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Spannungsgefüge und Stilisierung in den Goetheschen Novellen

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Myra R. Jessen*
Affiliation:
Bryn Mawr College

Extract

Die Ergebnisse dieser Untersuchung beruhen auf Analysen der acht wichtigeren Novellen Goethes. Zur Darstellung der Methode bringen wir aber hier nur drei davon in vollständiger Ausführung, indem wir uns für das Uebrige auf allgemeine fachmännische Vertrautheit mit einem wohlbekannten Stoffe verlassen zu können glauben. Das Netz eines Spannungsgefüges wird durch so viele sich durchkreuzende Momente bedingt, dass eine gleichzeitige, allumfassende Interpretation nicht leicht möglich ist. Einen nach dieser Richtung zielenden Vorschlag findet man in einem Artikel: “Zur Charakterologie des Kunstwerks,” wo Hermann Nohl erst nach Feststellung der Spannungsschichten des Kunstwerks, den Grundentscheidungen des menschlichen Charakters gemäss, “die Form der Werke bis in den äusseren Aufbau, ja bis in Klang und Rhythmus der einzelnen Sätze aus ihnen” interpretieren möchte. Für das Material dieser Untersuchung ist das Charakterologische kein unwesentlicher Massstab, aber, um eine zu starke Betonung des Wertproblems zu vermeiden, ziehen wir es vor, von dem Spannungsgegenstand selbst auszugehen, und betrachten zuerst im Nacheinander der Dichtung die stofflichen und gehaltlichen Momente und deren augenblickliche Wirkung auf Wissens- und Gefühlsspannung des Lesers. An dieser letzten, subjektiven Spannungsart bestimmte Intensitätsgrade aufzustellen, wäre eine undankbare, weil belanglose Aufgabe. Wie verschieden auch die Aufnahme des einzelnen Kunstwerks sein mag, der Aufbau des objektiven Werkes bleibt immer derselbe, und in den Erlebnissen der einzelnen Betrachter liegt ein “Gemeinsames: die von dem Kunstwerk gegebenen Vorstellungen,” was bei einer Untersuchung wie dieser den Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen scheint.

Type
Research Article
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1940

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References

1 Aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) eine Anekdote des Wunderbaren, die Gespenstergeschichte der Sängerin Antonelli, und die moralische Geschichte von Ferdinand und Ottilie; aus der zweiten Novellenperiode, die mit dem Jahre 1807 einsetzt, der nach Cervantesscher Art geschlossene Typus, Die wunderlichen Nachbarskinder, die symbolische Legendennovelle, St. Joseph den Zweiten, das symbolische Kunstmärchen, Die neue Melusine, die psychologische Kontrastnovelle, der Mann von fünfzig Jahren, der lustspielartige Typus mit äusserem Wendepunkt, Wer ist der Verräter?, und die lyrische Stimmungsform mit dem Art bezeichnenden Titel, Novelle. Zur typengeschichtlichen Darstellung vgl. H. Pongs, “Grundlagen der deutschen Novelle des 19. Jahrhunderts,” Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (Frankfurt, 1930), s. 151 f.

2 H. Nohl, “Zur Charakterologie des Kunstwerks,” Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vi (1938), 398.

3 Vgl. M. Lawson, Spannung in der Erzählung (“Mnemosyne” 14; Bonn, L. Röhrscheid, 1934), S. 10.

4 Karl Büchler, “Die ästhetische Bedeutung der Spannung,” Zeitschrift für Aesthetik, iii (1908), 241.

5 In der Behandlung der Erzählungsverhältnisse, die zur Gesamtspannung das ihrige beitragen, schalten wir den Rahmen der Unterhaltungen nicht aus. Gundolf hat zwar dargestellt, Fr. Gundolf, Goethe (Berlin: Bondi, 1917), S. 289, dass dieser ursprünglich als politische Betrachtung entstanden war und meint, dass keine künstlerische Notwendigkeit ihn mit den Novellen verbindet. Das mag nun gelten, wo es sich nur um weite Ausblicke handelt. Aber bei der Analyse verwickelter Spannungsverhältnisse geht es nicht an, das Element der durch den Rahmen geschaffenen künstlerischen Distanzierung und Vertrautheit ausser Acht zu lassen.

6 Eduard Spranger, “Der psychologische Perspektivismus im Roman,” Jahrbuch des Freien Deutschen Eochstifts (Frankfurt, 1930), S. 78–79, 90. Spranger betont in einer Anmerkung (S. 90) die Besonderheit dieser Verhältnisse, ohne selber auf sie einzugehen.

7 Der “Augenblick der Umschaltung” von Erzählung in Rede kann von besonderer ästhetischer Wirkung sein. Vgl. W. Günther, Probleme der Rededarstellung, Die neueren Sprachen, 13; (Marburg: Elwert'sche Verlagsbuchhandlung, 1928), S. 7.

8 Vgl. G. Hübener, Die stilistische Spannung in Miltons Paradise Lost (Halle: Max Niemeyer, 1913), S. 23: Die stilistische Spannung findet man “isoliert, wo ein neues Einsetzen der Erzählung oder deren Gipfelpunkte ein stilistisches Unterstreichen verlangen.” Wie eigentlich kompliziert Spannungsverhältnisse sein können, wird erst deutlich, wenn man dieses weitere Moment in Betracht zieht, das bis jetzt nicht in Erwägung gezogen worden ist—die Funktion der Wortspannung, Vgl. W. Schneider: Ausdruckswerte der deutschen Sprache (Leipzig: B.J.Teubner, 1931), S.89 f., 135 f., 178 f., inbezug auf andringliche und Abstand haltende, bewegte und spannungsreiche Sprache.

