Published online by Cambridge University Press: 05 February 2009
Der Göttinger Naturwissenschaftler und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg bemerkte selbstkritisch: ‘Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.’1 Der Nationalökonom Walter Eucken soil dieses Wort auf die Wirtschaftswissen-schaften übertragen haben. Müβten wir im Blick auf unsere Disziplin nicht erst recht formulieren: Ein Neutestamentler, der nur etwas vom Neuen Testament versteht, kann dieses gar nicht richtig verstehen? Ist doch der Gegenstand der neutestamentlichen Wissenschaft – zumindest wenn wir äβerlich gesehen von der Bezeichnung ausgehen – in der Gestalt des Nestle-Aland 26. A. nur ein einziges griechisches Buch im Kleinformat von jetzt 680 Seiten, der alte Nestle 25. A. hatte gar nur 657 aufgrund seines kleineren textkritischen Apparats. Nach Morgenthaler2 umfaβt es 137490 Worte. Allein dieses Manuskript hat 14514. Unter den theologischen wie den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die mit eigenen Lehrstühlen versehen an den Universitäten gelehrt werden, hat das Fach ‘Neues Testament’ gewiβ den am starksten begrenzten Gegenstand. Man vergleiche nur die Nachbardisziplin, die Kirchengeschichte: Der ganze Migne mit 378, die Weimarana mit 100 und das Corpus Reformatorum mit 101 Bänden, dazu zahllose andere Quellen, stehen diesem einen, kleinen Buch gegenüber.
1 Georg Christoph Lichtenbergs Werke in einem Band (hg. v. P. Plett; Hamburg, o.J.) 148 = 1 (Schmierbücher 1789–93) Nr. 838.
2 Morgenthaler, R., Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes (1958) 149Google Scholar; vgl. 8–9: aufgrund der 21. A. des Nestle.
3 Op. cit., 118 = 1 Nr. 12.
4 Loc. cit.
5 Auf das Leben Jesu von D. F. Strauβ 1835/6 folgte 1840 in Bonn Bruno Bauers Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes und, 1841/2, ‘Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker’ mit dem Fazit: ‘Letzter Quell der evangelischen Geschichte ist das “absolute Selbstbewuβtsein”, das Selbstbewuβtsein des Urevangelisten Markus’, W. Schmidt/J. Hauβ-leitner, RE 3 2 (1897) 445. Das klingt phantasievoll und modern zugleich. S. auch die Kritik von Engels, F., Zur Geschichte des Urchristentums 2 (Marx/Engels-Werke Gesamtausgabe 22; 1963) 455–73Google Scholar (455): ‘Jedenfalls … kann alles, was die Tübinger Schule im Neuen Testament als ungeschichtlich oder untergeschoben verwirft, als endgültig von der Wissenschaft beseitigt gelten.’ (456): ‘Wenn also die Tübinger Schule uns in dem von ihr unangefochtenen Residuum der neutestamentlichen Geschichte und Literatur das äuβerste Maximum dessen bot, was die Wissenschaft sich heute selbst als streitig gefallen lassen kann, so bietet uns Bruno Bauer das Maximum dessen, was sie darin anfechten kann. Zwischen beiden Grenzen liegt die tat-sächliche Wahrheit.’
6 Malatesta, E., SJ, St John's Gospel 1920–1965 (AnBib 32; Rom, 1967)Google Scholar; van Belle, G., Johannine Bibliography 1966–1985 (BEThL 82; Leuven, 1988).Google Scholar
7 Lightfoot of Durham (ed. G. R. Eden, F. C. Macdonald; 1932) 135Google Scholar. Vgl. M. Hengel, Bishop Lightfoot and the Tübingen School on the Gospel of John and the Second Century (DUJ Extra Complimentary No. for Subscribers, January 1992: The Lightfoot Centenary Lectures to Commemorate the Life and Work of Bishop J. B. Lightfoot [1828–89], ed. J. D. G. Dunn) 23–51.
