Aus dem direkten Vergleich der beiden möglichen Leseweisen lässt sich ein Fazit formulieren. Die Technik der „Doppelkodierung“ (R. Feldmeier) zeigt sich darin, dass Lk 18,1–8 eine Alltagsepisode mit einem Moment des spöttelnden, vielleicht sogar stumpfen Humors erzählt und dabei eine Semantik benutzt, die auch in den Schriften Israels beheimatet ist. Auch wenn die „jüdische“ Denkwelt der Weisheitsliteratur in Lk 18,1–8 auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheint, so wird sie dann für die Folgeszene in Lk 18,9–14 relevant. Lk 18,1–8 ist keine Relecture der Weisheitsliteratur, sondern mutet mehr wie eine Hommage an. Es klingt hier sprachlich bereits etwas an, das erst in der nächsten Perikope inhaltlich sichtbar verarbeitet wird. M.E. handelt es sich bei dieser Technik nicht um ein Zufallsprodukt, sondern um eine bewusste Entscheidung. Lukas ging so souverän mit den Schriften um, dass er sie kreativ mit hellenistisch anmutenden Erzähletappen verschmelzen konnte. Ebenso zeigt sich, dass er in den Schriften nicht nur Dekoration sah, sondern mit Hilfe der Frömmigkeitskritik arbeitete, um daraus für die Völkerwelt geöffnete, „jüdische“ Ideen über Gerechtigkeit und Glaubenspraxis entstehen zu lassen. Vor dem Hintergrund der Lektüre zeigt sich eine Unsicherheit, ob die Kategorien „Judenchrist“ und „Heidenchrist“ bei Lukas wirklich funktionieren.