Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Es ist bekannt, daβ der ältere Nietzsche mit den schärfsten und bittersten Gegnern Martin Luthers gehört, die bis heute gegen ihn und die deutsche Reformation auf den Plan getreten sind. Weniger bekannt scheint zu sein, daβ der junge Nietzsche, der Verfasser der Geburt der Tragödie, der Bildungsanstaltenvorträge und der unzeitgemäβen Betrachtungen, für den deutschen Reformator und sein Werk warme, ja wärmste Worte der Verehrung gefunden hat. Plötzlich und scheinbar unvermittelt wendet sich dann der Nietzsche des Menschlichen-Allzumenschlichen gegen den eben noch öffentlich gepriesenen Luther und verbrennt, was er, wenn auch nicht angebetet, so doch emphatisch gelobt und gutgeheiβen hatte. Zweifellos ist nun das Sonderproblem des Umschwungs in Nietzsches innerer Einstellung zu Luther nur ein Teil des Allgemeinproblems des groβen Wandels überhaupt, der sich in Nietzsches Denken seit etwa der Mitte der siebziger Jahre bemerkbar macht. Ohne diese wesentlichen Zusammenhänge des hier zu behandelnden Spezialproblems mit der Gesamtwandlung Nietzsches aus den Augen zu verlieren, hat es dennoch etwas ungemein Verlockendes, den Sonderfall ‘Nietzsche-Luther’ aus dem ganzen Problemkomplex einmal behutsam herauszulockern, ohne ihn vollständig herauszulösen. Es wäre sogar nicht ausgeschlossen, daβ bei solch induktivem Vorgehen möglicherweise neues Licht auf die m. E. immer noch nicht befriedigend beantwortete Grundfrage nach den tieferen Ursprüngen des zweiten Nietzsche fiele. Wie konnte es geschehen—so soll das vorliegende Individualproblem formuliert werden–-, daβ aus dem Lutherverehrer in kurzer Zeit ein Lutherfeind wurde? Wie schon angedeutet, ist dies nur ein Teil und zwar ein dem Nichtfachmann wohl kaum in die Augen springender Teil der Gesamtfrage, wie aus Nietzsche dem Metaphysiker und Kunstjünger der wissenschaftlich-theoretische Mensch wurde, aus dem Wagnerverehrer der Wagnerfeind. Was unsere Spezialfrage angeht, so ist vorerst unter Heranziehung aller Tatsachen genau zu untersuchen, wie sich das Lutherbild des jungen Nietzsche eigentlich entwickelt hat und wie umfassend und tiefgehend es wirklich gewesen ist. Mit andern Worten, es soll festgestellt werden, welcher Art der Luther war, den der frühe Nietzsche verehrte und bald darauf verwarf.
1 Vergleiche z. B. Curt von Westernhagen, Richard Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft (München: J. F. Lehmann, 1935), S. 47, 80.
2 Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 1. Auflage (Berlin: G. Bondi, 1929).
3 Kurt Hildebrandt, Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert (Breslau: F. Hirst, 1924).
4 Emanuel Hirsch, “Nietzsche und Luther,” Jahrbuch der Luther-Gesellschaft, ii-iii (1920/21), 61–106 (nur die Seiten 63–66 behandeln unser Thema).
5 Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe (München: C. H. Beck, 1933 ff.).
6 Werke, i, 115 (HKG).
7 Ebenda, 205–206.
8 Briefe, i, 105 (HKG).
9 Werke, i, 139 (HKG).
10 Briefe, i, 313 (HKG).
11 Briefe, i, 284 (HKG).
12 Werke, iii, 84–97 (HKG).
13 Ebenda, 87.
14 Ebenda, 86.
15 Ebenda, 94.
16 Ebenda, 94–95.
17 Ebenda, 95.
18 Ebenda, 96.
19 Ebenda, 89: Amerika, die politischen socialen, kirchlich-religiösen Zustände in den Vereinigten Staaten von Nordamerika mit besondrer Rücksicht auf die Deutschen aus eigner Anschauung dargestellt von Dr. Philipp Schaff Professor der Theologie zu Mercersburg in Pennsylvanien.
20 Briefe, i, 305 (HKG).
21 Friedrich Nietzsche, Werke (Leipzig: A. Kröner, 1910–26), ix, 346.
22 Briefe, i, 284 (HKG).
23 Die historisch-kritische Gesamtausgabe gibt die Entstehungszeit leider nicht genauer an.
24 Werke, iii, 126 (HKG).
25 Ebenda, 125.
26 Arnold Berger, Marlin Luther und die deutsche Kultur (Berlin: E. Hofmann & Co., 1919), 558.
27 Werke, iii, 126 (HKG).
28 A. Berger, a.a.O., 291.
29 Ebenda, 695.
30 Ricarda Huch, Luthers Glaube (Leipzig: Insel, 1920), 25.
31 James Mackinnon, Luther and the Reformation (London: Longmans, Green & Co., 1925–30), passim.
32 Rudolf Otto, Das Heilige, 12. Auflage (Gotha/Stuttgart: F. A. Perthes A. G., 1924), 69.
33 Arnold Berger, a.a.O., 232.
34 Vergleiche Fuβnote 23 dieser Arbeit.
35 Friedrich Nietzsche, Werke, iii, 128.
36 Ebenda, 126.
37 Emanuel Hirsch, a.a.O., 63 (Vergleiche Fuβnote 4 dieser Arbeit).
38 Eine neue detaillierte Untersuchung T. Moody Campbells über “Nietzsche-Wagner, to January, 1872,” PMLA, lvi, no. 2 (1941), 544–577, erkennt schon in der Endfassung der Geburt der Tragödie eine tiefgehende innere Abwendung von Wagner.
