Published online by Cambridge University Press: 15 June 2023
1. Das Gastspiel Mei Lanfangs in Moskau 1935
Brecht weilte vom 14. März bis 17. Mai 1935 in Moskau. Erwin Piscator hatte ihn im Namen des Internationalen Revolutionären Theaterbundes (IRTB), dessen Präsident er war, eingeladen. Brecht wollte sich einen Eindruck vom Theaterleben dort verschaffen und suchte nach Möglichkeiten, eigene Stücke zur Aufführung zu bringen. Seine Erfahrungen in Moskau, insbesondere mit dem deutschsprachigen Theater der Exilanten, waren alles andere als ermutigend. “Mit deutschem Theater steht es faul,” erfuhr Helene Weigel Ende März. “Wenige Schauspieler, nur schlechte, außer der Neher, die aber nicht besonders geschätzt wird” (BFA 28, 496). Carola Neher, mit der Brecht vor seiner Flucht aus Nazi-Deutschland eng zusammengearbeitet hatte und die er zu den bedeutendsten Darstellerinnen seiner Zeit zählte, lebte seit Juni 1933 mit ihrem Mann Anatol Becker im Moskauer Exil.
Eine erfreuliche Überraschung erlebte Brecht in Moskau allerdings doch—ein Gastspiel, von dem er bis dato nichts wusste: “Mei Lan-fang ist hier,” meldete er bald nach seiner Ankunft in der Stadt nach Svendborg, “der größte chinesische Schauspieler.” Der Name des Schauspielers dürfte Brecht vertraut gewesen sein; vermutlich kannte er den Beitrag von Ernst Lert über Meis USA-Tournee im Jahre 1930. Mei Lanfang (1894–1961) stammte aus einer Schauspielerfamilie. Sein Familienname: Mei. Er hieß ursprünglich Mei Lan; Lanfang ist Künstlername. Er war ein auf zahlreichen Tourneen im In- und Ausland gefeierter Star der “Pekingoper” (“Jingju”), einer späten Form des traditionellen chinesischen Theaters, die Mei Lanfang repräsentierte. Es handelt sich um eine hochstilisierte Kunstform, die sich seit dem späten achtzehnten Jahrhundert aus Formen des klassischen chinesischen Theaters (“Xiqu”), das bis auf das siebte Jahrhundert zurückging, entwickelt hatte. Brecht, der sich auf der Suche nach nicht-naturalistischen Darstellungsformen seit längerem für das japanische und das chinesische Theater interessierte, hatte nun erstmals Gelegenheit, traditionelles chinesisches Theater zu sehen.
Es existieren eine Reihe von Aufzeichnungen Brechts über Mei Lanfang, die noch während seines Moskau-Aufenthalts oder bald danach entstanden sind, ferner zwei Fassungen eines Aufsatzes. Sie belegen die außergewöhnliche Bedeutung, welche die Darbietungen Meis für ihn hatten. Brecht erwähnte in seinen Arbeiten zum Thema keine Stücktitel, so dass nicht eindeutig erkennbar ist, welche der Veranstaltungen Meis er in Moskau gesehen hat.
Brecht litt in der fraglichen Zeit unter rheumatischem Kopfweh und war sogar bettlägerig, wie Helene Weigel in einem undatierten, wohl gegen Ende März 1935 entstandenen Brief erfuhr. Er fügte jedoch hinzu: “Ich sehe den chinesischen Schauspieler Mei Lan-fang mit seiner Truppe” (BFA 28, 496).
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