1. Einleitung
Obwohl sich seit dem frühen 19. Jahrhundert ein großer Teil der Lukasforschung über das rhetorische Geschick des Autors ad Theophilum und die hellenistische Provenienz seiner Sprache einig ist, unterscheiden sich Thesen über sein Autorenprofil zum Teil gravierend.Footnote 1 Gehörte Lukas zur Oberschicht der Gesellschaft, deren Werte und Normen er kannte und zugleich kritisieren wollte, oder war er gebildeter Sklave?Footnote 2 War er Halbliterat,Footnote 3 besuchte er eine Elementarschule oder genoss er doch weiterführenden Rhetorikunterricht?Footnote 4
Schnappte er nur Bruchstücke popularphilosophischer Strömungen auf, erlangte er Bildung durch Alltagsbeobachtungen oder las er griechische Bildungsromane, philosophische Abhandlungen und vielleicht sogar lateinische Lyrik?Footnote 5 Die Forschung ist sich uneins.
Die Unstimmigkeiten zeigen sich umso deutlicher, je tiefer man über den Charakter des Doppelwerkes nachdenkt, denn, so Knut Backhaus, der Leser betritt dort „eine nach Sprache […], Motiven […] und Sache […] biblisch getönte Welt.“Footnote 6 Gerade in den letzten Jahren entstanden Forschungsmeinungen, die kontrastierend zur hellenistischen Leseweise die „jüdische“ Provenienz des Textes betonten.Footnote 7 In welchem Verhältnis stehen „jüdische“ und „hellenistische“ Ideen bei Lukas? Schmückte er eine durch und durch hellenistisch geprägte Denkwelt lediglich mit „jüdischen“ Motiven oder lebte der hellenistische Lukas in der Welt einer „jüdischen“ Theologie? Reichen die üblichen und sicher nicht unproblematischen Kategorien „Judenchrist“ und „Heidenchrist“ überhaupt aus, um dieses Zueinander adäquat in Sprache zu fassen?Footnote 8 R. Feldmeier wies in einer Serie von Artikeln darauf hin, wie komplex das lukanische Gewebe aus „Jüdischem“ und „Hellenistischem“ eigentlich ist.Footnote 9 Mit dem von D. MargueratFootnote 10 grundgelegten und von M. BeckerFootnote 11 adaptierten Konzept der DoppelkodierungFootnote 12 stellt er die These auf, dass Lukas eine bewusst inszenierte Vermischung von biblischen und paganen Traditionen.Footnote 13 Er kopiert weder die Schriften Israels noch pagane Motive und Ideen, sondern schafft neue Narrative, in denen Diskurse ineinander fließen und sich vermischen. Sein Werk ist deshalb auf verschiedene Weise les- und verstehbar und stand somit sowohl einem „jüdisch“ sozialisierten als auch einem „hellenistischen“ Rezipierendenkreis offen.Footnote 14
Auch wenn man über das Autoren- und Kulturbild hinter Feldmeiers „Doppelkodierung“ kontrovers diskutieren kann, scheint es doch ein Schlüssel für die Auslegung von Lk 18 zu sein. In dieser Studie soll die Frage gestellt werden, ob wir in Lk 18,1–8 und Lk 18,9–14 eine Vermischung von Kulturdiskursen erkennen können. Mit der Parabel von der Witwe und dem ungerechten Richter (Lk 18,1–8) eröffnet Jesus in Lk 18 eine Diskussion über eine gerechte Gebetsspiritualität. Aus dem Verhalten der Witwe, die sich trotz der ablehnenden Haltung des Richters immer wieder an ihn wendet und deshalb Recht und Schutz erhält, soll man erkennen, dass das Gebet von tiefer Beharrlichkeit getragen sein soll.