8 RE 3 23, 658. Weil dieses ‘Ganze’ heute verloren gegangen ist, ist unsere – immer noch junge – Disziplin so gefährdet.
9 A Schlatters Rückblick auf seine Lebensarbeit. Zu seinem hundertsten Geburtstag herausgegeben von Th. Schlatter (BFChTh Sonderheft: Gütersloh, 1952) 194Google Scholar; Neuer, W., Adolf Schlatter (R. Brockhaus Taschenbuch 101; Wuppertal, 1988) 121–2.Google Scholar
10 Holtzmann, S. dazu H. J., RE 3 21 (1908) 76–84.Google Scholar
11 Bauer, W., ‘Heinrich Julius Holtzmann’, in: ders., Aufsätze und Kleine Schriften (hg. v. G. Strecker; Tübingen, 1967) 285–341Google Scholar (erstmals erschienen als Heft 9 der Reihe ‘Aus der Welt der Religion’, Gieβen, 1932): ‘Holtzmann ist immer wieder zu den Aufgaben der systematischen Theologie und der Religionsphilosophie zurückgekehrt, solange und angespannt ihn auch das NT beanspruchen mochte; er hat im Bereich der praktischen Theologie nicht nur lehrend, sondern auch forschend sich betätigt …’ (293, 321). Trocmé, S. auch E., ‘L'æuvre scientifique de Heinrich Julius Holtzmann’, BSHPF 136 (1990) 55–62.Google Scholar
12 Hengel, M., ‘Die Septuaginta als “christliche Schriftensammlung” …’, in: M. Hengel/A. M. Schwemer, Hg., Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72; 1994) 182–284.Google Scholar
13 ICC; Edinburgh, 1920.
14 A Critical and Exegetical Commentary on the Book of Daniel (Oxford, 1929).Google Scholar
15 Merk, Otto, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit (MThSt 9; Marburg, 1972).Google Scholar
16 Smend, R., ‘Schleiermachers Kritik am Alten Testament’, in: Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien 3 (BevTh 109; München, 1991) 128–44.Google Scholar
17 Grundmann, W., Jesus der Galiläer und das Judentum (Leipzig, 2. Aufl. 1941)Google Scholar; Hirsch, E., Das Wesen des Christentums (Weimar, 1939) 158–65Google Scholar: Die Abstammung Jesu.
18 Zur modernen Diskussion um die Frage einer ‘Biblischen Theologie’ Stuhlmacher, s. jetzt P., Biblische Theologie des Neuen Testamentes 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus (Göttingen, 1992) 1–39Google Scholar; Hübner, H., Biblische Theologie des Neuen Testaments 1: Prolegomena (Götting0en, 1990).Google Scholar
19 K. Kupisch, RGG 3, 1.1058.
20 Weiβ, B., Aus neunzig Lebensjahren 1827–1918 (hg. v. Hansgerhard Weiβ; Leipzig, 1927)Google Scholar, der freilich betont, daβ er zuvor in Kiel in seinem Fach ‘Alleinherrscher’ war, ‘während es in Berlin von vielen gelesen wurde’. Später beklagte er sich über die Konkurrenz A. Schlatters (212).
21 S. die Zusammenstellung ihrer wesentlichen Veröffentlichungen bei Harris, H., The Tübingen School (Oxford, 1975) 279–83.Google Scholar
22 M. Hengel, op. cit. (Anm. 7).
23 Abhandlung von freier Untersuchung des Canons 1–5 (Halle, 1771–5).
24 Baur, F. C., Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien … (Tübingen, 1847) 77–389Google Scholar (327ff., 334ff., 371–89); ders., Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus … (Stuttgart/Tübingen, 1835)Google Scholar 136ff.; vgl. Zeller, E., Die äuβeren Zeugnisse über das Dasein und den Ursprung des vierten Evangeliums (TJ, 1845) 579–656.Google Scholar
25 Krüger, G., Das Dogma vom Neuen Testament (Gieβen, 1892) 4Google Scholar. Hervorhebung vom Verf.
26 S. dazu W. Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie (1897); s. auch ders., ‘Das theologische Studium und die Religionsgeschichte’, in: Vorträge und Studien (Tübingen, 1907) 64–83Google Scholar und neuerdings exemplarisch Gerd Lüdemann, ‘Die Religionsgeschichtliche Schule und ihre Konsequenzen für die Neutestamentliche Wissenschaft’, in: Hans Martin Müller, Hg., Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums (1992) 311–38,Google Scholar der sich seinerseits wieder auf die gröβere Studie von Räisänen, H., Beyond New Testament Theology. A Story and a Programme (London/Philadelphia, 1990)Google Scholar beruft. Räisänen möchte zwar Theologie und Historie nicht völlig auseinanderfallen lassen, läβt es aber völlig im Unklaren, wie er eine tragfähige Brücke herstellen will. Sein religiöser Utilitarismus im Anschluβ an Kaufman, G. D., The Theological Imagination. Constructing the Concept of God (Philadelphia, 1981) 13Google Scholar, wird dem Ernst der Gottesfrage in den biblischen Texten nicht gerecht: Das Ziel der Offenbarung ist gerade nicht ‘to serve human intellectual and religious needs’ (139). Das entspricht dem Denken unserer Konsumgesellschaft und ihren Zwängen. Es geht nicht um unsere ‘religiösen Bedürfnisse’, sondern – letztlich – um ‘Gottes freie Anrede’, seinen ‘Anspruch’ an uns, seine eigenmächtigen Geschöpfe: Hebr 1.1–2; Joh 1.1–18. Dahinter kann ich als christlicher Theologe nicht zurück. Der durchaus liberale Holtzmann, H. J., Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie (2. Aufl. 1911; hg. v. A. JülicherAV. Bauer, Tübingen, 1911)Google Scholar 1 S. viiiff., hat seinen Titel ‘Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie’ gegen Kritiker wie Wrede und Krüger überzeugend verteidigt.
