Article contents
Gesetz und Sünde: Gedanken zu einem Qualitativen Sprung im Denken des Paulus*
Published online by Cambridge University Press: 05 February 2009
Extract
Das Verhältnis von Gesetz und Sände zu bestimmen, könnte ein historisches Unternehmen sein. Wenn jedoch im Anschluss an Paulus über dieses Problem nachgedacht wird, kann es nicht beim historischen Unternehmen bleiben. Entgegen einem Trend der gegenwärtigen Forschung, Paulus bloss noch historisch wahrzunehmen, will ich im Folgenden den Versuch machen, mich auch dem theologischen (und erst recht dem anthropologischen) Anspruch des paulinischen Denkens zu stellen.
- Type
- Articles
- Information
- Copyright
- Copyright © Cambridge University Press 1985
References
Anmerkungen
[1] Das paulinische Gesetzesverständnis wird dann verhandelt unter dem Aspekt, ob der historische Paulus das historische Judentum angemessen verstanden habe. In diese Richtung gehen eine ganze Reihe von neueren Arbeiten (einmal abgesehen von den jüdischen Autoren, bei denen eine solche Fragestellung sowieso zu erwarten ist). Als kennzeichnende Beispiele seien genannt: Sanders, E. P., Paul, the Law, and the Jewish People (Philadelphia 1983)Google Scholar; Jervell, J., ‘Der unbekannte Paulus’, in: Pedersen, S. (ed.), Die Paulinische Literatur und Theologie. The Pauline Literature and Theology (Åihus/Göttingen 1983, TS 7), 29–49Google Scholar; Räisänen, H., ‘Legalism and Salvation by the Law’, in: (siehe Jervell), 63–83; ders, Paul and the Law (Tübingen 1983, WUNT 29).Google Scholar
[2] Ganz unbelastet von wichtigen hermeneutischen Einsichten des 20. Jahrhunderts wird etwa die Frage verhandelt, ob Paulus die Ersterwählung des Volkes Israel respektiert habe oder nicht (vgl dazu Sanders, aaO [Anm 1] 207) beziehungsweise ob Israel oder die Kirche ‘Gottes Volk’ sei. Zu den mythologischen Grundzügen des genannten Dialogs vgl Klein, G., ‘“Christlicher Antijudaismus”. Bemerkungen zu einem semantischen Einschüchterungsversuch’, ZThK 79 (1982) 411–50.Google Scholar
[3] Zu diesem Urteil vgl Steck, O. H., ‘Ueberlegungen zur Eigenart der spätisraelitischen Apokalyptik’, in: Die Botschaft und die Boten (Wolf, Fschr H. W.), ed. Jeremias, J. / Perlitt, L. (Neukirchen 1981) 312–15Google Scholar; Harnisch, W., Verhängnis und Verheissung der Geschichte (Güttingen 1969, FRLANT 97) 323–7.CrossRefGoogle Scholar
[4] So Räisänen, , ‘Legalism’ aaO (Anm 1) 68Google Scholar: ‘It should be noted that IV Esra, the exception to the general rule, can hardly come in question as a representative of the Judaism known by Paul.’ Auch wenn dies zutreffen sollte (vgl aber immerhin die oben Anm 3 genannten Arbeiten und Davies, W. D., Paul and Rabbinic Judaism [London 1967], 1–16)Google Scholar, ist Räisänens Einschätzung dieser Schrift falsch. Sie kennt durchaus den ‘covenantal nomism’, einen Nomismus, der nicht weniger gesetzlich ist als der ‘hard legalism’ (zu diesem Ausdruck vgl Räisänen, , ‘Legalism’ aaO 63 f.).Google Scholar
[5] Vgl Brandenburger, E., Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen (Zürich 1981, AthANT 68) 148–54.Google Scholar
[6] So Luz, U. in Smend, R. / Luz, U., Gesetz (Stuttgart 1981) 99.Google Scholar Schwarz-Weiss-Malerei wird Paulus unterstellt von Sanders, aaO (Anm 1) 70.