9 Wir führen diese Stelle trotz dem Ende an, das den ganzen Satz syntaktisch aus dem Bereich der eigentlichen “erlebten Rede” ausschliessen dürfte. Die sich ausdehnende Gedankenwiedergabe in infinitivischer From besitzt bis zu den Worten war gewiss die ideelle Einstellung der psychologischen “Innensicht” erlebter Rede und scheint eine Art Zwischenstufe zu sein. Vgl. Günther, S. 85.

10 Im Auszuge zitiert. Vgl. ebenda, S. 121.

11 Günther, S. 32–33, der sich hier auf Robert Riemann, Goethes Romantechnik (Leipzig, 1902), stützt, betont mit Hinblick auf sein eigenes Thema nur die mildernde, vermittelnde Wirkung der Goetheschen Einleitungen in indirekter Rede, ohne andere Faktoren in Betracht zu ziehen.

12 Ebenda, S. 87.

13 Ebenda, S. 119.

14 Pongs, S. 171.

15 Vereinzelt vorkommende Beispiele wirken, wie Schneider (180) hervorgehoben hat, nicht spannungserregend. Als Sprachphänomen ist der spannende Satzbau verschiedener Wirkungen fähig: er kann vorwärtsdrängen und vorwärtzsiehen, je nachdem er mit Elementen der bewegten Sprache durchsetzt ist oder durch seine Struktur den Gedanken hinhält. Dazwischenfallende Steigerungen z.B. geben einem solchen Satz das Dringende. Ein hinhaltender Typ dagegen zieht den Leser mit. In beiden Fällen ist das Endresultat das Hervorrufen der Erwartung im Leser.

16 Dilthey dagegen sah in solchen eingestreuten Betrachtungen nur die Funktion “den Auffassenden zeitweise von dem Banne des Affekts, der Spannung, der fortreissenden Mitempfindung zu befreien, indem sie zu beschaulicher Stimmung erheben.” Büchler, S. 235.

17 In dem Mann von fünfzig Jahren (W. xxiv, 296, 25): “Wenn man vernünftig und ruhig leben will, welches denn doch zuletzt eines jeden Menschen Wunsch und Absicht bleibt, was soll uns da das aufgeregte Wesen das uns willkürlich anreizt ohne etwas zu geben, das uns beunruhigt um uns denn doch zuletzt uns wieder selbst zu überlassen; ”usw. Dies ähnelt in mancher Hinsicht dem Sprachgebilde, das K. May (vgl. unten S. 463) als die geordnete Stufe in Goethes Novelle interpretiert hat. Umfangreicher periodischer Satzbau, ein Hinhalten, das den Leser weiter mitzieht, leichte und bestimmte Antithetik sind alle hier beisammen. Während aber dort die geordnete Stufe distanzierend wirkt, ist hier das Verhältnis zwischen den Gegebenheiten der dichterischen Welt ein verinnerlichtes: Annäherung bei aller Fernhaltung in der Szene zwischen Major und Witwe.

18 Nohl, S. 392 f.

19 Vgl. dazu Ernst Beutler, “Unsprung und Gehalt von Goethes Novelle,” Deutsche Vierteljahrsschrift für die Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, xvi (1938), 329: “Man stelle sich vor, die Liebe Honorios und sein Verzicht würde fehlen, so würde die Novelle dadurch an Reichtum und Interesse einbüssen, sie würde vielleicht so verkürzt sein, dass sie fast einer erzählten Anekdote gleich käme, etwa im Sinne der Kleistschen Anekdoten, aber sie würde nichts von ihrem Gewicht, von ihrer Seele einbüssen.—Es ist auch nicht so, dass das eine Motiv Stufe für das andere ist, das Verhältnis der beiden ist vielmehr ein Nebeneinander, kein Füreinander.”

20 Zum Problem der Idee vgl. Beutler, S. 324 f.

21 K. May, “Goethes ‘Novelle’,” Euphorion, xxxiii (1932), 277 f.

22 Ebenda, S. 295.

23 B. Seuffert, “Goethes Novelle,” Goethe-Jahrbuch, xix (1898), 155.

24 Für das Publikum zu Goethes Zeit hatte dieser Titel ausserdem einen gewissen Assoziationswert, indem er an Kotzebues Lustspiel Der Mann von vierzig Jahren erinnerte.

25 Uebereinstimmung der Meinungen betreffs des Haupthemas, geschweige denn des Ziels der Novelle hat es lange nicht gegeben. Seuffert, Arnold, Grolman, Walzel und May weichen sehr von einander ab. Beutlers Interpretation des Gehalts von der Entstehungsgeschichte her hat den Vorteil einer gründlichen Unterlage.

26 In einigen Fällen kommt die Bestimmung der Umgebung als ein wichtiger Bestandteil des Gefüges erst nach und nach zum Vorschein. Oft ist die allgemeinere Staffage sogar fast gleichgültig, wie etwa in der Sängerin Antonelli, in Ferdinand und Ottilie und in den wunderlichen Nachbarskindern. Unentbehrlich ist sie in den mehr stimmungsmässig gehaltenen Stücken. St. Joseph dem Zweiten und der Novelle, während in Wer ist der Verräter? nur der Gartensaal mit dem grossen Spiegel, also Staffage im engeren Sinne der Bühnendekoration, nicht wegzudenken wäre. Zur analogen Anwendung des Ausdrucks Staffage auf Spannungstechnik vgl. Lawson, S. 15–16.