In der bisherigen Forschung sah man häufig in der beharrlichen Witwe das Beispiel einer starken, entschlossenen Frau, mit der Lukas römisch-hellenistische Genderrollen kritisieren wollte.Footnote 15 C. Back fasst diese Linie der Auslegungsgeschichte treffend zusammen:
„Somit repräsentiert die darin beschriebene Witwe eine Vielzahl von Frauen, die aufgrund ihres geringen Ansehens und Rückhalts in der Gesellschaft um ihre Rechte kämpften. Im lukanischen Kontext wird diese Witwe dann zum Vorbild bezüglich der Beharrlichkeit im Hinblick auf das Gebet in der Gemeinde und ihres Vertrauens auf einen positiven Ausgang ihres Anliegens, welches letztendlich belohnt wird, indem die Erlösung überraschend eintritt – sowie die Parusie Jesu überraschend eintreten wird.“Footnote 16
Dagegen ist es wahrscheinlicher, dass sich Lukas hier gerade nicht als Kulturkritiker präsentiert, sondern Beobachtungen des juristischen Alltags einer römischen Provinz genauso aufgreift wie platten Humor, der in Komödien und Satiren begegnet. Doch dabei – und das lässt auf eine Doppelkodierung schließen – greift er auf eine Semantik zurück, die „jüdischen“ Hörer*innen nicht unbekannt gewesen sein durfte. Zumindest lose erinnert die Erzählung um die Witwe, den Richter und die Gerechtigkeit an die Sprache der Frömmigkeitskritik der Weisheitsliteratur und insbesondere an Sir 34–35.Footnote 17 Und es ist wohl kein Zufall, dass Lukas direkt an die Parabel die Folgeszene mit dem gerechten Zöllner und dem ungerechten Pharisäer beim Gebet im Tempel (Lk 18,9–14) anschließt; darin greift er genau diese weisheitlichen Traditionen erneut, nun jedoch inhaltlich auf.
Die These dieser Kurzstudie entwickelt sich, indem Lk 18 methodisch aus zwei verschiedenen Perspektiven gelesen wird.
2. Lectio hellenistica
In den wenigen Worten der Parabel über die Witwe begegnet Lukas als ein Autor mit zumindest einem gewissen hellenistischen Bildungshorizont, der nicht nur antike Rechtspraktiken kennt, sondern rhetorisch so geschult ist, dass er die zur antiken Rhetorikausbildung gehörenden (Quint., Inst. 9,2,29; 9,2,58) Stilfigur einer sermocinatio, also die Fähigkeit, Charaktere laut denken zu lassen, mit römisch-hellenistischem Humor füllen kann.Footnote 18 Obwohl Lukas stilistisch prägnant formuliert und in wenigen Sätzen zu einer Pointe kommt, lässt der Text sein durchaus differenziertes hellenistisches Oeuvre erkennen. Dass Lk 18,1–8 – wie oft behauptet – gesellschaftliche Genderideen der römisch-hellenistischen Welt parodiert,Footnote 19 erkennt man in diesem Textabschnitt nicht. Anders als dies in der Auslegungsgeschichte häufig vertreten wird, verhält sich die Witwe der Parabel nicht ungewöhnlich; es ist weder revolutionär, dass sie in Lk 18,3 direkt mit dem Richter kommuniziert, noch ist ihre Beharrlichkeit in Lk 18,4–5 ein Zeichen einer besonderen Charakterstärke.
Beide dieser Züge sind bestens in der Welt der dokumentarischen Papyri als Regelfälle der antiken Rechtspraxis belegt.Footnote 20 Zwar schreibt das römische Recht Witwen und unmündigen Kindern vor, öffentliche Angelegenheiten durch einen juristischen Vormund, einen tutor, vertreten zu lassen.Footnote 21 Allerdings sind seit den augusteischen Ehegesetzen durch die Lex Iulia et Papia Frauen mit römischem BürgerrechtFootnote 22 und drei Kindern (Freigelassene: vier Kinder; Freigelassene in den Provinzen: fünf Kinder) davon ausgenommen (ius trium liberorum). Auch verwitwete Mütter konnten durch das Dreikindrecht mündig ihr Vermögen und ihre Geschäfte selbst verwalten. Ebenso ist bezeugt, dass die Zahl der Kinder niedriger sein konnte (Plin., Epist. 10,2) und dass sich vor allem in den Provinzen auch Frauen ohne römisches Bürgerrecht auf das Dreikindrecht beriefen (z.B. Papyrus P.Euphr. 15; P.Coll. Youtie 2 67; P. Sakaon 59; 60).Footnote 23 Dokumentarische Papyri der Kaiserzeit belegen, dass nicht wenige Witwen sowohl nach griechischem als auch nach römischen Recht, genau wie die lukanische Figur direkt und ohne Vormund mit Justizbehörden interagierten.Footnote 24 Lukas schildert hier keinen Einzelfall oder ist, um der Prägnanz seiner Erzählung willen ungenau, sondern lässt Jesus eine nicht selten stattfindende Episode aus dem Alltag einer römischen Provinz aufgreifen.