[7] So Räisänen, , ‘Legalism’ aaO (Anm 1) passim, zB 71, 72, 82 f.Google Scholar; ebenso die bei Räisänen (64–8) genannten Arbeiten von Schechter, Montefiore, Schoeps und Sanders. Dieses Urteil beruht - wie in jedem Falle leicht zu zeigen wäre - darauf, dass das eigentliche Problem des Gesetzes, das Paulus aufgreift, gar nicht zu Gesicht kommt. So wäre es Paulus nie eingefallen zu bestreiten, dass die Bundes‘gnade’ der Forderung des Gesetzes vorausgeht. Paulus wehrt sich ja gegen eine Vorstellung, die Gnade und Gesetz zusammenbindet (in seiner Sprache: Christus und das Gesetz), wie der Galaterbrief unzweifelhaft zeigt; vgl Lührmann, D., Der Brief an die Galater (Zürich 1978, ZBK.NT 7) 104–8Google Scholar (Das Evangelium der Gegner ist eine ‘christliche Theologie des Gesetzes’. Gegen diese wendet sich Paulus.).
[8] Der Einbruch der Sünde in die Welt bringt den Tod an die Macht, der nach V. 12c auf alle Menschen übergeht. Ganz gleichgültig woher diese Vorstellung religionsgeschichtlich kommen mag, legt sie den Gedanken des Verhängnisses nahe (vgl. Käsemann, E., An die Römer [(Tübingen2 1974, HNT 8a] 134–8).Google Scholar Der Verhängnisgedanke erscheint beispielsweise auch in äthHen 6–11; angedeutet in Sir 25. 24; VitAd 34; 44; ApkMos 10; eher als Ausnahme in rabbinischen Texten wie DtnR 9 (206a) bei Bill. III 227 f. und den bei Brandenburger, E., Adam und Christus (Neukirchen 1962, WMANT 7) 44Google Scholar Anm 5 genannten Aeusserungen; sodann in vielen gnostischen Texten (zusammengestellt bei Brandenburger, aaO 64–7). Zum Ganzen vgl Brandenburger, aaO 20–7, 42–5; Hübner, H., Das Gesetz bei Paulus (Göttingen 1978, FRLANT 119) 66 f.Google Scholar
[9] Wilckens, Dazu U., Der Brief an die Römer 1 (Zürich/Köln 1978, EKK 6, 1) 316 f.Google Scholar
[10] So zB 4 Esr 3. 21. Die vorwurfsvolle Feststellung an die Adresse des Offenbarungsengels lautet: Gott hat das böse Herz nicht von den Menschen weggenommen, so dass die ständige Krankheit (permanens infirmitas) entstand, welche auch das Gesetz nicht heilen konnte (3. 20, 22).
[11] Deshalb bedeutete der Sturz Adams unser aller Sturz (4 Esr 7. 118).
[12] Zur Vorstellung des Kampfes vgl 4 Esr 7. 127 f. (der Sinn des Kampfes ist eben der, dass der Verlierer leiden muss, während der Sieger des Versprochenen teilhaftig wird); 14. 34 (überhaupt ist die ganze Visio 7 eine Aufforderung zum Kampf gegen das Böse).
[13] Besonders deutlich 4 Esr 8. 56: ‘Nam et ipsi (sc. die Zugrundegehenden) accipientes libertatem spreverunt Altissimum …’; 9. 11: ‘… et quotquot fastidierunt legem meam, cum adhuc erant habentes libertatem …’. Schoeps, Nach H. J., Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte (Tübingen 1959) 195Google Scholar denkt auch das Rabbinat so über die Freiheit des Menschen, sich gegen den bösen Trieb durchzusetzen.
[14] Man könnte sich freilich auch auf den Standpunkt stellen, dass die Verzweiflung Esras eher als literarisches Darstellungsmittel fungiert, während der Buchverfasser selbst diese Position schon ‘domestiziert’ hat. Er hat im Grunde den Zusammenbruch schon bewältigt und lässt deshalb die Position des Esra eher aggressiv in Erscheinung treten (mündlicher Hiriweis von W. Harnisch).
