Published online by Cambridge University Press: 09 February 2021
Ökonomische Poetik
Alles andere als eine bloße Gabe ist für Bertolt Brecht die Literatur: Unweigerlich ist sie von Ökonomischem durchdrungen. Dabei ist die “Ökonomie,” wie er 1930 notierte, “weder das Hauptstoffgebiet der Kunst, noch ist ihre Umformung oder Verteidigung eines ihrer Ziele: sie ist, sowohl mehr als auch weniger: ihre Voraussetzung.” Dadurch, dass ihr wirtschaftliche Sachverhalte zugrunde liegen, verfügt die Literatur allerdings noch lange über keinen festen Grund. Wenn nämlich unterschiedliche ökonomische Theorien ihre jeweiligen epistemischen Objekte (den Markt oder homo oeconomicus, das Geld oder Kapital) auf ihnen eigentümliche Weise entwerfen, wenn also bereits auf der Ebene wissenschaftlicher Gegenstandskonstitution diverse Poetiken des Ökonomischen am Werk sind, muss eine ökonomische Poetik vermeintlich unumstößliche “Sachverhalte” der Wirtschaft gerade in ihrer Gemachtheit und Historizität reflektieren.
Diese Einsicht war das Ergebnis von Brechts erstem Versuch, sich der Ökonomie thematisch anzunähern: Unter dem Titel Jae Fleischhacker wollte er 1923 die Getreidebörse Chicagos auf die Bühne bringen, um im Umweg über die amerikanische Lebensmittelspekulation zu klären, wie es im Nachkriegsdeutschland, ungeachtet seiner Rekordernten, zu einer Versorgungskrise kommen konnte. Für die Dynamiken und Turbulenzen der Börse, diesen Umschlagplatz von Waren-, Geld- und Menschenströmen, fand Brecht trotz intensiver Lektüren ökonomischer Literatur und trotz zahlreicher Gespräche mit Wirtschaftswissenschaftlern keine zureichende Erklärung. Will man Brechts Auskünften über seinen eigenen Werdegang glauben, verschrieb er sich aus eben diesem Grunde fortan dem Studium des Marxismus. Und aus demselben Grunde begriff er es als eine Herausforderung des Theaters, die moderne Makroökonomie mitsamt ihren obskuren Kausalitäten, virtuellen Zukünften und komplexen agencies zu modellieren.
Brechts “episches Theater,” dieses experimentelle Forum diskursiver und darstellungslogischer Selbstreflexion, wurzelt in einer ökonomischen Poetik. Seine programmatischen Leitsätze gehen auf Brechts Beschäftigung mit der Börsenspekulation und auf die Verlegenheit der zeitgenössischen Ökonomik zurück. Schließlich wollte Brecht demonstrieren, wie weit die “Realität” wirtschaftlichen Handelns bereits “in die Funktionale gerutscht” (BFA 21, 469) und wie sehr der vermeintlich rational oder tugendhaft Handelnde nur mehr ein Anhängsel seiner ökonomischen persona war. Und hierzu hatte, an die Stelle des “aristotelischen Theaters,” welches typische, anschauliche und einfühlungsträchtige Fälle vorführt, ein “Theater des wissenschaftlichen Zeitalters” (BFA 22, 695) zu treten: ein Theater, das es mit der Autorität der Wissenschaften aufnehmen kann.
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