Die lukanische Witwe spricht:
Lk 18,3c Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher
ἐκδίκησόν μɛ ἀπὸ τοῦ ἀντιδίκου μου
Ihre Bitte an den Richter in Lk 18,3, er möge ihr zu ihrem Recht verhelfen und sie vor Personen schützen, die ihr Unrecht zufügen, hat semantische und strukturelle Parallelen mit dokumentarisch bezeugten Petitionen von Witwen aus der späten Republik und der Kaiserzeit (SB 24 16285; P.Oxy. 2 261; P.Oxy. 4 726; BGU 8 1849; P.Oxy 1 71; P. Sakon 31; 36; 37).Footnote 25 Die papyrologischen Zeugnisse beschreiben keine Einzelfälle, sondern dokumentieren, dass Lk 18,3c Ähnlichkeiten mit einer (fast) standardisierten Gerichtsterminologie aufweist. Christina Kreinecker benutzt hierfür das Wort „Gattungssprache“.Footnote 26 In den strukturell sich ähnelnden Papyri bittet eine Antragstellerin die zuständige Behörde oder den Richter, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Häufig begegnet dabei formalisiert eine Vokabel aus der Wortfamilie dikaio-/Gerechtigkeit oder sogar die lukanischen Vokabel ἐκδικέω / Recht verschaffen und ἀντίδικος / Widersacher vor Gericht.
Ein gutes Beispiel für diese über Jahrhunderte hinweg stabil gebliebene Form juristischer Petitionen bietet P. Duke 677,Footnote 27 der dem griechischen Recht folgt; dort reicht die Witwe Thasis Klage gegen die Honighändlerin Anches ein:
P. Duke 677 […] ἀδικοῦμαι ὑπὸ Ἀγχῆτος
[…] mir wurde Unrecht von Anches zugefügtFootnote 28
Danach folgt in sehr vielen Petitionen eine Schilderung einer Unrechtssituation, wobei die Klägerinnen – wie in Lk 18,3 – regelmäßig durch den standardisierten Gebrauch einer Vokabel aus dem Wortfeld Recht/Gerechtigkeit benutzen.Footnote 29 Der hier dargestellte Papyrus beschreibt keinen Einzelfall, sondern dient als ein Beispiel für einen stabilen Rechtsterminus. In P. Duke 677 schildert die Witwe, Anches habe sie zu Unrecht ins Gefängnis werfen lassen.
P. Duke 677 […] ἐπ̣ɛ̣λ̣[θοῦ]σ̣α̣ [οἰ]κί̣α̣ι̣ μ̣ου [ἐγκέκλɛ]ι̣κέν μɛ ἄκριτο̣ν̣ ɛἰς τὸ
ἐφημɛρɛυτήριον
[…] nachdem sie in mein Haus eingebrochen war, beschuldigte sie mich zu Unrecht und [ließ mich] einsperren
Die Antragsstellerinnen machen es – ähnlich wie bei Lukas – vor Gericht zum Gegenstand, dass sie verwitwet sind. Sehr häufig geschieht dies unabhängig von ihren tatsächlichen Wohlstands- und Machtverhältnissen (Papyrus BGU 8 1849; P.Oxy 1 71).Footnote 30 Sie erwähnen, dass sich der Richter in einer herausragenden und von Menschen unabhängigen Machtposition befindet; nur er vermöge es – wie auch der Richter in Lk 18 – sie gegen die Ungerechtigkeit der Widersacher zu schützen.Footnote 31‚Witwe bin ich‘, (P. Duke 677), spricht die Witwe in P. Duke 677, und bittet den Richter, ihr Recht zukommen zu lassen.
Die lukanische Episode ist im juristischen Alltag einer römischen Provinz durchaus denkbar. Lesen wir Lukas weiter, so rückt die Witwe schnell in den Hinter- und der Richter in den Vordergrund. Er hatte den Fall mehrfach abgewiesen, gab der Witwe letztendlich aber Recht, weil ihm ihre erneute Klage und die Revision Mühe bereiteten.