27 Wobei ich eine (Literatur-)Geschichte des Urchristentums selbstverständlich für eine legitime Möglichkeit halte. Es ist eine Alternative, die unter einem anderen Blickwinkel geschrieben ist. Bei meiner eigenen Arbeitsweise liegt mir selbst diese Darstellung in Form einer ‘Geschichte’ näher. Die Perspektive der ‘Theologie’ ist die andere – nicht minder notwendige – Möglichkeit.
28 Vgl. Euseb. h.e. 5.28.4–5 über die christlichen Autoren von Justin bis Clemens Alexandrinus: έν οἷς ἅπασιν θεολογεῖται ό χριστός … τόν λόγον το θεο τόν χριστόν θεολογοντες. Zur Begriffsgeschichte s. F. Kattenbusch, ‘Die Entstehung einer christlichen Theologie. Zur Geschichte der Ausdrücke θεολογία, θεολογεῖν und θεολόγοζ, ZThK NF 12 (1930) 161–205Google Scholar (Nachdr. Darmstadt, 1962). S. auch Lampe, G. W. H., A Patristic Greek Lexicon (1961) 626–8.Google Scholar
29 Grundlegend war Ritschl, A., Die Entstehung der altkatholischen Kirche (2. durchgängig neuausgearbeitete Auflage; Bonn, 1857)Google Scholar in der er radikal mit der noch ganz an Baur orientierten 1. A. brach.
30 Geschichte des neutestamentlichen Kanons 1.1–2.2 (Erlangen, 1888–92)Google Scholar. S. dazu Swarat, U., Alte Kirche und Neues Testament. Theodor Zahn als Patristiker (Wuppertal/Zürich, 1991) 253–352.Google Scholar
31 Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius 1.1–2.2 (Leipzig, 1893–1904; 2. A. Reg. v. K. Aland, Leipzig, 1958)Google Scholar; Marcion. Das Evangelium vom unbekannten Gott / Neue Studien zu Marcion (Nachdruck der 2. A. TU 45; 1924 und der 1. TU 44 H.4; Darmstadt, 1960).
32 Vol. 4 K-N (1992) 514–16. Die Bibliographie nennt auβer Harnack 6(!) Titel. Vgl. dagegen den vorzüglichen Artikel Marcion/Marcioniten von B. Aland, TRE 22 (1992) 89–101 mit reichem Literaturverzeichnis, das aber ebenfalls zeigt, wie sehr wirklich bedeutsame Marcionmonographien nach Harnack fehlen. Fragwürdig ist die Monographie von R. J. Hoffmann, Marcion. On the Restitution of Christianity (AAR SR 46; 1984). Zum Apostolos Marcions Clabeaux, s. jetzt J. J., A Lost Edition of the Letters of Paul (CBQ.MS 21; Washington, 1989)Google Scholar und die Dissertation von Schmid-Tempel, U., Marcion und sein Apostolos. Der Text der Ausgabe und seine Bedeutung für die frühe Kirchengeschichte (Ev. Theol. Münster, 1994).Google Scholar
33 S. dazu jetzt Chr. Markschies, Valentinus Gnosticus (WUNT 65; 1992) und W. Löhr, Basilides und seine Schule (erscheint in WUNT, 1994). S. auch die grundlegende Unter-suchung von Pétrement, S., Le Dieu séparé: Les origines du gnosticisme (Paris, 1984)Google Scholar. Ihre Vermutung, daβ Kerinth eine Fiktion sei, kann ich freilich nicht teilen. Er gehört ähnlich wie Menander und Satornil zu den frühesten Zeugen einer beginnenden stark christlich beein-fluβten Gnosis um die Jahrhundertwende. Faye, S. schon E. de, Gnostiques et Gnosticisme (Paris, 1925)Google Scholar, das in Deutschland nahezu völlig übersehen wurde. Hier lieβ man sich lieber von den Spekulationen Reitzensteins verführen. Vgl. auch K. Beyschlag, Simon Magus und die christliche Gnosis (WUNT 10; 1974). Zum Einfluβ Runia, Philos s. D. T., Philo in Early Christian Literature (CRINT 3.3; Assen, 1993)Google Scholar; s.a. Martín, J. P., ‘Filón y las ideas Christianas del riglo II: estado de la cuestion’, RevBib 50 (1988) 263–94.Google Scholar