[15] Angesichts des Gesetzes ist der Mensch ganz auf sich selbst und seinen Kampf angewiesen. Er wird, was seine Gerechtigkeit angeht, der Gemeinschaft ganz entzogen: niemand wird mehr für den andern bitten, jeder trägt seine eigene Gerechtigkeit Oder Ungerechtigkeit (4 Esr 7. 105); jeder soll an sein eigenes Los denken und nach der Herrlichkeit derer fragen, die ihm gleichen (8. 51).
[16] So Luz, , aaO (Anm 6) 97 f.Google Scholar (im Anschluss an von der Osten-Sacken). Die ganze Fragestellung ist insofern schief, als sich die Sünde (Singular!) gar nicht auf eine Summe von Tatsünden reduzieren lässt (gegen Wilckens, , aaO [Anm 9] 316).Google Scholar
[17] Die künftige Welt ist nur wegen wenigen erschaffen (4 Esr 8. 1; zu vergleichen ist 8. 2 f. das Bild von der grossen Menge Tonerde im Gegenüber zur kleinen Menge Goldstaub). Non esse multos iustos sed paucos, impios vero multiplicari (7. 51). Gott wird sich über die wenigen freuen, die gerettet werden (7. 60), während Esra nicht traurig sein soll über die Vielen, die verloren gehen (7. 61). ‘So gehe denn die Menge zugrunde, die nutzlos geboren ist, und gerettet werde meine Beere und mein Spross, denn ich habe sie mit viel Mühe zustande gebracht’ (9. 22). Ganz deutlich ist, dass die universalen Aussagen Esras korrigiert werden durch Uriel, vgl Brandenburger, aaO (Anm 8) 32.
[18] ‘Omnes enim qui nati sunt commixti sunt iniquitatibus et pleni sunt peccatis et gravati delictis’ (4 Esr 7. 68; vgl auch 8. 35). Esra scheint in der Aussage der Universalität zu schwanken zwischen ‘alle’ und ‘fast alle’. Zu diesem Problem und seinen textkritischen Implikationen vgl Brandenburger, , aaO (Anm 5) 176–9.Google Scholar
[19] Zu nennen ist hier namentlich der syrBar, der ganz ähnliche quantitative Urteile aufweist: Gott kennt die Zahl (!) der vielen, die gesündigt haben, aber auch der nicht wenigen, die recht gehandelt haben (21. 10 f. vgl 41. 3 f.). Die Pointe der Argumentation dieser Schrift liegt darin, dass jeder sich sowohl sein Verderben als auch seine Rettung selbst zuzuschreiben hat (54. 14 f.). Von da her ist es unzutreffend, aus dem syrBar die Aussage von der Universalität der Sünde herauszu-lesen (gegen Luz, aaO [Anm 6] 98, der diese Aussage bei Paulus für ein traditionelles apokalyptisches Urteil hält und dann Rom 5. 12 mit syrBar 54. 19 und 4 Esr 3. 21 f. auf die gleiche Stufe stellt; mit Brandenburger, , aaO [Anm 8] 36 f.).Google Scholar
[20] Eine solche christologische Argumentation ‘dogmatic’ zu nennen (so Sanders, E. P., Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion [London 1977] 484)Google Scholar, ist schon deshalb ein falsches Urteil, weil es auf dem Boden des Gesetzes gewonnen ist. Es wird umso fragwürdiger, wenn Sanders seine Paulusinterpretation dann so heilsgeschichtlich entwirft, wie er dies in der in Anm 1 genannten Arbeit tut (zB 70–81). Christologie und existentielle Phänomene sindbei Paulus gerade keine Alternativen. Problematisch ist es ferner, die Begründungsverhältnisse umzukehren: weil alle gesündigt haben, darum beruht ihre Rechtfertigung auf einem Gnadenakt Gottes; gegen Hahn, F., ‘Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief’, ZNW 67 (1976) 29–63, 37.CrossRefGoogle Scholar Die bei Hübner, aaO (Anm 8) 63 vorgenommene Unterscheidung zwischen Sündentaten (die durch das Gesetz erkannt werden) und der Sündenmacht (die erst durch Christus aufgedeckt wird) verschiebt den Akzent meines Erachtens in unzulässiger Weise. Der springende Punkt ist, dass aufgrund der geschehenden Gnadentat eine Sünde erkenntlich wird, die gar nicht mehr eingeholt werden kann durch die Definition der Sünde als Uebertretung des Gesetzes. Dem widerspricht nicht der paulinische Gedanke, dass es auch durch das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde kommt.
