No CrossRef data available.
Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Anders als bei Kafka und Musil, den beiden anderen großen deutschsprachigen Romanciers aus dem böhmisch-österreichischen Sprachraum, hat Hermann Broch zeit seines Lebens Gedichte geschrieben und die Möglichkeiten der lyrischen Gestaltung hoch eingeschätzt. Seine Gesammelten Werke werden nicht von ungefähr mit dem Band Gedichte eröffnet. Das Echo, das diese Gedichte bisher gefunden haben, war äußerst gering. Claude Davids Urteil über Brochs Lyrik hat durchaus typische Bedeutung: “Man hat auch Gedichte Brochs veröffentlicht, die jedoch in den meisten Fällen nicht über das Niveau formaler Übungen hinausreichen.” Auch die Gedichtpartien, die Broch seinen Romanen einfügte, sind ähnlich abwertend beurteilt worden. Über die “Stimmen”, die Gedichte der Schuldlosen, wurde zum Beispiel in Times Literary Supplement bemerkt: “The stories … are linked by some of those homemade verses that German writers for the past century have been so ready to run up on their sewing-machines” (S. 210). Was diese Urteile miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß die Maßstäbe der Bewertung von außen herangetragen werden. Welche Bedeutung das Lyrische innerhalb Brochs ästhetischer Anschauung hat, ist bisher nicht untersucht worden. Dieses Problem hat zwei Aspekte. Einmal geht es um die Frage nach Brochs spezifischer Auffassung des Gedichts, und zum andern ist die Frage damit verbunden, welche Funktion das Gedicht und allgemein das Lyrische in Brochs Romanen haben.
1 Von Kafka scheinen keine Gedichte überliefert zu sein, vgl. dazu Max Brod, Franz Kafka (Frankfurt a/M, 1963). Das mag zum Teil durch Kafkas Auffassung von Lyrik begründet sein. Gustav Janouch überliefert in seinen Gesprächen mit Kafka (Frankfurt a/M, 1961) folgende Äußerung des Dichters: “Sie sagen viel mehr von den Eindrücken, die die Dinge in Ihnen erwecken, als von den Geschehnissen und Gegenständen selbst. Das ist Lyrik. Sie streicheln die Welt, anstatt sie zu erfassen” (S. 33). Von Musil sind einige Gedichte in der von Ernst Schönwiese herausgegebenen Sammlung Palmos. Zwölf Lyriker (Wien, 1935) erschienen. Auch Hermann Broch ist in dieser Anthologie mit Gedichten vertreten: “Oh neues Jahr (GW, i, 182), ”Ehe ich erwacht“ (S. 135), ”Über die Felswand“ (S. 90), ”Helle Sommernacht“ (S. 86), ”Sommerwiese“ (S. 88), ”Schon lichtet der Herbst den Wald“ (S. 144), ”Die Waldlichtung“ (S. 89), ”Später Herbst“ (S. 99), ”Lago Maggiore“ (S. 71), ”Nachtgewitter“ (S. 96) und ”Das Nimmergewesene“ (S. 165). Heinz Politzer (”Zur Feier meines Ablebens,“ in Monat, iii, NR. 36, 1951, S. 630–632) hat über diese Gedichte geäußert: ”Gedichte, die unerwartet leidenschaftlich waren—aber die Leidenschaft galt der Erkenntnis—und die den Versen der Expressionisten gleichklangen“ (S. 630).
2 Herausgegeben und eingeleitet von Erich Kahler (Zürich, 1953), im folgenden zitiert als GW, i. Auch die anderen Bände der zehnbändigen Gesamtausgabe werden in dieser Abkürzung zitiert: GW, i–x (Zürich, 1953–61). Für die freundliche Genehmigung zur Benutzung unveröffentlichten Materials, das sich im Broch-Archiv der Beinecke Rare Book Library der Yale University befindet, bin ich der deutschen Abteilung der Bibliothek und Brochs Erben zu großem Dank verpflichtet. Unveröffentlichte Briefe werden in folgender Abkürzung zitiert: Br=Brief (Datum), uv = unveröffentlicht.
3 Außer Kahlers Einleitung (GW, i, 46–59) sind bisher erst zwei kleinere Arbeiten über Brochs Gedichte erschienen: Per Dorp-Petersen, “Hermann Broch som Lyriker,” in Hvedekorn, xxxiv, NR. 6 (1960), S. 176–178 und Victor Polzer, “Hermann Brochs Gedichte,” in Aufbau (New York), xxi, NR. 9 (26. Febr. 1954).
4 Von Richard Wagner zu Bertolt Brecht. Eine Geschichte der neueren deutschen Literatur (Frankfurt a/M, 1964), S. 280.
5 “A Writer's Conscience” (29. März 1963).