34 Erste Beispiele sind Lukas (1.1–4) und der Hebräerbrief.
35 Hengel, S. dazu M., Die johanneische Frage (WUNT 67; Tübingen, 1993) 161–85, 200–1, 284–7.Google Scholar
36 Eine erstaunliche Kreativität im (Er-)Finden neuer angeblich ganz früher Quellen zeigt Crossan, J. D., The Historical Jesus (San Francisco, 1991)Google Scholar 427ff. Zwischen 30 und 80 sind es allein 21 Texte. Es geht mir hier wie den Männern von Nazareth: πόθεν τούτῳ τατα…;
37 S. o. S. 328, Anm. 25.
38 Vgl. Baur, F. Ch., Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien (Tübingen, 1847)Google Scholar iv-v und andererseits J. B. Lightfoot, in: Hengel, M., Durham University Journal: The Lightfoot Centenary Lectures (1828–1889)Google Scholar, 43 zum 4. Evangelium.
39 Wobei Kol vielleicht als achter hinzuzurechnen ist – aber eben nur vielleicht. Das historische Rätsel dieses Briefes läβt sich mit unserem Wissenstand m.E. nicht lösen.
40 Vgl. Kümmel, W. G. am Ende seines Forschungsüberblicks: Das Neue Testament im 20. Jahrhundert (SBS 50; 1970) 146Google Scholar: ‘von weitgehend anerkannten Resultaten kann man nur in beschränktem Maβe reden’, s. dazu P. Stuhlmacher (Anm. 18) 13ff., 29–30.
41 Jewett, R., A Chronology of Paul's Life (Philadelphia, 1979)Google Scholar; Lüdemann, G., Paulus als Heidenapostel 1: Studien zur Chronologie (FRLANT 123; 1980)Google Scholar; Hyldahl, N., Die paulinische Chronologie (AThD 19; Leiden, 1986)Google Scholar; R. Riesner, Der frühe Paulus (erscheint in WUNT, 1994).
42 S. die schöne Studie von Wedderburn, A. J. M., The Reasons for Romans (Edinburgh, 1988).Google Scholar
43 Karl Barth schreibt in der fragmentarischen Schluβnotiz seiner groβartigen Johannesvorlesung: ‘Anstöβig durch Beharrlichkeit des einen Tones’ (398). Die beiden Monographien von Ruckstuhl, E., Die literarische Einheitlichkeit des Johannesevangeliums (NTOA 5; Freiburg/Göttingen, 1987Google Scholar; Erweiterter Nachdruck seiner Studie von 1951) und ders./P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium (NTOA 17; 1991) gehören zur Pflichtlektüre für jeden, der heute im 4. Evangelium literarkritisch arbeiten will. Es ist leichter, diese beiden Meilensteine in der Forschung zu übersehen als zu widerlegen. Zur Dialektik s. M. Hengel (Anm. 35), Index S. 466 s.v.
44 Schenk, W., Art. ‘Korintherbriefe’, TRE 19 (1990) 620–32Google Scholar. Den Deuteropaulinen sollten freilich beide Briefe seit Kol und Eph vorgelegen haben! Das ‘Briefwunder’ der Neukonstruktion müβte daher ganz früh erfolgt und rasch verbreitet worden sein. Vgl. schon 1 Clem 47 u.ö. S. dagegen K. Aland, Neutestamentliche Entwürfe (ThB 35; 1979) 302–50: ‘Das einheitliche Ur-Corpus der Paulinen, das an einer Stelle im 1. Jahrhundert zusammengestellt wurde und von dem alle weitere Überlieferung abhängt, bedeutet ein jenseits aller Realität entstandenes Wunschprodukt’ (348–9).