[21] Das χωρίς von Röm 3. 21 ist sehr ernst zu nehmen: es bedeutet weder gegen das Gesetz noch am Gesetz vorbei, sondern schlechthin unabhängig vom Gesetz, so wie eine Insel unabhängig ist vom Festland. Diese klare Position des Paulus wird verwischt durch Wilckens, , aaO (Anm 9) 174–7Google Scholar (Was soll denn eine ‘Rechtfertigung von Gerechten’ sein?). Rechtfertigung aufgiund der Werke des Gesetzes gibt es nach Paulus weder für Sünder noch fur Gerechte, aus dem ganz einfachen Grunde, weil das Phänomen der Rechtfertigung völlig unabhängig von Gesetz ist. Wer die Unfähigkeit des Gesetzes zur Rechtfertigung erkannt hat, ist in der Tat insofern nicht mehr Jude (vgl Hübner, , aaO [Anm 8]63Google Scholar), als er die Definitionsmacht des Gesetzes nicht mehr für entscheidend hält.
[22] Wilckens, Gegen, aaO (Anm 9) 316Google Scholar, der mit dem seltsamen Ausdruck ‘Tatsünden’ das Phänomen der Sünde auf seinen Tataspekt beschränkt.
[23] Dass auch Adams Sünde in der Uebertretung des göttlichen Gesetzes bestand, ergibt sich aus der Behandlung des Adam-Beispiels in Röm 7. 7 ff. Auch nach frühjüdischen Anschauungen ist die Sünde Adams so zu beurteilen und sind die Sünden der Menschen definiert als Uebertretung des Gesetzes (vgl 4 Esr 3. 7 für Adam, 3. 8 für die Menschen nach Adam). Zum Ganzen vgl Schneider, J., Art. ‘παραβαίνω κτλ’, in: ThWNT V 733, 6–741, 6.Google Scholar
[24] Dies zeigt sich rein vokabelanalytisch auch daran, dass Paulus das Wort παράβασις sehr zurückhaltend verwendet (im Unterschied etwa zu παράπτωμα und άμαρτία), und dass an alien Stellen παράβασις auf die Uebertretung des Gesetzes bezogen ist (vgl Röm 2. 23: Uebertretung des Gesetzes; 4. 15: wo kein Gesetz ist, ist keine Uebertretung; 5. 14: nach dem Modell der [Gesetzes-] Uebertretung Adams; Gal 3. 19: wegen der Uebertretungen wurde das Gesetz hinzugegeben). In ähnlicher Weise unterscheiden zwischen Sünde und Uebertretung des Gesetzes: Brandenburger, , aaO (Anm 8) 203Google Scholar; Hübner, , aaO (Anm 8) 63Google Scholar; Schlier, H., Der Römerbrief (Freiburg 1977, HThK 6), 182.Google Scholar
[25] Dies zeigt sich gerade auch daran, dass für Paulus das Gesetz keine universale Verbindlichkeit mehr hat (etwa in Sachen Reinheit Oder rechtem Verhalten, wo das Gesetz - genauso wie entsprechende hellenistische und hellenistisch-jüdische ethische Erwägungen - heuristische Funktion hat). Der Hinweis auf Röm 7. 12 verschlägt nicht als Gegenargument, da es hier bloss um die Unterscheidung des Gesetzes von der Sünde geht.
