ihr Glanz, sein bei Lebzeiten veröffentlichtes Werk zu überstrahlen. Ihre Wirkung verstärkte sich langsam, aber stetig, und heute sind sie allein berühmt. Tiefsinnig in ihrer Toleranz, amüsant noch im schrulligen Eigensinn, voll von “Widersprüchen”, sind sie uns wert um ihrer selbst willen und als ein Spiegel ihrer Zeit mit seltsamen Brechungswinkeln. Der oft bemerkte angebliche Widerspruch zwischen angespanntem Rationalismus und der Hingabe an mystische Stimmungen ist nur eines der Probleme, die uns sein Werk aufgibt, und vielleicht nicht das bedeutendste.

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 56 , Issue 3 , September 1941 , pp. 691 - 709
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1941

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References

1 Den einzelnen Aphorismus als “bloβ aphoristisch” nicht ernst zu nehmen auf der einen Seite, und ihn als endgültige Meinungsäuβerung zu ernst zu nehmen auf der andern Seite, sind Scylla und Charybdis in der Beurteilung aphoristischer Werke. Vgl. Verfasser, “Der Aphorismus als literarische Gattung,” Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft, xxvii, no. 2 (1933), 132–175.

2 S. unseren Aufsatz “Lichtenbergs Vortrag über die Charaktere in der Geschichte und sein Gesamtwerk” in MLN, lv, No. 2 (1940), 123–129.

3 Die Zahl der hier zu gebenden Zitate muβ hoch sein, damit eine annähernd richtige Vorstellung von der Dichte ihres Aufeinanderfolgens innerhalb der ersten 52 Einträge entstehe; die mehr als zufällige Einheit ihres Charakters wird nur so deutlich.—Im ganzen Artikel kommen zur Sprache: A 3–5, 8–13, 16–18, 20–24, 27, 29–31, 33–37, 39, 41, 42, 44–52. Verweise mit Seitenangaben beziehen sich auf diese Arbeit.

4 Weiter: “Viele dergleichen Irrtümer beruhen auf den dabei so nötigen Sprachen ...” (ibid.) Also auch hier Wissenschaftskritik auf der Grundlage von Sprachkritik.—Die Zusammenhänge zwischen Charakterkunde und Sprachkritik werden klarer im gleichzeitigen Vortrag über die Charaktere in der Geschichte.

5 Vgl. auch A 18.

6 z.B. Wieland im Vorbericht zur 1. Ausgabe des “Agathon” (1766), und Blankenburg 1774 im “Versuch über den Roman.”

7 Felix Günther, Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus. (1907), S. 22.

8 Z. B. A 21 und A 27 (S. 694).

9 Das Ausweiten einer gegebenen einmaligen Situation zur allgemeinen Erkenntnis deutet übrigens schon auf den echten Aphoristiker voraus, (s. Verfasser, “Der Aphorismus ...,” op. cit., 157).

10 Aehnlich A 48.

11 Kursivdruck hier und im folgenden nicht im Original.

12 Leitzmann, im ersten Heft der Aphorismenausgabe, S. 170.

13 In Form einer Analogie verteidigt denn Lichtenberg u. a. auch den Gebrauch von Analogien, um der Erkenntnis ebenso sehr als um des Witzes willen: “Der groβe Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differentialrechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden (A 1) Vgl. auch Jean Paul, Vorschule der Aesthetik ii, ix, § S3.

14 S. Verfasser, Der Aphorismus, op. cit., 168 d.

14a Lichtenbergs Vater hatte sich in seinen Predigten dieser Praxis bedient.

15 Diese Wendung zur Praxis folgt aus dem Bedauern über das mangelnde Vermögen des Künstlers, “moralische Schönheit zu bemerken und wiederzugeben.” (s.S. 700, A 18)

16 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung (Tübingen, 1932), S. xiii und passim.

17 S. Cassirer, op. cit., pp. 16, 37.

18 Am Anfang des dritten Buches der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Den Hinweis auf die Bedeutung der Principia für die Aufklärung im allgemeinen verdanken wir der Cassirerschen Darstellung.

19 Hervorhebungen nicht im Original. Zitiert nach der englischen Uebersetzung Andrew Motte's (1729), zugrundegelegt der Ausgabe Florian Cajoris (Berkeley, California: University of California Press, 1934), 399 ff.

20 Dilthey, “Die Deutsche Aufklärung im Staat und in der Akademie Friedrichs des Groβen,” Deutsche Rundschau, cvii (1901), 215. Kursivdruck nicht im Original.

21 Belege bei Cassirer, op. cit., 57 ff., 267.—Der “Weise” wird er nicht nur bei Lichtenberg oft genannt, sondern auch auf der Gegenseite: z.B. bei Lavater, Geheimes Tagebuch (1771), S. 144 und öfters in den Physiognomischen Fragmenten.

22 Man vergleiche etwa, um an einer von Lichtenbergs Notizen diese typische Denkweise im Zusammenhang zu sehen, die Behandlung und Auswertung der Beobachtung, daβ geträumte Atemnot auf einen geringeren Grad wirklicher Atemnot zurückzuführen sei (A 51, S. 695): Zunächst (1) der Versuch einer verallgemeinernden Erklärung durch Analyse der als wesentlich erkannten Umstände: “Einem bloβ fühlenden Körper kommen böse Empfindungen allzeit gröβer vor, als einem, der mit einer denkenden Seele verknüpft ist,” Die Wirkung dieser Umstände wird psychologisch begründet (2): “wo selbst oft der Gedanke, daβ die Empfindungen nichts zu bedeuten haben, oder daβ man sich, wenn man nur wollte, davon befreien könnte, vieles vom Unangenehmen vermindert”. (3) Ein als Analogie gesehner Fall wird Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Richtigkeit der Erklärung: “Wir liegen öfters mit unserm Körper so, daβ gedrückte Teile uns heftig schmerzen, allein, weil wir wissen, daβ wir uns aus dieser Lage bringen könnten, wenn wir nur wollten, so empfinden wir wirklich sehr wenig.” (4) Noch ein mit wissenschaftlicher Phantasie als Analogie gesehner Fall bestätigt die Richtigkeit das abgeleiteten Gesetzes. Die aus dem Gesetz abgeleitete Folgerung, daβ ein unerklärbarer Schmerz durch Hinzufügung einer erklärbaren Ursache seinen Schrecken verliere, dient zugleich einer Nutzanwendung—und wir sind mitten drin im Gebiet der praktischen Alltagsratschläge der Kalender, deren gefeierter Herausgeber und Mitarbeiter—auch auf diesem Gebiete—der groβe Schriftsteller später wurde: “Dieses bestärkt eine Anmerkung, die ich unten gemacht habe, nämlich, daβ man sich durch Drücken die Kopfschmerzen vermindern kann.”

23 Ein Beispiel für viele: “Der Tod ist eine unveränderliche Gröβe, allein der Schmerz ist eine veränderliche, die unendlich wachsen kann. Dieses ist ein Satz, den die Verteidiger der Folter zugeben müssen, denn sonst foltern sie vergeblich, allein in vielen wird der Schmerz ein Gröβtes und kleiner als der Tod.” (A 52)