39 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 161 (Kröner).
40 Ebenda, 161–162.
41 Ebenda, 162.
42 Ebenda, 165.
43 Ebenda, 164.
44 Friedrich Nietzsche, Werke, ix, 414 (Kröner).
45 Ebenda, 416.
46 Ebenda, 394.
47 Ebenda, 370.
48 Ebenda, 370–371.
49 Ebenda, 350.
50 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 162 (Kröner).
51 Ebenda, 165.
52 Emanuel Hirsch, a.a.O., 64.
53 Arthur Drews, Der Ideengehalt von Richard Wagners dramatischen Dichtungen im Zusammenhange mit seinem Leben und seiner Weltanschauung (Leipzig: E. Pfeiffer, 1931), 337.
54 Ebenda, 338.
55 Ebenda, 338–339.
56 Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen (Berlin: Bong, o.J.), ix, 116.
57 Ebenda, 122.
58 Ebenda, 123.
59 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 24 (Kröner).
60 Richard Wagner, a.a.O., 95.
61 Ebenda, 94.
62 Emanuel Hirsch, a.a.O., 64.
63 “Die Beethovenschrift ist im August und September 1870 verfaβt und erschien Ende November bei Fritzsch in Leipzig.” Richard Wagner, a.a.O., x, 135 (Anmerkungen).
64 Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, 3. Auflage (Leipzig: Insel, 1923), 146.
65 In Nietzsches Briefen an verschiedene Personen finden sich manchmal dieselben Stellen.—Der nach der Fertigstellung meiner Arbeit die Yale Bibliothek erreichende 3. Briefband der HKG (1940) unterstützt meine Annahme der Identität der Bachstelle in den Briefen an Rohde und Cos. Wagner. Im Nachbericht bemerkt der Herausgeber W. Hoppe über den Bachpassus in dem Brief an Rohde: “aus einem Antwortbrief Cosima Wagners geht hervor, daβ Nan sie in gleicher Weise über diese Komposition geschrieben hat (Cosima Wagner an Nietzsche 1, 47).” Briefe, iii, 415 (HKG).
66 Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche (Altenburg: S. Geibel & Co., 1938), i. Teil (1869–71), 47.
67 Meine Theorie fällt selbstverständlich, wenn Nietzsches Brief an Cosima anders war als der an Erwin Rohde.—Vergleiche jetzt aber den zweiten Teil von Fuβnote 65.
68 Cosima Wagner ist eine begeisterte Lutherverehrerin geblieben. In ihrem Briefwechsel mit H. S. Chamberlain finden sich viele Lutherstellen, die auf immer wachsendes Interesse an Luther hindeuten.
69 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 307 (Kröner).
70 Ebenda, 308.
71 Emanuel Hirsch, a.a.O., 63.
72 “Buchsen und das Geschütz ist ein grausam, schädlich Instrument, zusprengt Mauren und Felse, und führt die Leute in die Luft. Ich glaube, daβ des Teufels in der Hölle eigen Werk sei, der es erfunden hat, als der nicht streiten kann sonst mit leiblichen Waffen und Fäusten. Gegen Büchsen hilft keine Stärke noch Mannheit, er ist todt, ehe man ihn siehet. Wenn Adam das Instrument gesehen hätte, das seine Kinder hätten gemacht, er wäre fur Leide gestorben.” Erlanger Ausgabe, lxii, 171 (Tischrede Nr. 2712).
73 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 341 (Kröner).
74 Diese Worte sind eigentlich auf die deutsche Musik angewandt, dem Sinne und Zusammenhang nach passen sie jedoch auch für die Reformation.
75 Ebenda, 342.
76 Friedrich Nietzsche, Werke, x, 278 (Kröner).
77 Ebenda, 281.
78 Ebenda, 281–282.
79 Ebenda, 282.
80 Ebenda, 290.
81 Ebenda, 302.
82 Ebenda, 301.
83 Emanuel Hirsch, a.a.O., 64.
84 Friedrich Nietzsche, Werke, x, 519 (Kröner).
85 Ebenda, 433, Nr. 312.
86 Ebenda, 441, Nr. 327.
87 Ebenda, 446, Nr. 345.
88 Ebenda, 406, Nr. 263.
89 Wie übrigens sein Leben lang nach Emst Bertram.
90 Vollständig ist dieser bisher nur zum Teil veröffentlichte Brief (Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde) zum ersten Mal abgedruckt in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorf an Friedrich Nietzsche (Weimar: Nietzsche-Archiv, 1936), iii. Teil, 81–82.
91 Arthur Drews, a.a.O., 407.
92 Vergleiche Fuβnote SS dieser Arbeit. Ebenfalls Arthur Drews, a.a.O., 412.
93 Friedrich Nietzsche, Werke, x, 458 (Kröner).
94 Friedrich Nietzsche, Werke, i, 554 (Kroner).
95 Ebenda, 5.
96 Friedrich Nietzsche, Werke, ii, 224–225 (Kröner).
97 Emanuel Hirsch, a.a.O., 66.
98 Arnold Berger, a.a.O., 623. Vergleiche auch das anregende Buch von Hans Besch, Johann Sebastian Bach, Frömmigkeit und Glaube. Band I: Deutung und Wirklichkeit. Das Bild Bachs im Wandel der deutschen Kirchen- und Geistesgeschichte (Gütersloh: C. Bertelsmann, 1938), besonders S. 1, 144–145, 148, 184–186, 299.
99 Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, a.a.O., 146.