Lk 18,5ab Weil diese Witwe mir jedoch Mühe bereitet,
werde ich ihr Recht verschaffen
In der Forschungsgeschichte schlossen Auslegerinnen und Ausleger sehr häufig daraus, dass die Witwe hier besondere Charakterstärke zeige; doch auch hier zeigen die dokumentarischen Papyri, dass ihr beharrliches Verhalten nicht ungewöhnlich ist, sondern lange Wartezeiten und Geduld zum Alltag der Gerichtsbarkeit gehörten. Im Grunde verhält sich die lukanische Witwe so, wie es zu erwarten ist. Sie bleibt geduldig und bittet erneut. Die Papyri P. Sakaon 31, 36, 37, 58 und 59 dokumentieren den juristischen Spießrutenlauf der Witwe Aurelia Artemis und erlauben einen Blick in die teils „chaotische“ Bürokratie der antiken Welt.Footnote 32
Formal und semantisch ähneln auch diese Papyri dem P. Duke 677 und Lk 18. In P. Sakaon 36 und 31 liegt Aurelia Artemis im Streit mit ihrem Nachbarn Syrion, der, so klagt Aurelia an,
P. Sakaon 36 […] zu Unrecht (ἀδίκως) die Ziegen und Schafe meines Mannes in seinen
eigenen Besitz verlagerte
Das Dokument ist von zweiter Hand etwas abgesetzt und mit einer dickeren Federführung unterschrieben:
P. Sakaon 36 […] κατὰ τὸ δικαιότατον δοκιμάσɛι ὁ κράτιστος [ἐπιστράτηγο]ς
Mit höchster Gerechtigkeit soll seine Exzellenz, der Epistratege, den Fall evaluieren
Der Präfekt wies die Klage ab an die untergeordnete Instanz. P. Sakaon 31, ein Gerichtsprotokoll, demonstriert, dass sich der Fall auch in niedriger Instanz in die Länge zieht. Der Richter fällt kein Urteil, weil der Beklagte, Syrion, nicht vor Gericht erschienen ist.Footnote 33 Er fordert einen neuen Antrag von der Witwe und vertragt den Fall:
P. Sakaon 31 […] (Erst) wenn ich eine Petition erhalten habe, fälle ich ein Urteil
Wie die Sachlage weiterging, ist unklar, doch anscheinend hat Aurelia Recht erhalten, denn laut P. Sakaon 59 und 60 hat sie etwas später ein gewisses Vermögen zusammenbekommen, um sich ein Haus zu kaufen. Die Beharrlichkeit der Witwe scheint in der Gerichtsbarkeit der Provinz eine Notwendigkeit gewesen zu sein, denn an Zeugnissen von häufigen Revisionen bei familiären Streitigkeiten in der Zeit der späten Republik und der frühen Kaiserzeit mangelt es nicht (P. Sakaon 37; Papyrus BGU 8 1849).
Blicken wir von diesen konkreten Fällen auf die Literatur, so sehen wir im beißenden Spott der Epigramme Martials, dass aus dieser Beharrlichkeit zur Zeit des Lukas eine Stereotype juristisch lästiger Witwen wurde. Martial widmet das 49. Epigramm seinem Freund, dem Juristen Licinianus.Footnote 34 Er wünscht ihm, er möge sich in der Sonne Spaniens vom lästigen Berufsalltag erholen, der selbst kluge und begabte Advokaten ausbrennen lässt. Anstelle sich mit den großen Dingen der Juristerei zu beschäftigen, müsse er sich täglich mit ruppigen Liburnersklaven, jammernden Klienten und eben auch den Ansprüchen ständig quengelnder und lästiger Witwen auseinanderzusetzen (Mart., Epigrammaton libri 1.3–36). Martial bedient sich einiger Klischees,Footnote 35 um seinen Freund im Spannungsfeld zwischen Ideal und Alltag zu verorten. Mir scheint es, dass die lukanische Witwe in der antiken Welt kein Einzelfall war, sondern es zur traurigen und harten Realität der Zeit gehörte, dass Witwen sich geduldig um ihr Recht bemühen mussten. Aus der Beharrlichkeit der Witwe lässt sich deshalb kaum folgern, Lukas habe mit sozialen Konventionen gebrochen. Es scheint eher so, als habe Lukas zumindest über eine oberflächliche Kenntnis rechtlicher Praxis und ihrer Schattenseiten verfügt.
