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Amba und Amerikaner: Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft

Published online by Cambridge University Press:  28 July 2009

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Die Möglichkeit, soziale Universalien zu finden, übt seit langem schon einen merkwürdigen Reiz auf Soziologen aus. Man hat diesen Universalien viele Namen gegeben. Heute heißen sie in der Regel »funktionale Vorbedingungen von Gesellschaft« (1); im Anschluß an die ältere Tradition und in stärker philosophisch gefärbter, damit auch absichtlich reifizierender Weise könnte man von »Grundbedingungen der Vergesellschaftung« sprechen (2); vielleicht bezeichnet auch das, was Max Weber ohne voile Klarheit »Soziologische Grundbegriffe« nannte, solche Universalien (3) — denn immer geht es dabei um den Versuch, Phänomene zu finden, die zumindest als solche von allem historischen Wandel unberührt bleiben. Der Versuch ist so sinnlos nicht. Er soil ja nicht die Historizität von Gesellschaft leugnen, sondern deren Analyse die richtige Richtung weisen, indem er gewissermaßen das Substrat des Wandels bezeichnet: Die Familie, die soziale Schichtung, die Religion sind (vielleicht) universell; gewandelt haben sich jedoch deren jeweilige Formen, und die Probleme der Forschung liegen in der Untersuchung dieser historischen Formen. Wenn es gelänge, soziale Universalien zu finden, so wären diese gewissermaßen die Pflöcke, an die sich alle historisch variablen Elemente sozialer Strukturen anbinden ließen. Eine der wichtigsten Thesen dieser Art ist nun die, daß alle menschlichen Gesellschaften Strukturen von Macht und Herrschaft kennen. Die Konsequenzen dieser These sind soziologisch wie politisch erheblich. Politisch würden sie die Sinnlosigkeit utopischer Bemühungen begründen; denn es scheint, daß zumindest alle klassischen Utopien Herrschaftslosigkeit als eines ihrer zentralen Konstruktionselemente kennen (4). Die verheerenden Folgen der These für marxistische Gesellschaftstraume liegen ja auf der Hand. Soziologisch ließe sich aus der Universalität von Herrschaft die Notwendigkeit einer ganzen Reihe weiterer Phänomene ableiten. Insbesondere lassen sich — wie mir scheint — sowohl Ungleichheiten sozialer Schichtung als auch soziale Konflikte auf Herrschaft zurückführen (5). Dies sind überdies nur die dramatischsten Folgen der Universalitäts-These.

Type
Organisation der Macht, Macht der Organisation
Copyright
Copyright © Archives Européenes de Sociology 1964

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References

(1) »Functional requisites« oder »functional prerequisites«. So wohl zuerst beiden Parsons-Schülern Aberle, Cohen, , Davis, , Levy, , Sutton, : »The Functional Prerequisites of a Society«, Ethics, IX (1950).Google Scholar Parsons selbst hat die Formulierung dann aufgenommen: The Social System (Glencoe 1951), S. 26ff.Google Scholar

(2) Dies entspräche etwa Denkweise, G. Simmels in dem Exkurs »Wie ist Gesellschaft möglich?«, Soziologie« (Berlin 1958).Google Scholar Die Formulierung »Grundbedingungen der Vergesellschaftung« wird heute vor allem von H. Popitz bevorzugt.

(3) Diese Vermutung drangt sich darum auf, weil »Grundbegriffe« ja der Natur der Sache nach nicht »historische Kategorien « sein können. Doch ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Interpretation und Kritik des problematischen ersten Kapitels von Wirtschaft und Gesellschaft.

(4) Die Einschränkung »klassische Utopien« soll dem naheliegenden Einwand begegnen, daß »moderne Utopien« à la Huxley oder Orwell sehr wohl Herrschaftsstrukturen kennen. Hier ist vor allem an die »positiven Utopien« in Literatur und politischer Theorie gedacht.