[26] Man wird sich das Gesetz als eine Art Buchungsinstanz vorzustellen ha ben, die Sünde anrechenbar macht. Unwahrscheinlich ist demgegenüber, dass das Gesetz die Funktion hat, den Sünder ‘definitiv der Folge seiner Sünde’ zuzusprechen (gegen Wilckens, , aaO [Anm 9] 318 f.).Google Scholar
[27] Die Problematik der Analyse von Wilckens, , aaO (Anm 9) 318–20Google Scholar liegt vor allem darin, dasser die Sünde immer noch der Definition des Gesetzes unterstellt.
[28] Vgl Brandenburger, , aaO (Anm 8) 219.Google Scholar Angesichts von V. 14 Ende ist es wohl problematisch, hier von einem ‘antithetischen’ Entsprechungsverhältnis zu reden, gegen Wilckens, , aaO (Anm 9) 308, 322Google Scholar; zu wenig klar auch Käsemann, , aaO (Anm 8) 141 f.Google Scholar
[29] Zur doppelten Steigerung und damit zur Ueberwindung der Vergleichbarkeit vgl Brandenburger, , aaO (Anm 8) 223 f.Google Scholar Die doppelte Steigerung ist ein sprachlicher Reflex dessen, dass das Denken, das von Haus aus immer auf dem Boden des Gesetzes angesiedelt ist, sich ins Zerbrechen führen lässt durch das Evangelium.
[30] Vgl das ούχ von V. 16 und das γάρ in V. 17. V. 17 ist parallel zu V. 15b und steht in betontem Bezug zu V. 16a, welchen er erneut begründet; mit Schlier, , aaO (Anm 24) 171.Google Scholar
[31] 4 Esr 7. 25. Als weitere Beispiele seien genannt: 7. 14 (die Menschen müssen in den Nöten des gegenwärtigen Aeon sich bewährt haben, um die Frucht der Unsterblichkeit zu erhalten); 7. 21 (der Herr hat nachdrücklich geboten, was sie tun sollen, um nicht bestraft zu werden); 7. 33 (der Höchste offenbart sich auf dem Richterthron, Erbarmen und Langmut verschwinden); 7. 35 (das Werk folgt nach, die gerechten Taten erwachen); 7. 72 (es kommt darauf an, den Verstand zu gebrauchen, um das Gesetz zu halten). Die Beispiele könnten fast beliebig vermehrt werden. Auch Paulus stellt ja vom Gesetz zu Recht fest, dass es den Menschen auf das Tun festlegt (Röm 2. 13).
[32] Die Klarheit dieser Alternative wird vernebelt durch die Behauptung von Stendahl, K., Der Jude Paulus und wir Heiden (München 1978) 49 fGoogle Scholar, nach rabbinischer Auffassung gehe Erlösung und Verdammung Gottes mitten durch das menschliche Herz als die zwei Trie be, die miteinander kämpfen (Belege werden nicht genannt). Dieses noch in manch anderer Hinsicht skandalöse Buch (skandalös ist etwa schon der Titel, in welchem eine gesetzliche Unterteilung der Menschen in Juden und Heiden beibehalten wird, die im Bereich des Christus völlig irrelevant ist) versteigt sich denn auch zur Behauptung, die ‘Loyalität gegenüber Jesus Christus’ sei von der frühen Kirche in ‘sektiererische(r) Weise’ verlangt worden. So kann nur sprechen, wer den Christus erneut der Definitionsmacht des Gesetzes unterstellt hat; dann aber muss er so sprechen.
[33] Neuerdings wird diese Gesetzeskritik Paulus immer wieder unterstellt, um dann als Missverständnis des jüdischen Gesetzes deklariert werden zu können (zB Räisänen, , ‘Legalism’ aaO [Anm 1] 77Google Scholar; auf diese Weise verfehlt man überhaupt das Problem des Gesetzes bei Paulus).