Jedenfalls gesteht der lukanische Richter in einer sermocinatio, dass ihm die erneute Revision des Falles so viel Mühe bereitet hat, dass er ihn abschließen will. Die Witwe bleibt passiv und es ist klar, dass der Richter sie gegen ihre Widersacher beschützen wird.
Die Machtkonstellation des Gleichnisses weist dem Richter, gerade weil er stattgegeben hat, eine überlegene Position zu. Er hat sich erbarmt und kann über Recht und Unrecht entscheiden. Das Kräfteverhältnis unterscheidet sich nicht im Geringsten von denen der dokumentarischen Papyri. Selbst in juristischen Streitigkeiten, in denen Witwen ein höheres Vermögen und größeren sozialen Einfluss hatten als die Amtsinhaber der Lokalverwaltung (z.B. in P.Oxy 1 71), weichen die Zeugnisse nicht von diesem Kräfteverhältnis ab.
Lediglich der letzte Satz der lukanischen Parabel mutet seltsam an. Nachdem der Fall geklärt ist; nachdem die Entscheidung getroffen wurde, spricht der Richter laut aus:
Lk 18,5 ‚Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.‘
Hat der Richter, der weder Gott noch Mensch fürchtet, Angst vor der Witwe? Im Gegenteil: Lukas macht in der Pointe der Parabel einen platten Witz, der in ähnlicher Form sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Literatur bezeugt ist. Vielleicht greift er auf den Humor seiner Zeit zurück, um seinen Text für missionarische Zwecke besonders „catchy“ zu machen.
Auch wenn es ein papyrologisches Zeugnis von einer gewaltbereiten Witwe (P.Oxy. 6 898) und gleich mehrere von gewalttätigen Frauen gibt (P. Hamb 4 240; SB X 10239; SB X 10244; P.Oxy 26 2758),Footnote 36 so ist die körperliche Schwäche verwitweter Frauen ein weit verbreitetes Klischee.Footnote 37 Häufig spielen sowohl römische als auch griechische Autoren damit und legen Charakteren, die besonders männlich und stark wirken sollen, spöttelnde Bemerkungen über Witwen in den Mund. So stellt Plutarch in seinen Doppelbiographien Marcus Cato den Älteren als einen rigorosen und eiskalten Geschäftsmann dar.Footnote 38 Spöttelnd sagt Cato zu seinem Sohn, Gewinnmaximierung sei ein Ausdruck von Männlichkeit. Er spöttelt weiter: es gehöre sich nicht für einen Mann, sich Geld abknüpfen zu lassen, denn Männer seien schließlich keine schwachen Witwen. Einen ähnlich spöttelnden Kommentar lässt Petron im Satyrikon den Gastwirt Marcus Mannicus aussprechen.Footnote 39 Durch den Einsatz körperlicher Gewalt schlichtet er eine Schlägerei in seiner Taverne und ruft dabei den Streitenden laut zu, dass er es ihnen zeigen und sie verprügeln werde. Sie sollen fühlen, „dass dieses Mietshaus nicht irgendeiner Witwe, sondern Marcus Mannicius gehört!“ Footnote 40(Petron., satyrica 95,3)
In der lukanischen Parabel rechnet niemand damit, dass die Witwe den Richter schlägt; sie bleibt in der Erzählung passiv und demütig, während der Mann über sie spricht; an der juristischen Stärke des Richters lässt Lukas keinen Zweifel. Die Ironie liegt darin, dass der Ausspruch in der sermocinatio der eigentlichen Machtkonstellation entgegenläuft. Um die Pointe der Parabel zu schärfen, hätte Lukas durchaus den Humor seiner Umwelt aufgreifen können.
3. Lectio iudaica
Die theologische Aussage des Gleichnisses über eine gerechte Spiritualität des Gebets erzeugt Lukas, indem er an entscheidenden Passagen einen intertextuellen Dialog mit Jesus Sirach initiiert. Die Quintessenz der Parabel lässt eine gewisse Nähe zur Kritik an äußeren Frömmigkeitshandlungen erkennen, die in Sir 34–35 entfaltet wird.