45 Horn, F. W., ‘Christentum und Judentum in der Logienquelle’, EvTh (1991) 344–64Google Scholar (§45), im Anschluβ an S. Schulz und Lührmann, D., aber mit noch weitergehenden Differenzierungen, s. jetzt auch J. S. Kloppenborg, The Formation of Q (Philadelphia, 1987)Google Scholar. Durch die ahistorische formalisierende Methode, die das palastinisch-jüdische Milieu verdrängt und Texte, die Jahrhunderte entfernt liegen und aus einem ganz anderen literarischen Milieu stammen, als Parallelen heranzieht, geht die eigentliche Intention der Q-Überlieferung, hinter der m.E. der theologisch denkende Kopf eines Jesusjüngers und keine poetischen Kollektive stehen, verloren. Die Q-Forschung ertrinkt heute in nicht mehr verifizierbaren und z.T. absurden Hypothesen. F. W. Horn, op. cit. 345 Anm. 3 zitiert A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament (6. Aufl. 1906) 322 (= 7. A. 1931, 348): ‘Ein nebelhaftes Gebilde, wie Q es nun einmal ist, eignet sich nicht zum Fundament literargeschichtlicher Konstruktionen’, vgl. 7. A. 341: ‘Ich wage nicht, die Entwicklungsgeschichte von Q bis zu seinem Verschwinden in den kanonischen Evangelien … näher zu umschreiben’, dagegen sprechen schon ‘die Differenzen ihrer Rekonstruktion bei Wellhausen und Harnack, … W. Haupt … oder A. Meyer’: Wir haben hier nicht viel dazugelernt!
46 Zu Lagrange als Alttestamentler s. H. W. Seidel, Die Erforschung des Alten Testaments in der Katholischen Theologie seit der Jahrhundertwende (BBB 86; 1993) 72ff., 85ff., 101ff. u.6. Er nennt L. den ‘Begründer historisch-kritischer Arbeiten am Alten Testament’ auf katholischer Seite.
47 Murphy-O'Connor, J., The École Biblique and the New Testament: A Century of Scholarship (1890–1990) (NTOA 13; Freiburg/Göttingen) 6–28Google Scholar. Ein Satz sollte uns deutsche Neutestamentler nachdenklich machen (S. 28): ‘German scholarship paid little or no attention to Lagrange's work in New Testament. Moreover radical German critics rarely if ever visited the Holy Land, where they could have made personal contact with Lagrange; contact with reality apparently was not considered to be either useful or necessary.’ S. auch seine Bibliographie S. 153–61. In der 2. A. der RGG war ihm noch ein Artikel gewidmet, in der 3. nicht mehr. Letzteres gilt auch für die TRE. Auch sein Name findet sich nicht einmal im Index von Bd. 1–17 (s.o. S. 325)! Dabei kann seine Bedeutung für die Katholische Exegese in den so kritischen ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s. gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er starb im selben Jahr wie A. Schlatter, 1938.
48 Tübingen, 1909; Nachdr. Darmstadt, 1967.
49 BTHh 10; Tübingen, 1934, 2. A. 1964.
50 S. dazu die Würdigung von Strecker, G., ‘Walter Bauer – Exeget, Philologe, Historiker’, in: Eschaton und Historie. Aufsätze (Göttingen, 1979) 360–6.Google Scholar
51 S. dazu Strecker, G., TRE 9 (1982) 15–18Google Scholar; ders., ‘C. H. Dodd, Person und Werk’, KuD 26 (1980) 50–8.Google Scholar
52 S. meinen Nachruf, der im nächsten Band der PBA erscheinen wird.
53 S. dazu M. Hengel (Anm. 7) 32–8.
54 S. dazu die knappen Hinweise von Hope, C. A., in: The Australian Centre for Egyptology 1 (1990) 43–54Google Scholar (44, 51, 53); 2 (1991) 41–50 (42–3). Hoffentlich erhalten wir bald eine Übersicht über alle gefundenen neuen Texte und ihren Inhalt. Das Verzeichnis der in einer ‘Genizah’ des Sinaiklosters entdeckten Texte, das schon um 1980 erscheinen sollte, läβt heute noch auf sich warten: vestigia terrent!
55 G. H. R. Horsley, Hg., Bd 1–5 (The Ancient History Documentary Research Centre Macquarie University, 1981–9), S. R. Llewelyn/R. A. Kearsby, Hg., Bd. 6 (1992).