[34] Hier muss δικαίωμα als Gegenbegriff zu κατάκριμα verstanden werden. Dann legt sich die Bedeutung ‘Rechtfertigungsurteil’ im Gegensatz zum ‘Verurteilenden Urteil’ nahe. Zum Problem vgl Wilckens, , aaO (Anm 9) 324 mit Anm 1086Google Scholar; Brandenburger, , aaO (Anm 8) 225.Google Scholar
[35] Das Phänomen des Bemessens ist nicht nur am Ende das einzige, was bleibt, es gilt auch als das erste Geschöpf Gottes, vgl 4 Esr 7. 70. Nur das, was bei ihnen vorhanden sein wird, werden die Menschen in diesem Gericht vorbringen können (7. 72–74). ‘Der Tag des Gerichts ist streng und zeigt alien das Siegel der Wahrheit. Wie jetzt schon kein Vater den Sohn … entsenden kann, dass er für ihn krank sei, schlafe, esse oder geheilt werde, so wird auch dann niemand für einen andern bitten; denn dann trägt jeder selbst seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit’ (7. 104b, 105). Deutlicher könnte das Zurückgeworfensein auf das, was der Mensch vorzuweisen hat, nicht mehr ausgedrückt werden.
[36] Lührmann, Dazu, aaO (Anm 7) 56Google Scholar (zu Gal 3. 6–14): ‘Was bei Paulus durch Christus zu einem zeitlichen Nacheinander wird, wirkt im Alten Testament wie zwei gleichzeitige Möglichkeiten, deren jeweilige Realisierung sich am Verhalten gegenüber dem Gesetz entscheidet: Wer das im Gesetz angebotene Leben, die Verheissung des Bundes annimmt, steht unter dem Segen, wer sich dem Gesetz verweigert, steht im Fluch, im Tod.’ Diese schon im Gal feststellbare Umorientierung ist von grösster Bedeutung für ein sachgemässes Verständnis des Evangeliums, wenn dieses nicht bloss ein Abklatsch des Gesetzes sein soil.
[37] Eine solche Vorstellung von Gnade ist mit der Definitionsmacht des Gesetzes notwendig gegeben. ‘God's mercy is greater than his justice.’ In diesem nach Sanders, , aaO (Anm 20) 421Google Scholar rabbinischen Grundsatz ist die oben beschriebene Gnadenvorstellung genau ausgedrückt. Noch schöner zeigt sie sich in der übrigen Literatur: ‘the usual formulation is that God punishes the wicked for their deeds, while bestowing mercy on the righteous’ (ebd). Gewiss legt vor allem der Verfasser des 4 Esr fast alleiniges Gewicht auf die Taten der Menschen. Dennoch ist der 4 Esr durchaus keine Ausnahme in puncto Gnadenvorstellung auf der Ebene des Gesetzes (gegen Sanders, , aaO 420, 422).Google Scholar
[38] Dies zeigt sich besonders schön in Röm 3. 25 f., wo Paulus den traditionellen Sühnegedanken, der in der Vergebung vergangener Sünden gipfelt, neu interpretiert als Ueberwindung der Sündenmacht. Diese Ueberwindung geschieht dadurch, dass das Gerechtigkeitsproblem ganz auf die Ebene Gottes verlegt wird (vgl V. 26). Das Gottesverhältnis wird insofern prinzipiell neu, als der Mensch aus dem Werkzusammenhang heraus in den Gabezusammenhang versetzt wird. Der hier oft gebrauchte Begriff des Herrschaftswechsels (instruktiv ist etwa die Sprachregelung bei Käsemann, aaO [Anm 8] 85–7: zB ‘Macht der Gnade’, ‘Heilsmacht’ des ‘Rechtes Gottes’, ‘Griff des Schöpfers nach seiner Welt’) ist problematisch, da er suggerieren könnte, die Herrschaft der Gnade sei strukturell der Herrschaft der Sünde gleich, was unzutreffend ist, da die ‘Herrschaft’ des Gebens mit der Herrschaft des Wirkenmüssens nicht verglichen werden kann. Die Änderung der ‘Machtverhältnisse’ (vgl Brandenburger, , aaO [Anm 8] 235 f.)Google Scholar müsste deutlicher gefasst werden: sie ist nicht nur ein Wechsel von der Macht der Sünde zur Macht der Gnade, sondern auch ein Wechsel im Machverhält-nis selbst. Die Gnade übt auf ganz andere Weise ‘Macht’ aus als die Sünde.