6 Im Versucher ist nicht so sehr die szenische Lyrik der Bergwallfahrt (vgl. GW, iv, 453–461) gemeint, da es sich dort um ein Wallfahrtslied handelt, das gleichsam als realistisches Detail zur Handlung gehört. Ein Transzendieren des Erzählens zur Form des Gedichtes ist im Roman nur noch verborgen vorhanden: Mutter Gissons letzte Selbstaussage vor ihrem Tod ist ein in Prosa gesetztes Gedicht, das sich kraft Metrum und Reim ohne weiteres wieder in seine ursprüngliche Gedichtform zurückversetzen läßt (vgl. GW, iv, 549: “So war's … (bis zu) wachsend lichtes Sterben”). In der ersten Fassung des Bergromans ist auch der Traum der Agathe (vgl. GW, iv, 119) in Versen abgefaßt. Broch hat das in den späteren Fassungen geändert. Auch in der Unbekannten Größe stand an bedeutsamer Stelle ursprünglich ein Gedicht. In einem Brief an den Verleger Bermann-Fischer hat Broch dazu ausgeführt: “Als Überleitung zwischen Teil iv und v wurde auf S. 165 ein Gedicht eingeschoben, das die Koda für den Gefühlsinhalt des ganzen Buches bildet … Der Titel des Gedichtes ‘Nachtgewitter’ kann fortgelassen werden” (Br, 11. Okt. 1933, uv). In dem Drama Die Entsühnung (Zürich und Wien, 1961)—das Stück hieß ursprünglich Totenklage, für die Zürcher Uraufführung wurde der Titel in Denn sie wissen nicht was sie tun abgeändert—ist nicht nur der Epilog in Versen abgefaßt (vgl. S. 77–79), sondern auch Brochs Gedicht “Schon lichtet der Herbst den Wald” (GW, i, 144) hat im Drama (vgl. S. 57) seinen Platz.
7 Dieses Gedicht befindet sich unter dem Titel “Dem Spinner Broch zum 54. Geburtstag” im Nachlaß Brochs. Es ist veröffentlicht worden in der Monographie des Vf.s Hermann Broch (Hamburg, 1966), S. 25–26.
8 Die Originalfassung dieses Gedichtes ist in den Neuen Deutschen Heften 110 (Juni 1966), S. 3–10 erschienen; vgl. dazu den Kommentar des Vf.s “Ein Frühwerk Hermann Brochs,” ebd., S. 10–18.
9 Es handelt sich um “Helle Sommernacht” (GW, i, 86), “1500 Meter über dem Meeresspiegel” (S. 90), “Lago Maggiore” (S. 91) und “Nachtgewitter im Gebirge” (S. 97).
10 Vgl. dazu Kahler: “Wenn Hermann Broch sein künstlerisches Werk überhaupt nur unter bestimmten Vorbehalten gelten ließ, so hat er seine Gedichte noch mit einer besonderen Reserve umgeben. Wie wert sie ihm waren, hat er nie offen eingestanden. Und wiewohl seine lyrische Produktion niemals ganz versiegte, so war sie doch immer in eine eigentümliche Schamhaftigkeit gehüllt” (GW, i, 46).
11 Schon bald darauf äußerte er: “Aber das ist gelobtes oder ungelobtes Land, das ich nicht mehr betreten werde” (GW, viii, 368).
12 “Romanform und Werttheorie hei Hermann Broch,” Deutsche Vierteljahresschrift, xxxi (1957), 169–197.
13 Dieser Brief ist im Briefband (GW, viii) falsch datiert worden. Wie ein Vergleich mit dem Durchschlag im Broch-Archiv bezeugt, stammt er nicht vom 28. Nov. 1932, sondern vom 25.
14 Es sei hier verwiesen auf den Abschnitt “Apollo statt Dionysos” in Hugo Friedrichs Buch Die Struktur der modernen Lyrik (Hamburg, 1956), S. 116–119.
15 Diese philosophischen Essays sind neben der Veröffentlichung im Huguenau nochmals im zweiten Band der gesammelten Essays separat abgedruckt worden: GW, vii, 5–81.
16 GW, viii, 368, mit Ausnahme des ersten Satzes, der im Briefband nicht abgedruckt ist und nach dem Manuskript zitiert wird.
17 Sehr ähnliche Gedanken hat Theodor W. Adorno in seiner “Rede über Lyrik und Gesellschaft” (Noten zur Literatur i, Frankfurt a/M, 1958, S. 73–104) ausgeführt: “In jedem lyrischen Gedicht muß das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag gefunden haben” (S. 83).
18 Kurt Wolff hat 1945 in seinem damaligen Pantheon Verlag die deutsche und englische Fassung des Tod des Vergil veröffentlicht und war etwa seit Anfang der vierziger Jahre mit Broch befreundet. Broch hat sein Gutachten zu dem Gedicht “Vorgang” von Wolff abgefaßt. Das Gutachten trägt das Datum des 7. Feb. 1948, es ist—wie Wolffs Gedicht —unveröffentlicht und befindet sich im Archiv.
