Introduction: Leben im Falschen: Wohnen bei Brecht und Müller
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
In Erwägung, dass da Häuser stehen
Während ihr uns ohne Bleibe lasst
Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr passt.
So klingt die Resolution an, die von den Revolutionären in Bertolt Brechts Tage der Kommune formuliert wird. Die Wohnungsfrage markiert bereits den Beginn des Stückes: Mme Cabet kann die Miete nicht zahlen. Wohnraum ist in der Stadt heiß umkämpft, an seiner Unverfügbarkeit für so viele entzünden sich soziale Revolutionen. Darin unterscheiden sich die Jahre 1871, 1949 (in dem Brecht das Stück schreibt) und das gegenwärtige 2023 kaum: jedes reklamiert einen Neuanfang der Geschichte, durch den die Aufständischen “[z]um ersten Mal” verkünden könnten: “die Stadt ist bewohnbar.” Wohnen bedeutet dabei nicht nur die Abwesenheit von Bedrohung und die Rettung aus der Prekarität; es enthält das Versprechen eines neuen, gerechten Zusammenlebens. Die auf der Bühne, im Text und durch politisches Handeln “publizierten Bauten” lassen die Wohnung so auch zum “Möglichkeitsraum für andere” werden.
Brecht, wie später auch Heiner Müller, fand im Wohnen einen Nexus sozialer Verhältnisse, an dem die Aporien kapitalistischer Gesellschaft zum Tragen kommen. In Stücken, Prosa, Gedichten und Interviews erkundeten beide das Wohnen als Zwischensphäre von Lebenspraxis, Theorie, Urbanistik und Ästhetik. Die historischen Entwicklungen, denen das Wohnen im zwanzigsten Jahrhundert unterworfen war, lassen sich dabei gerade aus der Konstellation Brecht-Müller ablesen. Während Brecht noch dazu aufrufen konnte, “das Land zu bebauen, das wir verfallen ließen, und / Die wir verpesteten, die Städte / Bewohnbar zu machen,” konstatiert Müller einige Jahrzehnte später in der gleichen Stadt und deutlich pessimistischer: “Unsere ökologischen Probleme sind allenfalls durch Evakuierung auf andere Planeten zu lösen… . Alle können sie aber von der unbewohnbaren Erde nicht weg, und dann wird ausgewählt. Wer fährt mit?” Das politisch und technologisch progressive Projekt einer “Bewohnbarmachung der Erde” und damit auch seine dialektische Kehrseite, ihre potenzielle Unbewohnbarkeit, rufen Überlegungen auf, die an zeitgenössische Umwelt- und Zukunftsfragen ebenso anschließen wie an sozialpolitische Fragen nach der (Un-)Möglichkeit des Wohnens in der gentrifizierten Stadt. Blickte Müller finster in die Zukunft eines vereinigten Berlins, in dem der “Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht” sich allmählich in einen “Krieg gegen die Wohnungslosen” verwandelt, so versuchte Brecht, die Vergangenheit der Metropole zu erretten, indem er die “alltäglich erscheinenden / Tausendfachen Vorgänge in verachteten Wohnungen / Unter den Vielzuvielen als historische Vorgänge” untersuchte.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 13 - 40Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023