[39] Brandenburger, Dazu, aaO (Anm 8) 242.Google Scholar Vielleicht ist stärker zu beachten, dass die Differenz zwischen Adam und Christus (wie sie in V. 15–17 präzisiert wird) nur ausgesprochen wird auf der Grundlage der Entsprechung (V. 18 f).
[40] Eigentlich existiert Adam am Hören vorbei, wodurch er sich als Täter etabliert (vgl den griechischen Ausdruck παρακοή; Schmidt, K. L., Art. ‘άκούω κτλ,’ in: ThWNT I 224, 1–29).Google Scholar Problematisch an der Wiedergabe mit ‘Ungehorsam’ ist hier, dass das Am-Hören-vorbei-Existieren dadurch beschränkt wahrgenommen wird als Ungehorsam gegenüber den Geboten oder Forderungen Gottes. Hier erscheint eine viel tiefere Dimension: das Ueberhören des guten Wortes, das dem Menschen gilt.
[41] Nicht sicher zu erheben ist die Bedeutung des Futurs in der zweiten Satzhälfte. Es könnte einerseits eine Zeit meinen, die im Blick auf den Bestimmungsraum des Adam zukünftig ist und also den Bestimmungsraum Christi beziehungsweise die Gegenwart des Seins der Glaubenden bezeichnet. Es könnte andereiseits eine eschatologische Zukunft meinen, so dass die Rechtfertigung der Glaubenden auch erst in dieser Zukunft gälte. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass bei Paulus die Rechtfertigung - mit der einzigen Ausnahme von Gal 5. 5 - ein gegenwärtiges Oder vergangenes Geschehen darstellt, wird man das Futur in Röm 5. 19 im ersten Sinne zu verstehen haben. Zum Problem vgl Brandenburger, , aaO (Anm 8) 234Google Scholar, der beide Möglichkeiten in Erwägung zieht, und Käsemann, , aaO (Anm 8) 148Google Scholar, der sich für das eschatologische Futur entscheidet, ohne jedoch den Gegenwartsaspekt der Rechtfertigung damit zu verneinen.
[42] Brandenburger, , aaO (Anm 8) 235Google Scholar versteht unter dem Gehorsam Christi das Heilshandeln Jesu als eines Leidenden Gerechten, dessen Tun sähnende Kraft hat. 1m Blick auf den Philipperhymnus könnte der Gehorsam des Christus so etwas wie ‘Treue zui Menschlichkeit’ bedeuten, wobei Paulus dann die Menschlichkeit nicht mehr allgemein sondern konkret vom Kreuzestod Jesu her versteht (dazu Weder, H., Das Kreuz Jesu bei Paulus (Göttingen 1981, FRLANT 125) 211–15).CrossRefGoogle Scholar
[43] So auch Sanders, , aaO (Anm 1) 45.Google Scholar
[44] Luz, Gegen, aaO (Anm 6) 101Google Scholar, der den Sachverhalt von V. 20 durch die Aussage verwischt, das Gesetz habe ‘also nur etwas bereits Vorhandenes zur Fülle gebracht’. Wie soll man den logischen Zusammenhang zwischen Vorhandenem und Fülle verstehen? Obwohl auch Delling, G., Art. ‘πλεονάζω κτλ,’ die klare Bedeutung von mehren (vgl auch die Ableitung von πλέον aus πολύς) feststellt (in: ThWNT VI 263, 14–41Google Scholar; 264, 47–57), lässt er die Aussage in Röm 5. 20 merkwürdig im Un bestimmten zwischen ‘ganz gross werden’ und ‘grösser werden’ (aaO 265, 1–29).
