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Frauen als Fremde in der frühen Dichtung Brechts

Published online by Cambridge University Press:  14 June 2023

Markus Wessendorf
Affiliation:
University of Hawaii, Manoa
Günther Heeg
Affiliation:
Universität Leipzig
Micha Braun
Affiliation:
Universität Leipzig
Vera Stegmann
Affiliation:
Lehigh University, Pennsylvania
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Summary

Sollten einigen Lesern die unten in Abbildung. abgedruckten Zeilen Brechts irgendwie bekannt vorkommen, so hat dies aller Wahrscheinlichkeit nach einen eingängigen und triftigen Grund, denn mit ihnen beginnt Heinrich Breloers sehenswertes Dokudrama über Brecht, das im März 2019 im deutschen ARD-Fernsehen ausgestrahlt wurde. Brecht-Editoren klassifizieren sie als eine sogenannte “autobiographische Notiz,” die in der BFA auf die Zeit “um 1926” datiert wird (Herta Ramthun hatte die Notiz ein wenig später datiert, auf “um 1930”). Allerdings ist in Breloers Dokudrama die filmische Darbietung dieser Notiz so arrangiert, dass man gar nicht anders kann als sie für eine Äußerung aus Brechts letztem Lebensjahr 1956 zu halten, also sage und schreibe rund dreißig Jahre später.

Dass eine solche Notiz über die “merkwürdige Gleichgültigkeit” gegenüber der “Geliebten der Jugend” eben nicht, wie man meinen könnte

oder vielleicht sogar meinen müsste, aus der Feder eines auf sein Leben zurückblickenden Endfünfzigers sondern der eines Endzwanzigers entspringt, muss aufhorchen lassen. Vor allem aber enthält die autobiografische Notiz drei Aspekte, die ich weit darüberhinausgehend als grundlegend für Brecht ansehe und anhand von ausgewählter früher Lyrik untersuchen möchte. Der Klarheit halber werde ich jeden dieser drei Kernpunkte separat einführend darstellen, um sie dann jeweils anhand von ein oder zwei Gedichten detaillierter zu untersuchen.

Der erste Aspekt ist die Erfahrung der Entfremdung, in diesem Fall der Selbstentfremdung. Es handelt sich hierbei um eine Selbstentfremdung besonderer Art, denn die selbstdiagnostizierte “merkwürdige Gleichgültigkeit” des unter permanenter Amnesie leidenden Brecht ist eben nicht nur eine Gleichgültigkeit in der Rückschau (also diachron), sondern ein ständiger Begleiter, ein Wesensmerkmal Brechts (also synchron).

Dieses Phänomen—Brecht als der sich selbst Fremde—manifestiert sich in der Lyrik besonders deutlich beim Thema der Frau und des Weiblichen. Die Frau wird somit zu einem Ort der Selbstentfremdung, und dies in einem Genre wie der Lyrik, das spätestens seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert in der europäischen Literaturtradition zunehmend so verstanden wird, dass es zumindest die Illusion einer gewissen Intimität und persönlichen Nähe suggeriert, ja geradezu herausfordert. Die Fremdheit der Frau ist unter anderem deshalb so interessant, weil Brecht das Weibliche, zu dem der Dichter auf Distanz geht, autobiografisch in mehreren sehr unterschiedlichen Manifestationen erfährt: in der Gestalt der Mutter, Sexpartnerin, vertrauten Freundin oder Mitarbeiterin erzeugt das Weibliche unterschiedliche Formen biologischer, physischer, emotionaler und professioneller Nähe, von der sich Brecht distanziert.

Type
Chapter
Information
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2021

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