(5) Dies habe ich in zwei Schriften zu tun versucht: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (Tübingen 1961)Google Scholar; Soziale Klassen und Klassen konflikt in der industriellen Gesellschaft (Stuttgart 1957).Google Scholar

(6) Insofern liegt die Bewährung des Postulats in seiner wissenschaftlichen (und wohl auch politisch-theoretischen) Fruchtbarkeit. Vgl. dazu meine demnächst erscheinende Studie Der Herrschaftsvertrag.

(7) Die beiden eindringlichsten Darstellungen dieser Form der Herrschaftslosigkeit dürften Marx' Beschreibung des Menschen vor der Entfremdung in den Pariser Manuskripten Nationalökonomie und Philosophie sowie Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft sein. Die Rede von der »Sozialstruktur indischer Gemeinwesen«, also von der Realität der Urgesellschaft in der Feme, ist geradezu ein τπος bei Marx. Daß die hier »organisch« genannte Form bei Durkheim gerade nicht so, sondern »mechanisch« heißt, bedarf wohl nicht der Hervorhebung.

(8) Marx, K., Manifest der Kommunistischen Partei (Berlin 1947), S. 24f.Google Scholar

(9) Vgl. für Literaturnachweise jetzt das Werk von Christmann, A., Wirtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit (Köln 1964).Google Scholar

(10) Gewisse explizite Hinweise auf eine solche Auffassung gibt H. Albert in seinem Aufsatz: Marktsoziologie und Entschei dungslogik. Objektbereich und Problemstellung der theoretischen Nationalökonomie, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 114. Band 1958.Google Scholar Vgl. im übrigen die unten zu diesem Aufsatz erwähnte Literatur.

(11) Middleton, J. u. Tait, D., Tribes Without Rulers (Oxford 1958).Google Scholar

(12) Genauer müßte man hier im Tempus des Perfekt, ja des Plusquamperfekt sprechen, denn in fast allen Fällen hatte schon die Kolonialverwaltung zentrale Instanzen geschaffen, die nun natürlich in den unabhängig gewordenen Nationen noch ausgebaut werden.

(13) Winter, E., “The Aboriginal Political Structure of Bwamba”, in Tribes Without Rulers (op. cit.).Google Scholar

(14) E. Winter, ibid., S. 139.

(15) Eine der Schwierigkeiten bei ethnologischen Beschreibungen liegt ja stets in der Unmöglichkeit ihrer Kontrolle. Es handelt sich bei ihnen um das Paradox nicht-intersubjektiver Empirie; denn selbst wenn man sich der Mühe eines neuerlichen Besuches bei dem beschriebenen Stamm unterzöge, ließen sich alle Unterschiede mit der zeitlichen Differenz wegdiskutieren. Wir müssen also auch hier Winters Darstellung hinnehmen.

(16) Die Begriffe sind: »aboriginal political structure«, »positions of authority«, »exercise of authority«.

(17) Es mag iibrigens dem Verständnis dieser Zusammenhänge helfen, wenn man hier an die Situation Deutschlands vor 1871 — kulturelle Einheit bei politischer Zersplitterung — denkt; wenngleich natürlich die Tradition ausgebildeter politischer Institutionen auch auf der Ebene des Reiches erhebliche Unterschiede begründet.

(18) Eine Definition der Herrschaft vermeide ich an diesem Punkt bewußt; doch hat die Formulierung der Frage offenbar Implikationen für diese.

(19) Für Hinweise vgl. Mair, L., Primitive Government (Harmondsworth 1962).Google Scholar

(20) Es gibt andere Definitionen des Traditionalismus; doch scheint mir die hier angedeutete Definition durch verkürzte Herrschaftsausübung nicht dieschlechteste.

(21) Die Vorstellung ist aus der Antike ja vertraut, insbesondere aus der Idee der »Heroen«. Deren Rolle — und die der »Weisen« als Verfassungsschöpfer — vertrüge in unserem Zusammenhang eine wahrscheinlich fruchtbare Analyse.

(22) Winter, E., op. cit. S. 157f.Google Scholar Ganz ohne den Verdacht gewisser innerer Widersprüche in Winters Beschreibung kann man diesen Absatz nicht lesen: Wenn es die Möglichkeit gibt, sich auf königliche Ansprüche zu berufen, kann man zumindest nicht von einem originären System der Segmentierung sprechen. Doch ist dies hier nicht näher zu prüfen.