Lk 18 lässt sich auf eine zweite Weise lesen:
Beharrlichkeit ist wohl die entscheidende Aussage der lukanischen Parabel und ihrer Theologie; die demütige und beharrliche Haltung der Witwe führt zum Ziel. Lukas will zeigen, dass eine Gottesbeziehung ebenso demütig, ausdauernd und beharrlich gepflegt werden will. Der lukanische Jesus verdeutlicht dies in den Rahmenversen nachdrücklich. So leitet er folgendermaßen ein:
Lk 18,1 Jesus sagte ihnen durch eine Parabel, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten
Der lukanische Jesus folgert am Ende:
Lk 18,7-8 Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.
Strenggenommen ist der ungerechte und ungläubige Richter keine Chiffre für Gott, sondern nur ein Beispiel, um den Gegenstand einer gerechten Spiritualität zu eröffnen.Footnote 41 Semantisch leitet die Parabel zu einem größeren Thema der lukanischen Theologie über: Gerechtigkeit vor Gott! Das Wortfeld Gerechtigkeit verknüpft die Parabel mit der Folgeszene.Footnote 42 Das Beispiel eines Pharisäers und eines Zöllners, die im Tempel beten,Footnote 43 soll in Lk 18,9–14 die Qualität einer gerechten Gottesbeziehung erläutern. Das Wortfeld der Gerechtigkeit schafft in Lk 18,9 eine Überleitung.Footnote 44 Einige der Hörer der Parabel von der Witwe halten sich zu Unrecht für gerecht.
Lk 18,9 Er erzählte aber einigen, die sich selbst für gerecht hielten und die anderen verachteten, diese Parabel
Ihnen erklärt Jesus nun das Wesen der Spiritualität. Doch im Grunde ist der gesamte Diskurs in Lk 18,1–14 nur ein Mosaikstein einer theologischen Diskussion über Gerechtigkeit, die Lukas in verschiedenen Abschnitten seines Evangeliums beleuchtet. Es überrascht nicht, dass die Überleitung zwischen beiden Parabeln an exponierten Stellen des Evangeliums semantisch ähnlich inszeniert begegnet.
Lk 7,29–30 Καὶ πᾶς ὁ λαὸς ἀκούσας
καὶ οἱ τɛλῶναι ἐδικαίωσαν τὸν θɛὸν
βαπτισθέντɛς τὸ βάπτισμα Ἰωάννου⋅
οἱ δὲ Φαρισαῖοι καὶ οἱ νομικοὶ τὴν βουλὴν τοῦ θɛοῦ ἠθέτησαν
Und das ganze Volk rechtfertigte sich vor Gott, als sie es hörten, in dem sie sich mit der Taufe des Johannes taufen ließen. Doch die Pharisäer und Gesetzeslehrer missachteten den Willen Gottes.
Lk 10,29a ὁ δὲ θέλων δικαιῶσαι ἑαυτόν
Der (Gesetzeslehrer) wollte sich selbst rechtfertigen
Lk 16,15ab καὶ ɛἶπɛν αὐτοῖς⋅
ὑμɛῖς ἐστɛ οἱ δικαιοῦντɛς ἑαυτοὺς ἐνώπιον τῶν ἀνθρώπων
Und er sagte ihnen: Ich erklärt euch selbst vor den Menschen für gerecht
Lk 18,9a Εἶπɛν δὲ καὶ πρός τινας
τοὺς πɛποιθότας ἐφ᾽ἑαυτοῖς ὅτι ɛἰσὶν δίκαιοι
Er erzählte aber einigen, die sich selbst für gerecht hielten […]
Lk 20,20c ὑποκρινομένους
ἑαυτοὺς δικαίους ɛἶναι
[…] heuchelnd, dass sie selbst gerecht seien
Immer wieder inszeniert Lukas Streitgespräche mit Gegnern, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind und von Jesus eines Besseren belehrt werden. Lukas bespricht in diesen Abschnitten seine theologische Idee einer gerechten Schrifthermeneutik, einer gerechten Ethik der Nächstenliebe, eines gerechten Glaubens und stilisiert Jesus schlussendlich zum Archetyp eines Gerechten.Footnote 45 Er bereichert diesen Diskurs im 18. Kapitel um eine spirituelle Perspektive. Für seine Idee einer gerechten Spiritualität benutzt er Motive und Gedanken, die in der Weisheitsliteratur begegnen. Lukas der Theologe zeigt sich hier vertraut mit „jüdischen“ Diskursen über Kulthandlungen.