19 In der bereits erwähnten sehr zurückhaltenden Besprechung von Times Literary Supplement, “A Writer's Conscience” (a.a.O.), wird zurecht hingewiesen auf die Bedeutung dieser “brilliant analysis, in the light of an attempted version of Claudius' poem, ‘Der Mond ist aufgegangen‘” (S. 210).
20 So befinden sich etwa von dem Gedicht “Der Urgefährte” (GW, i, 163) nicht weniger als 14 verschiedene Manuskripte im Broch-Archiv. Einige Lesarten teilt Erich Kahler im Anhang seiner Ausgabe mit (vgl. GW, i, 254).
21 Es darf als bedeutsame Parallelität angesehen werden, daß auch Georg Lukács die Transzendierung des konventionellen Romans ins Lyrische in seiner Theorie des Romans (Neuwied, 1963) als einheitsstiftendes Element des modernen Romans gesehen hat (vgl. u.a. S. 41).
22 Es handelt sich um einen Entwurf “Für den Schutzumschlag der Schuldlosen”—so der Titel dieses Textes—der sich im Broch-Archiv befindet.
23 Die Formgenese der endgültigen Huguenau-Fassung ist überzeugend von Theodore Ziolkowski in seiner Studie “Zur Entstehung und Struktur von Hermann Brochs ‘Schlafwandlern‘” (Deutsche Vierteljahresschrift, xxxviii [1964], 40–69) dargestellt worden.
24 Dorrit C. Cohn hat in ihrer Dissertation “Die Schlafwandler: Elucidations of Hermann Broch's Trilogy” (Stanford, 1964) zurecht über den Unterschied in der Verwendung der Gedichtform bei Broch und Epikern der Romantik ausgeführt: “Often, in the novels of Eichendorff and other Romantics, characters simply picked up their lutes to orchestrate their world, fill it with ‘Singen und Klingen.‘At times, it is true, poems were used for weightier purposes, by Goethe, say, with the songs of Mignon and the Harfner, or by Novalis with the Ofterdingen poems; yet these were always tied into the narrative by carefully describing the place and the manner in which they were heard, most important of all, by identifying the voice that sang them” (S. 149). Die Funktion der Gedichte in der Prosa der Romantik ist im einzelnen untersucht worden von Paul Neuburger, Die Verseinlagen in der Prosadichtung der Romantik (Leipzig, 1924).
25 “Einleitung” zu den Gedichten (GW, i, 7–60).
26 Summa, iii (1918), 151–159. Es wird hier nach der etwas veränderten Fassung, die den Titel “Methodisch konstruiert” trägt, in den Schuldlosen (GW, v, 56–69) zitiert.
27 Es sei verwiesen auf die Studie des Vf.s “Hermann Brochs Anfänge,” in Germanische-Romanische Monatsschrift (im Erscheinen).
28 Zitiert wird hier nach dem dritten Band der Gesamtausgabe des Piper Verlages (München, 1911).
29 Der in Brochs Poetologie sichtbar werdende Weg zu diesem Ziel darf als durchaus eigen angesehen werden, auch wenn dieses Ziel auf einen größeren Zusammenhang in der modernen Epik verweist. In direktem Bezug auf Broch hat Theodore Ziolkowski in seinem Buch The Novels of Hermann Hesse (Princeton, 1965) im Kapitel “Timelessness: The Chiliastic Vision” (vgl. besonders S. 47) darauf aufmerksam gemacht. Auch zu Ralph Freedmans Buch The Lyrical Novel (Princeton, 1963)—er erwähnt Broch allerdings nur einmal (vgl. S. 17)—werden im Ergebnis gewisse Parallelen sichtbar, obwohl sein Ansatz: “In Germany the lyrical novel … has remained to this day a potent survivor of romanticism” (S. 273) wohl nicht für Broch gilt. Aber wenn es heißt: “In the lyrical novel, narrator and protagonist combine to create a self in which experience is fashioned as imagery … All of these elements establish an ‘aesthetic situation’ which engulfs narrator and subject in the final apotheosis” (S. 31), so läßt sich das auch auf Brochs Romane beziehen.
30 “Hermann Broch,” Monat, iii, Nr. 36 (Sept. 1951), S. 616–629.
31 Private Collection (New York, 1965), vgl. S. 233.
32 In der Tat sind die Gedichte bisher bei Interpretationen kaum berücksichtigt worden. Ansätze in diese Richtung finden sich in der schon erwähnten Dissertation von Dorrit Cohn, die das Ahasver-Gedicht als Schlüssel zur Deutung benutzt, vgl. Kapitel iii “The Ahasverus-Poem,” a.a.O., S. 146–202.