56 Zum vieldiskutierten Problem der Mysterien s. A. J. M. Wedderburn, Baptism and Resurrection (WUNT T/44,1987); grundlegend jetzt Burkert, W., Antike Mysterien (München, 1990)Google Scholar = Ancient Mystery Cults (Cambridge MA/London, 1987)Google Scholar. Zum Christentum: ‘Die Unter-schiede bleiben radikal’ (10–11), s. auch 64–5, 85–6, 93ff. Eine Pionierleistung war die Übersetzung der Zauberpapyri von Betz, H. D., The Greek Magical Papyri (Chicago/London, 1986).Google Scholar
57 Die 26. Auflage 1979 des Nestle/Aland zählte noch 89 Nummern. Hinzu kommen jetzt ca. 300 Majuskeln, 1979 zählte man 274 Nummern (darunter ca. 20 Doppelnummern). Dazu treten die alten Übersetzungen, insbesondere die im Editionsprozeβ befindliche Vetus Latina. Tichendorf ‘hatte einen Payrus aus dem 7. Jahrhundert (teilweise) benutzt und auβerdem rund 50 Unzialen’, Zitat: K Aland, Konstantin v. Tischendorf (1815–1874). Neutestamentliche Textforschung damals und heute (SSAW.PH 133.2; 1993) 41, 45.
58 S. K. Aland/B. Aland, Der Text des Neuen Testaments (2. Aufl. 1989, 30–46, 67–81); Novum Testamentum Graece editione uicesima septima reuisa (1993) 689.
59 Sollten wir nicht den alten guten Brauch wiederaufnehmen und den Doktoranden raten, ihre wissenschaftliche Laufbahn mit einer soliden, vornehmlich philologischen Arbeit zu beginnen?
60 E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.-A.D. 135): A New English Version 1–3.1 and 2 (revised and edited by Geza Vermes and Fergus Millar; Literary Editor Pamela Vermes; Organizing Editor Matthew Black; ab Bd. 3 auch Martin Goodman; Edinburgh, 1983–7). S. dazu Hengel, M., ‘Der alte und der neue Schürer’, JJS 35 (1990) 19–64.Google Scholar
61 Ausgangspunkt sind hier die Arbeiten von Hermann Usener (1834–1905), seinem Schüler Albrecht Dieterich (1866–1908) und Paul Wendland (1864–1915), später erhielt R. Reitzenstein (1861–1931) einen allzugroβen Einfluβ.
62 Zur Religionsgeschichtlichen Schule s. Lüdemann, G./Schröder, Martin, Die Religions-geschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation (Göttingen, 1987)Google Scholar. Zu ihrem bedeutsamsten Vertreter W. Bousset s. Verheule, A. F., Wilhelm Bousset. Leben und Werk (Amsterdam, 1973).Google Scholar
63 S. dazu die 1964 in Leiden begonnene Reihe Pseudepigrapha Veteris Testamenti Graece, die neue kommentierte englische Übersetzung Charlesworth, J., ed., The Old Testament Pseudepigrapha 1–2 (New York, 1983/5)Google Scholar und das unentbehrliche Hilfsmittel einer Kon-kordanz, das uns Denis, A.-M. geschenkt hat: Concordance Grecque des Pseudépigraphes d'Ancien Testament (Louvain-la-Neuve, 1987)Google Scholar; s. schon ders., Introduction aux Pseudépi-graphes grecs d'Ancien Testament (SVTP1; Leiden, 1970).Google Scholar
64 Reynolds, J./Tannenbaum, R., Jews and Godfearers at Aphrodisias (Cambridge Philological Society, Suppl. Vol. 12; 1987).Google Scholar
65 Nur ein Beispiel unter vielen sind die Joh 2.6 erwähnten Steingefäβe aus der Zeit zwischen Herodes und 70 n.Chr. Dazu Deines, R., Jüdische Steingefäβe und pharisäische Frömmigkeit (WUNT11/52; Tübingen, 1993).Google Scholar
66 Die rhetorische Frage Tertullians, praesc. haer. 7.9: Quid ergo Athenis et Hierosolymis? könnte man gegen den Autor auch positiv beantworten: Beide verbindet ihre einzigartige geistesgeschichtliche Bedeutsamkeit.
67 S. dazu die groβe Studie von Sanders, E. P., Judaism, Practice and Belief 63 B.C.E.-66 C.E. (London/Philadelphia, 1992)Google Scholar; M. Hengel/R. Deines, ‘E. P. Sanders’ “Common Judaism”. Jesus and the Pharisees', erscheint 1994 in JThS.
