Interlude II: “Wohnen in der leeren Mitte”: Zu einem Topos aus Heiner Müllers Medeamaterial
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Suche nach den Möglichkeiten dessen, was Heiner Müller in Medeamaterial, dem Mittelteil des Stücks Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, als das “Wohnen in der leeren Mitte” beschrieben hat. Sie spüren den verschiedenen Dimensionen der Metaphorik des darin implizierten Dazwischen- Wohnens als einer Suche nach alternativen Formen der Behausung, der (Selbst-)Verortung und Subjektivierung nach: Was hat es mit der Vorstellung des “Wohnens in der leeren Mitte” auf sich, die in und zwischen den drei Teilen des Müller-Textes auf unterschiedliche Art und Weise in den Mittelpunkt gerückt wird? Wie könnten die Praktiken eines Dazwischen- Wohnens konkret aussehen und welche Rolle kommt der Literatur und dem Theater für seine Hervorbringung zu?
Das Wohnen ist zunächst einmal eine tätige Praxis. Wohnverhältnisse sind nicht primär kognitiv bestimmt, sondern stellen ein leibliches Verhältnis dar, das sich auch als körperliches und sinnliches Eingelassensein oder Zuhausesein in der Welt beschreiben lässt. Als grundlegende Lebensform spielt das Wohnen eine entscheidende Rolle für die Ausbildung menschlicher Subjektivität. Dies zeigt sich unter anderem im englischen Sprachgebrauch, in dem “wohnen” und “leben” oftmals synonym verwendet werden. Man sagt “I live in this street, city, or country,” benutzt jedoch in der Regel nicht das Verb “to dwell,” um das Wohnen genauer vom Leben abzugrenzen. “Dwelling” und “living” gehen ineinander über und lassen sich kaum isoliert voneinander verhandeln.
An dem intrinsischen—und zugleich nur schwer fassbaren—Zusammenhang zwischen Wohnen und Leben haben sich verschiedene philosophische Denker abgearbeitet. So hat beispielsweise Martin Heidegger in einem berühmten Vortrag mit dem Titel “Bauen Wohnen Denken,” den er 1951 beim zweiten Darmstädter Gespräch gehalten hat, das Wohnen als einen “Grundzug des Seins” oder als “Aufenthalt im Geviert” beschrieben und dazu aufgerufen, zuerst das Wohnen wieder zu erlernen, bevor man sich ans Bauen mache: “Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen.” Während Heidegger von einer unausweichlichen Geworfenheit in die Welt ausgeht und dabei weniger eine bestimmte Technik des Wohnens und seine Auswirkungen auf das sich konstituierende Subjekt, sondern vielmehr das Eingelassensein und die vielfältigen Bezüge des Wohnens im Sinne des “Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde” in den Blick zu nehmen sucht, fokussiert Gaston Bachelard in seiner nur wenige Jahre später erscheinenden Poetique de l’espace (Poetik des Raumes; 1957) auf die positiven und schützenden Funktionen des Hauses.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 95 - 100Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023