Wider die Deskription: Brecht und der Diskurs des Wohnungselends
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
Als Friedrich Engels 1844 Zur Lage der Arbeiterklasse in England zu Papier brachte, konnte er nicht ahnen, dass er mit seiner Untersuchung proletarischen Wohnungselends eine dokumentarische Tradition auf den Plan rufen würde, die bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Bestand haben sollte. Nicht nur formierte sich eine Armada sozialer Untersuchungen, die sich der Dokumentation des Elends annahm. Zeitgleich verschrieb sich mit dem Naturalismus eine ganze Epoche der Beschreibung und Dramatisierung katastrophaler Wohnungsverhältnisse. Sowohl die Naturalisten wie auch die frühen Sozialforscher verpflichteten sich einer “faktographischen Schreibweise.” Sie durchstreiften Armutsquartiere, besuchten schadhafte Wohnungen, wälzten Statistiken, versandten Fragebögen und führten Interviews, um ein “authentisches” Bild der Lage zu entwerfen.
Markant ist dabei vor allem, dass diese Arbeiten die Grenzen zwischen literarischen und nicht-literarischen Repräsentationen systematisch unterwanderten: literarische Texte zirkulierten in statistischen Wohnungsuntersuchungen, Literaten und Feuilletonisten nahmen statistisches Zahlenwerk in ihre Werke auf. Was als naturalistisches Kernelement dieser Versuche über das Elend bezeichnet werden kann, ist die Destillation typenhafter Fälle, die sich ästhetisch exakt vermessen ließen. Das Konglomerat protosoziologischer Methoden sollte das Elend erschöpfend beschreibbar machen. Hinter der Beschreibungslust stand wiederum eine reformerische Haltung, die Deskription und Präskription in ein dynamisches Wechselverhältnis setzte. Sowohl die literarische als auch die wissenschaftliche Inventarisierung furchterregender Wohnungsverhältnisse zielte darauf ab, das Mitleid der bürgerlichen Klassen zu mobilisieren und so ein moralisches Kapital für Wohnungsreformen zu liefern.
Andernorts war man sich darüber im Klaren, dass die Beschreibung des Wohnungselends notwendigerweise an Grenzen stoßen musste und die Formel “Reform durch Mitleid” zum Scheitern verurteilt war. Bereits Engels bemerkte, dass ihm mitunter Hinterhöfe begegnet waren, deren “Schmutz sich nicht beschreiben lässt,” dass es Häuser gab, deren “Baufälligkeit alle Vorstellung übertrifft.” Und obwohl oder gerade weil das Ausmaß des Elends die Beschreibungskraft sprengte, wusste Engels, dass die Bourgeoisie tatenlos bleiben würde.
Waren diese Beobachtungen bei Engels noch empirisch motiviert, gab es am Ende der 1920er Jahre systematische Einwände gegen eine erschöpfende Beschreibung des Elends. Bertolt Brecht, der sich zu dieser Zeit in einer Reihe von Arbeiten mit der Wohnungsfrage beschäftigte, lehnte eine präzise Beschreibung des Elends kategorisch ab. Diese Verweigerung wird nirgendwo so deutlich wie im Brotladen-Fragment, in dem die Komplizenschaft zwischen hinsichtlich der Wohnungsnot vermeintlich entgegengesetzter Institutionen wie der Heilsarmee und der kapitalistischen Klasse aufs Korn genommen wird.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 41 - 62Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023