68 S. dazu Mildenberg, L. in: Weippert, H., Palästina in vorhellenistischer Zeit (Handbuch der Archäologie in Vorderasien 2.1; München, 1988) 721–8Google Scholar; Meshorer, Y./Qedar, Sh., The Coinage of Samaria in the Fourth Century BCE (Jerusalem, 1991).Google Scholar
69 P. Schäfer hat die Texte in einer synoptischen Edition, durch eine Konkordanz und durch Übersetzungen zugänglich gemacht. Er bereitet jetzt die Edition der magischen Texte aus der Kairoer Geniza vor.
70 Dazu C.-J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56; 1991).
71 In jüngster Zeit erschienen zwei interessante – und sehr verschiedene – jüdische Paulus-studien, Segal, A. F., Paul the Convert (New Haven/London, 1990)Google Scholar und – als posthumes Vermächtnis – von dem Berliner Religionsphilosophen Taubes, J., Die politische Theologie des Paulus (hg. von A. und J. Assmann; München, 1993)Google Scholar. Sie setzen die von Klausner, J., Von Jesus zu Paulus (Jerusalem, 1950 [1939]Google Scholar) und Baeck, Leo, ‘The Faith of Paul’, JJS 3 (1952)Google Scholar, deutsch ‘Der Glaube des Paulus’, in: ders., Paulus, die Pharisäer und die Juden (Frankfurt a.M., 1961), begonnenen eindrucksvollen jüdischen Paulusuntersuchungen fort. S. auch D. R. Schwartz, Studies in the Jewish Background of Christianity (WUNT 60; 1992) 1–26. Daβ uns daneben auch haβerfüllte, absurde Polemik begegnet, so Maccoby, H., The Mythmaker: Paul and the Invention of Christianity (London, 1986)Google Scholar, u. ders., Paul and Hellenism (London, 1991)Google Scholar, ist die Kehrseite dieses Interesses.
72 In der Antike gait an sich in der Regel das Ältere als das Bessere, s. P. Pilhofer, PRESBYTERON KREITTON. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgesckichte (WUNT 11/39; 1990). Der Begriff καινός im Urchristentum hat freilich keine ‘weltgeschichtliche’, sondern eschatologische Bedeutung.
73 Im Grunde seit dem Ausgang des 4. Jh.s n.Chr. Es war der – unerwartete – Gewinn der politischen Macht, der zu deren intolerantem Miβbrauch führte.
74 Die einzige groβe Kommentarreihe in deutscher Sprache, die neben Herders Kommentar wirklich ‘blüht’, ist eben der evangelisch-katholische Kommentar.
75 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 1–3 (HThK 4; 1965–75); R. E. Brown, The Gospel according to John 1–2 (AncB; 1966).
76 Reuβ, J., Matthäus-Kommentare aus der griechischen Kirche (TU 61 [V. 6]; Berlin, 1957)Google Scholar; Johannes-Kommentare aus der greichischen Kirche (TU 89; Berlin, 1966)Google Scholar; Lukas-Kommentare aus der griechischen Kirche (TU 130; 1984); Staab, K., Pauluskommentare aus der griechischen Kirche (NTA 15; Münster, 1933Google Scholar, 2. A. 1984). Diese Bände gehören zu den wichtigsten neutestamentlichen Veröffentlichungen der letzten 60 Jahre.
77 Eine Vorarbeit ist die Hermeneutik der Schriftauslegung der Kirchenväter von I. Panagopoulos, Η ΕΡΜΗΝΕΙΑ ΤΗΣ ΑΓΙΑΣ ΓΡΑΦΗΣ ΣΤΗΝ ΕΚΚΛΗΣΙΑ ΤΩΝ ΠΑΤΕΡΩΝ Bd. 1 (Athen, 1991). Eine englische Übersetzung ist in Vorbereitung.
78 Noormann, R., Paulus in frühchristlicher Zeit. Studien zu Rezeption, Verständnis und Wirkung paulinischer Theologie in den Werken des Irenäus von Lyon (Diss. theol. Kirchl. Hochschule Berlin, 1992).Google Scholar
79 Friedrich Engels, der in radikaler Skepsis die letzten Reste historischer Wahrheit über das Urchristentum zwischen der Tübinger Schule und Bruno Bauer suchte, bemerkte – fast profetisch – dazu: ‘Neue Funde namentlich in Rom, im Orient, vor all em in Ägypten werden vielmehr dazu beitragen (sc. zur Auffindung dieser Wahrheit) als alle Kritik’, in: op. cit. (Anm. 5) 456. Die Funde wurden in reichem Maβe gemacht, freilich mit einem ganz anderen Ergebnis, als von Engels erwartet.
