Published online by Cambridge University Press: 02 March 2023
DIE FRÜHEN AVANTGARDEN waren gleichzeitig euphorisiert und abgestoßen vom Komplex des Prothetischen, also der Idee und der Praxis einer (medien)technischen Erweiterung und Umarbeitung des menschlichen Körpers. Im Folgenden werde ich am Beispiel Raoul Hausmanns zeigen, dass diese ambivalente Haltung der Prothetik gegenüber ein Echoraum der im Ersten Weltkrieg einsetzenden, umfassenden medizinischen und sozialtechnischen Versorgung von Kriegsversehrten mit Prothesen und ihrer öffentlichen Präsenz war. Dabei steht weniger das Motiv des Prothesenträgers im Mittelpunkt meiner Überlegungen als Verfahren und Körpermodelle der Prothetik. Hausmanns künstlerische Strategien versinnlichen jene Ambivalenzen, die sich aus einer Dialektik der Extension des natürlichen Körpers und seiner technischen Zurichtung, zwischen Selbstverbesserung und sozialer Passung, zwischen einem Begehren nach Ganzheit und systematischer Zergliederung ergeben. Die Oszillation der Avantgarden zwischen einer Begeisterung für das revolutionäre Potential der Umarbeitungen der Sinneslandschaft und ihren apokalyptischen Visionen einer Technisierung und Mechanisierung des Menschen liegt nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass die technische Erweiterung des Körpers ohne seine Disziplinierung und Zurichtung nicht zu haben ist. Die Avantgarden arbeiteten sich außerdem an der offiziellen Bildpolitik rund um den versehrten Soldatenkörper ab. Denn Prothesen wurden im Rahmen der staatlichen „Krüppelpädagogik” zu Symbolen der Sorge des Vaterlandes um seine Kriegsversehrten: Unzählige Zeitungsartikel kommentierten zwischen 1915 und 1920 die staatlichen Bemühungen um medizinische und soziale Versorgung der „beschädigten Helden”. In Broschüren und populären Ausstellungen zirkulierten massenhaft Bilder von glücklich wiederzusammengesetzten Veteranen. Zudem war die öffentliche Berichterstattung geprägt von „Superkrüppeln”, also von Kriegsversehrten, die ihre Behinderung nicht nur meisterten, sondern als besonders willensstark, geschickt und begabt präsentiert wurden. Im Widerspruch dazu standen alltägliche Begegnungen mit den Versehrten: Entgegen der staatlichen Propaganda konnten bei weitem nicht alle in die Erwerbsarbeit reintegriert werden, und in den Großstädten prägten bettelnde Ex-Soldaten das Straßenbild. Die Kriegsversehrtenverbände organisierten zudem öffentlichkeitswirksame Demonstrationen, in denen sie eine bessere finanzielle Versorgung und die symbolische Anerkennung ihres Diensts am Vaterland forderten. In vorderster Reihe wurden die am stärksten Versehrten präsentiert.
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