Published online by Cambridge University Press: 15 June 2023
Der Begriff Intersektionalität—Produktivität und Problematik
Die vorliegende Untersuchung stellt den Versuch dar, Bertolt Brechts Texte unter intersektionalen Gesichtspunkten zu analysieren. Intersektionalität beschäftigt sich bekanntlich mit sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Differenz in einem herrschaftskritischen Kontext. Statt der Konzentration auf eine einzelne Kategorie, wie z.B. Klasse, “Rasse” oder Gender, und der damit tendenziell verbundenen Reduktion steht sie für Multiperspektivität, d.h. für die parallele und gleichzeitige Existenz verschiedenartiger Ungleichheiten, die sich nicht etwa nur addieren, sondern zueinander in Wechselwirkung stehen, als Mehrfachdiskriminierung miteinander verwoben sind oder auch kontrastieren. Gemäß unterschiedlicher Machtkonstellationen lassen sich dabei verschiedene Differenzlinien erkennen: strukturelle, institutionelle, symbolische und persönliche bzw. individuelle Diskriminierung im Rahmen horizontaler und vertikaler Ungleichheit sowie inter- und intrasektionaler Konstellationen. Ein wohlhabender Schwarzer homosexueller Mann macht andere mehrdimensionale Erfahrungen als eine weiße, behinderte, heterosexuelle Frau aus prekären Verhältnissen; beide haben in jedem Fall nicht eine Identität und schon gar nicht eine unveränderbare, sondern mehrere oder eine plural konstituierte, bei der allerdings häufig eine Diskriminierung dominant ist.
Die ersten Überlegungen zur Intersektionalität entstanden Ende der 1960er Jahre im Rahmen des Black Feminism. Kimberlé Crenshaw schuf 1989 den Begriff “Intersektionalität” im Sinne einer Kreuzung von Sexismus und Rassismus, in deren Folge sich auch in Deutschland die soziologische “Ungleichheitsforschung” mit der klassischen Trias Klasse, “Rasse” und Gender entwickelte. Bis heute gibt es allerdings keinen “consensus on what is intersecting (identities, categories, axis, relations, proportions), nor on how to conceive the intersections themselves (as interferences, intermediations, cumulations, collisions)… . After all ‘intersectionality’ can appear as theory, method, perspective, approach or heuristic device.” Zudem stellt sich die Frage, “whether the ‘label’ ‘intersectionality’ covers questions of ‘identity,’ ‘subjectivity,’ ‘experience,’ ‘agency,’ ‘power’ and ‘dominance’ or all at the same time.” Die Kritik an der Intersektionalität bezieht sich vor allem darauf, dass statt des Widerstands die Opferhaltung der Diskriminierten im Vordergrund stehe, von homogenen Gruppen ausgegangen werde, der zugrundeliegende Identitätsbegriff statisch sei und die gesellschaftliche Mikroebene dominiere, dass es also zu einer Individualisierung von gesellschaftlichen Strukturen komme, indem Eigenschaften, Wahrnehmungen und Verhalten von Subjekten im Zentrum stünden. Auch das Präfix inter wird wie bei dem Begriff Interkulturalität insofern kritisiert, als es feststehende Kategorien bzw. Entitäten voraussetze. Letztlich steht der Vorwurf im Raum, der Begriff Intersektionalität sei affirmativ, relativierend und entpolitisierend. Deshalb wurde der Vorschlag gemacht, Intersektionalität, bei der sich verschiedene Bereiche an einer Stelle kreuzen, durch deutlicher prozessuale Begriffe wie z.B. Interdependenz zu ersetzen.
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