[45] Hahn, Gegen, aaO (Anm 20) 43.Google Scholar Eine solche Abmilderung des Wortes verbietet sich schon aus Gründen der Wortableitung von πλέον, dem Komparativ von πολύς.
[46] Schlier, Zutreffend H., aaO (Anm 24) 177.Google Scholar
[47] So Wilckens, , aaO (Anm 9) 329.Google Scholar
[48] Als Beispiele seien genannt: 4 Esr 3. 19 f. (die Gabe des Gesetzes konnte keine Frucht bringen, weil Gott das böse Herz nicht von den Menschen genommen hatte) 3. 22 (das Gute schwand, das Böse blieb). Zu vergleichen ist das Gegenstück in Visio IV, wo Esra wieder Vertrauen hat in die Kraft des Gesetzes (9. 31–37).
[49] Wilckens, Gegen, aaO (Anm 9) 329Google Scholar Anm 1104, der Paulus diese Einsicht nicht zutrauen mag, obwohl sie in den paulinischen Schriften ganz deutlich ausgesprochen ist (zB Röm 7. 13, wo von der Vollendung der Sündigkeit der Sünde die Rede ist, die dadurch zustande kam, dass die Sünde mir durch das Gute [!] den Tod bewirkte und im Uebermass sündig wurde durch das Gebot; ferner Röm 10. 3 f.; Phil 3. 9 f.). Die von Wilckens ohne Argument abgewiesenen Arbeiten Bultmanns, Brandenburgers und Jüngels sind - wie die obige Analyse zeigt - hier durchaus im Recht. Eine ähnliche Einsicht des Paulus konstatiert Hübner, , aaO (Anm 8) 65Google Scholar im Blick das Phänomen der ‘Begierde’.
[50] Vgl zB Röm 13. 8–10. Zu überlegen ist, was in diesem Zusammenhang unter der ‘Rechtsforderung des Gesetzes’ (Röm 8. 4) zu verstehen wäre (mündlicher Hinweis von P. Stuhlmacher).
[51] Sanders, , aaO (Anm 20) 233 f.Google Scholar spielt die Bedeutung der Werke des Gesetzes für den Bund in der rabbinischen Theologie denkbar weit herab. Immerhin stellt auch er fest, dass der Ungehorsam gegenüber dem Gesetz das Bundesverhältnis zerstört. Daraus folgt, dass der Mensch tätig sein Gottes-verhältnis bearbeitet. Genau hier erfolgte der entscheidende qualitative Sprung bei Paulus: mit den Werken des Gesetzes (deren Wahrheitskriterium nur die Liebe sein kann, vgl Röm 13. 8–10) bear beitet der Mensch nicht mehr sein Gottes sondern sein Weltverhältnis.
Immerhin ist es gegenüber der Sicht von Sanders notwendig, auch andere Interpretationen des rabbinischen Judentums in Erwägung zu ziehen, die die Bedeutung des Gesetzes viel höher einschätzen; vgl zB F. Lang, ‘Gesetz und Bund bei Paulus’, in: Rechtfertigung (Fschr. Käsemann, E.), ed. Friedrich, J. ua (Tübingen 1976) 305–20Google Scholar, der feststellt: Das ‘rabbinische Judentum betonte das gesetzliche Moment im Bundesgedanken, wie der Grundsatz zeigt: <Es gibt keine berit ausser dem Gesetz> (MEx 12. 6)’ (311). Es gibt zahllose halakische Texte, welche dieses Prinzip praktisch durchfuhren.
[52] Mündlicher Hinweis von Dieter Lührmann.
[53] Deshalb ist die bei Räisänen, , ‘Legalism’ aaO (Anm 1) 69Google Scholar aufgestellte Alternative falsch. Sie verharmlost das καυχάσθαι zu einer blossen Frage der moralischen Ueberheblichkeit. Die Verbindung des Gerechtigkeitsthemas mit der Frage des Rühmens wird durch 1 Kor 1. 30 auch für Zusammenhänge gesichert, in denen das jüdische Gesetz kein Problem war.
- 3
- Cited by