80 Gal 2.5,14, s. dazu O. Hofius, Paulusstudien (WUNT 51; 1989) 155–6.
81 Friedrich Engels bezeichnet in einem Brief vom 27.10.1890 (Ausgewählte Schriften Bd. 2 [Berlin, 1952] 465)Google Scholar den ursprünglichen vorgeschichtlichen Bestand der Religion als ‘Blödsinn’: Daher ist ‘die Geschichte der Wissenschaften … die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blödsinns, respektive seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blödsinn’. S. dazu Burkert, W., Gnomon 41 (1961) 116–17Google Scholar, der in der Besprechung von I. Trencséniyi-Waldapfel, Untersuchungen zur Religionsgeschichte (Amsterdam, 1966), der sich auf Engels beruft, die Gegenfrage stellt: ‘Sollte mit der endlich erreichten “Wissenschaft im strengen Sinne” nichts gewonnen sein als Blödsinnshistorie?’
82 1. Kor 13.9–10.
83 S. dazu Gese, H., ‘Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte’, in: Alttesta-mentliche Studien (Tübingen, 1991) 249Google Scholar: ‘Ein Text ist so zu verstehen, wie er verstanden sein will, d.h. wie er sich selbst versteht.’ S. auch sein Schluβwort zu: ‘Der auszulegende Text’, in: op. cit., 282: ‘Gerade die geschichtliche Tiefe müβte den Heutigen den Text eröffnen. Wir empfinden wohl das Historische als das uns Fremde; nehmen wir es aber wahr als das Eigenste, das unsere Väter im Glauben uns bezeugten und übergaben, löst sich unsere Enge und Isolierung. Wir werden durch ihr Erbe zum ganzen Menschen und entgehen “mit beschnittenen Herzen und Ohren” der Selbstbespiegelung, die nichts nütze ist, auch wenn sie an frommen Texten geschieht.’
84 E. Troeltsch, ‘Über historische und dogmatische Methoden in der Theologie’, in: G. Sauter, Hg., Theologie als Wissenschaft (ThB 43; 1971) 105–27 (108). S. dazu Stuhlmacher, P., Vom Verstehen des Neuen Testaments (GNT 6; Göttingen, 1986)Google Scholar 24ff.; Hengel, M., Zur urchristlichen Geschichtsschreibung (1979) 107Google Scholarff.
85 Lausberg, H., Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft (2 Bde.; München, 1960)Google Scholar; ders., Elemente der literarischen Rhetorik (München, 1963)Google Scholar. Die so so reiche rabbinische Literatur nennt vornehmlich nur drei Grundformen: Halakhah, Maschal und Ma‘aśäh.
86 S. dazu das überlegte Urteil eines Kenners der Materie Classen, C. J., ‘Paulus und die antike Rhetorik’, ZNW 82 (1991) 1–33Google Scholar; ders., ‘St Paul's Epistles and Ancient Greek and Roman Rhetoric’, in: Rhetorica 10 (1992) 319–44Google Scholar. Beide Aufsätze enthalten kritische Hinweise auf nahezu alle wesentlichen Untersuchungen.
87 Perelman, Ch./Olbrechts-Tyteca, L., Traité de l'argumentation (Bruxelles, 2. Aufl. 1970)Google Scholar; Siegert, F., Argumentation bei Paulus gezeigt an Röm 9–11 (WUNT 34; 1985).Google Scholar
88 Dazu Siegert, F., Drei hellenistisch-jüdische Predigten (WUNT 20; 1980)Google Scholar; ders., Drei hellenistisch-jüdische Predigten. Philon, Ps., ‘Über Jona’, ‘Über Jona’ (Fragment) und ‘Über Simson’ (WUNT 61; 1992).Google Scholar
89 Vgl. dazu den Vortrag, den Joh. Weiβ vor dem ‘Badischen Wissenschaftlichen Predigerverein’ zu Karlsruhe am 1. Juni 1908 gehalten hat unter dem Thema: ‘Die Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft’ (Göttingen, 1908). Abgesehen von dem damals noch verständlichen Optimismus, den ich heute so nicht mehr teilen kann, sind die Probleme zu einem guten Teil dieselben geblieben (oder es wieder geworden), s. S. 16ff.: ‘Zu der Frage nach der Rhetorik und der rednerischen Ausbildung des Paulus’ (Hervorhebung vom Vf.). Vgl. auch S. 33 zur ‘überreizten Hyperkritik’ und zu einzelnen ‘Zeichen der Erweichung des kritischen Sinnes’, exemplifiziert am Epheserbrief, der aus der Paulusschule stammt.
90 Op. cit. 130, = L (1796–99) Nr. 27.