(23) Der Ausdruck »radikaler Wandel« ist hier immer im Kontrast zu allmählichem Wandel durch bloße Anwendung von Normen zu verstehen. Vgl. dazu unten Abschn. V.

(24) Vor allem Ogburn, W. F., Social Change (New York 1922)Google Scholar und Sorokin, P., Social and Cultural Dynamics (New York 1937)Google Scholar haben versucht, solche Maße zu entwickeln.

(25) Riesman, D., Glazer, N., Denney, R., The Lonely Crowd (New York 1953), S. 246ff.Google Scholar

(26) Auch hier ist natürlich keineswegs als sicher anzunehmen, daß Riesmans Darstellung zutrifft. Wenngleich in diesem Fall die Kontrolle an Hand konkurrierender Analysen sowie vorhandener unabhängiger Daten möglich wäre, wollen wir für die Zwecke dieser Erörterung auf eine solche Kontrolle verzichten.

(27) Riesman, D., op. cit. S. 253.Google Scholar

(28) Vgl. zu dem Kontrast Riesman-Mills sowie der ganzen Frage konkurrierender Analysen der amerikanischen Politik meinen Aufsatz, : »Die Politik der Massen-gesellschaft«, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, IX (1964).Google Scholar

(29) Riesman, D., op. cit. S. 255.Google Scholar

(30) Unter diesem Gesichtspunkt könnte eine nähere Analyse der Rolle Präsident Kennedys und vor allem der Breite seiner Wirkung fruchtbar sein: War dies ein Phänomen der »Sehnsucht nach Führung« (um mit Bundeskanzler Erhard zu sprechen), also der Hoffnung, aus dem Konservatismus der Selbstregulierung herauszukommen?

(31) Ich nehme hier Riesmans Formulierungen auf, obwohl sie in umgangssprachlichen Wendungen erhebliche Ungenauigkeit verbergen: welche »Dinge«? und was heißt »in Gang bringen« und »aufhalten«? Dies ist einer der Punkte, an denen der Vorwurf einer gewissen Oberflächlichkeit Riesman trifft.

(32) Hier drängt sich die berühmt berüchtigte Frage der amerikanischen »Geschichtslosigkeit» auf. Vgl. dazu meine Studie, Die angewandte Aufklärung (München 1963), S. 110f.Google Scholar

(33) Im Einklang mit Max Webers Definitionen unterscheide ich Herrschaft als sozial normiertes Verhältnis von Macht als bloß faktischem Verhältnis. Insofern verleiht nur Herrschaft stets »Befugnisse«.

(34) Daß die drei Gewalten vor allem in modernen Gesellschaften nicht einfach identisch sind mit den Institutionen etwa von Gerichtswesen, Regierung und Parlament, ist wichtig zu betonen, um Mißver-ständnisse zu vermeiden.

(35) John Lockes Definition der politischen Macht scheint mir ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt. Vgl. Of Civil Government, hrsg. v. Kirk, R. (New York 1955), S. 2Google Scholar: »Political power, then, I take to be a right of making laws with penalties of death, and consequently all less penalties, for the regulating and preserving of proerty, and of employing the force of the community in the execution of such laws, and in the public good«.

(36) Der Nutzen von Webers Typologie scheint rair begrenzt; insbesondere fällt der Gedanke charismatiscber Herrschaft — darum vielleicht der wichtigste der Typologie — aus der Reihe, ja aus der soziologischen Analyse überhaupt heraus. Für rein klassifizierende Zwecke scheint mir eine Aufgliederung wie die hier vorgeschlagene ebenso nützlich.

(37) Allenfalls in sozialen Grenzsituationen, wie z.B. Situationen der Gründung von Staatswesen, also dem »Heroenzeitalter«, ist die Beschränkung auf normsetzende Funktionen sinnvoll denkbar; auch dann schließt jedoch die Setzung von Nomen die von Sanktionsnormen ein.