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Jean Pauls Gedichte

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Edvard Berend*
Affiliation:
Geneva, Switzerland

Extract

Jean Paul, der fast allmächtige Herrscher im Bereiche deutscher Prosa, hat bei verschiedenen Gelegenheiten bekannt, dass er gänzlich unvermögend sei, Verse zu schmieden. Solche Einseitigkeit ist ja in der Literatur an und für sich keine Seltenheit. Es gibt eine ganze Anzahl groβer Prosaisten, die keine oder doch nur vereinzelte und unbedeutende Verse geschrieben haben; es seien nur etwa Montaigne, Balzac, Sterne, Dickens, Hamann, E. T. A. Hoffmann, J. Gotthelf, Thomas Mann genannt. Bei Jean Paul war aber diese Unfähigkeit offenbar in ganz ungewöhnlichem Grade vorhanden. Und das muss umso mehr verwundern, als er doch, wenn man einmal die Unterscheidung zwischen Dichter und Schriftsteller gelten läβt, zweifellos als ein Dichter im vollen Gewichte des Wortes anzusprechen ist (obgleich er gewiss auch ein grosser Schriftsteller war). Hat ihn doch ein so strenger Forderer wie Stefan George die gröβte dichterische Kraft der Deutschen genannt. Mag er auch selber gelegentlich, wie Lessing, an seiner Berufung gezweifelt und alles von ihm Geleistete nur seinem Fleiss, seiner “Heuristik” zugeschrieben haben, so gab es doch wieder Stunden (in dem ungedruckten Tagebuch seiner Heidelberger Reise hat er in bescheiden-stolzen Worten eine solche verzeichnet), wo er es im tiefsten fühlte und wuβte, dass er ein echter Dichter sei. Ja die Art seiner dichterischen Begabung, wenn sie sich auch mit keiner der üblichen Gattungen voll deckte, lag doch mehr nach der lyrischen als nach der epischen oder gar der dramatischen Seite. Von einem Dichter, der von sich sagte: “Wenn mich eine Empfindung ergreift, daβ ich sie darstellen will, so dringt sie nicht nach Worten, sondern nach Tönen, und ich will auf dem Klavier sie aussprechen,” sollte man annehmen, daβ ihm die musikverwandteste Form, die lyrisch-metrische, am nächsten gelegen hätte. Er hat denn auch bekannt, daβ es ihm “in der hebenden Stunde” oft so gewesen sei, “als müβt' er sich durchaus ins Metrum stürzen, um nur fliegend fortzuschwimmen.” Aber wie er auf dem Klavier sich niemals in geordneten Bahnen, in festen Takten und bestimmten Melodien bewegte, sondern sich in freiestem Phantasieren dahinströmen Hess, gewissernassen die “unendliche Melodie” seines Bayreuther Nachfahren vorausahnend, so vermochte er auch in der Dichtung seine lyrischen Empfindungen nicht in die Fesseln eines einmal gegebenen, regelmäβig wiederkehrenden Zeitmasses zu legen. Treffend und witzig hat er sich einem Vogel verglichen, der mit aneinander gebundenen Füβen nicht fliegen könne.

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 57 , Issue 1 , March 1942 , pp. 182 - 188
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1942

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References

Note 1 in page 182 Wahrheit aus Jean Pauls Leben, ii (1827), 102. Vgl. auch Titan, 57. Zykel: “In der Leidenschaft (sogar im blossen Feuer des Kopfes) greift man weniger nach der Feder als nach der Saite; und nur in ihr gelingt das musikalische Phantasieren besser als das poetische.”

Note 2 in page 182 Vorschule der Aesthetik, § 86.

Note 3 in page 183 S. Festgabe der Gesellschaft für Deutsche Literatur in Berlin zum siebzigsten Geburtstag ihres Vorsitzenden Max Herrmann (1935), S. 28.

Note 4 in page 184 Jean Pauls Persönlichkeit, hsgb. von E. Berend (1913), S. 119. Vgl. auch ebenda, S. 149.

Note 5 in page 184 Vgl. z.B. den Brief an die Postmeisterin Wirth v. 3. März 1790, wo er “statt Versen Träume liefert.” Die Briefe Jean Pauls, hsgb. von E. Berend, Bd. i (1922), S. 298.

Note 6 in page 185 S. Jean-Paul-Bibliographie von E. Berend (Berlin, 1925), No. 466–476.

Note 7 in page 185 In dem Aufsatz “Jean Paul und Goethe,” Germania, x (1853), 263 f.

Note 8 in page 185 Flegeljahre No. 9. Vgl. auch an Otto. 25. Dez. 1802: “ganz eigne neue griechische Gedichte.”

Note 9 in page 185 S. Jean-Patd-Bibliographie, No. 477–499. Man könnte Goethes Gedicht “Liebhaber in allen Gestalten” zum Vergleich heranziehen.

Note 10 in page 186 Veröffenlicht in der bayerischen Zeitschrift Eos vom 19. Januar 1820, No. S.

Note 11 in page 186 Jean-Paul-Blätter, 9. Jg. (1934), S. 9 f.

Note 12 in page 186 S. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, hsgb. von Ernst Förster (1863), ii, 145 f.

Note 13 in page 186 z.B. in der von Bruno Wille herausgegebenen lyrischen Anthologie “Und gib uns Frieden” (1917).

Note 14 in page 187 Das bekannte Lied von Wilhelm Ueltzen “Namen nennen dich nicht,” das ebenfalls irrig Jean Paul zugeschrieben worden ist (s. Jean-Paul-Bibliographie No. 500), ist kein Reimgedicht.

Note 15 in page 188 Freye nimmt an, dass die obengenannte Frau von Weiden die Empfängerin war. Diese hatte ihrerseits dem Dichter in Mai 1820 ein tragbares Schreibtischchen geschenkt (s. Euphorion, xxix [1928], 403 f.). Aber es wäre doch recht unzart gewesen, einer vornehmen Dame eine solche Zuzahlung zuzumuten.