Published online by Cambridge University Press: 09 February 2021
Am Ende von René Polleschs Stück Kill your Darlings! wird das Publikum von der Bühne aus mit folgenden Worten adressiert:
Das war nicht für euch.
Das haben wir nicht für euch gemacht.
Das haben wir nie für euch gemacht!
Nein!
Sondern für uns.
Das hier ist nicht für euch.
…
Das war nicht für euch.
Es war immer für uns.
Macht es für euch!
Zwei, drei, vier!
Diese Sätze lesen sich als eine radikale, extreme Antwort auf ein Paradox des modernen Theaters—als provokatorischer Versuch, die Zuschauer aus dem Zustand der strukturellen Unmündigkeit zu befreien, in dem das moderne Theater seit seiner Entstehung sie agieren lässt. Man kann nämlich die Geburt des modernen Theaters in Zusammenhang mit der Geburt der neuen Regierungskünste sehen, die sich im achtzehnten Jahrhundert herausbilden und deren Entstehen Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität eindrucksvoll rekonstruiert hat. Das Theater nimmt aktiv an diesem Prozess teil. Es wird selbst zu einer der neuen Künste des Regierens, die die Bevölkerung des kameralistisch und polizeiwissenschaftlich zu organisierenden Staates zum Gegenstand haben, auch wenn sie ins Theater geht. So fand ein langer, umfassender Prozess der Disziplinierung des Publikums statt, der einen neuen, stumm und still im Dunkeln sitzenden und die Ereignisse auf der Bühne aufmerksam verfolgenden Zuschauer produziert.
Bis dahin ging es in den Theatersälen nämlich turbulent zu: Im Parkett saß, ging, redete und schrie eine bunte, lärmende Ansammlung von Leuten, die alles Mögliche machten: sie tranken, aßen, rauchten, spielten Karten, stritten miteinander oder mit den Schauspielern. Schlägereien waren an der Tagesordnung. Gastwirte und Prostituerte gingen während der Vorstellungen ihrer Arbeit nach. Da war eine andere Welt. Es war eine lange Reihe von Reformen und staatlichen Verordnungen nötig, um diese fremde, unkontrollierbare Masse, von der der Hergang der Vorstellung völlig abhing, zu bändigen, zu bezähmen, zu domestizieren—und in ein kontemplatives, sich einfühlendes Publikum zu verwandeln, das zu einer Funktion der Vorstellung wurde.
Modernes Theater fungiert aber nicht nur als ein Agens der Gouvernementalität und zumindest tendenziell einer Disziplinargesellschaft, sondern es arbeitet immer wieder auch als Medium einer neuen, mit der Gouvernementalität gleichursprünglichen Instanz der Kritik.
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