Lk 18,1–8 markiert, dass eine gerechte Frömmigkeit arbeitsam sein muss. Und nach Lk 18,9–14 kann sie nur auf dem Nährboden echten Gottvertrauens gedeihen. Der Pharisäer beteuert in einem lauten Gebet, er sei besser als die Sünder, weil er fastet und den Zehnten abgibt.
Lk 18,12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den zehnten Teil meines ganzen Einkommens.
Seine Frömmigkeit stützt sich auf äußere Praktiken, wohingegen der Zöllner Gott ernsthaft um Verzeihung bittet. Jesus folgert daraus:
Lk 18,14 Dieser ging gerechtfertigt nach Hause hinab, der andere nicht.
Blicken wir auf beide Narrative, so begegnet eine Semantik, die tief in der Frömmigkeitskritik der Schriften Israels wurzelt.Footnote 46 So lehne Gott laut Sir 34,21–31 alle Frömmigkeitspraktika ab, wenn diese nicht von einer tiefen inneren Spiritualität getragen werden. Sir 34,23 betont, dass Gaben alleine keine Sündenvergebung bewirken. Eine Fülle an Opfergaben ist in Gottes Augen wertlose, wenn sie nicht in einer Haltung des tiefen Glaubens dargebracht werden.
Sir 34,23 An Gaben der Gottlosen hat der Höchste kein Gefallen, / auch vergibt er nicht Sünden aufgrund einer Fülle an Opfern.
Und Sir 34,29 deutet an, dass Gott nur auf die Stimme eines wahren Beters hören wird. Ähnlich wie in Lukas begleitet in Sir die Kritik an oberflächlichen Frömmigkeitshandlungen eine Reflexion über das wahre Gebet. Dies ist in Lk 18 sogar das bestimmende Leitthema.
Sir 34,29 Einer betet und einer flucht - / auf wessen Stimme wird der Gebieter hören?
Ähnlich wie in Lk 18 differenziert Sir verschiedene Praktiken der Gottesverehrung und betont, dass nur eine aufrichtige und wahrhaftige Form der Spiritualität bei Gott gehör findet. Nach Sir 34,31 sei – ähnlich wie in Lk 18,12 – das Fasten eines Sünders wertlos, wenn er nicht umkehre.Footnote 47
Sir 34,31 So ist ein Mensch, der wegen seiner Sünden fastet, zurückkehrt und sie wieder begeht. Wer wird sein Gebet erhören?
Und nach Sir 35,1–10 ist – wie auch bei Lk 18,1,7 und 14 – Gerechtigkeit die Grundvoraussetzung für Gebets-, Spiritualitäts- und Kultpraktika. Wie auch in Lk 18,12 exemplifiziert Sir 35,11 dies am Beispiel des Zehnten.Footnote 48
Sir 35,11 Bei jeder Gabe mache ein heiteres Gesicht und weihe der Zehnt mit Freude!
Vergleicht man die beiden Erzählungen in Lk 18 mit Sir 34–35, so verdichten sich motivische und inhaltliche Parallelen. Neben dem Motiv des Gebets, des Zehnten und der inhaltlichen Differenzierung zwischen einer wahren, inneren und einer oberflächlichen, äußeren Spiritualität arbeiten beide Texte mit dem Motiv des Richters. So schreibt Sir 35,15, dass man nicht auch unlautere und ungerechte Frömmigkeitspraktika vertrauen solle:
Sir 35,15 Denn der Herr ist Richter und es gibt vor ihm kein Ansehen der Person.
Ähnlichkeiten mit der Motivwelt von Lk 18,2–6 liegen natürlich nahe, insofern dort das Motiv des Richters eine zentrale Stellung einnimmt. Wie auch in Lk 18,7 und 18,13 beteuert Sir 35, dass Gott das Gebet der Demütigen erhören und ihnen Recht bereiten wird.
Sir 35,21–22 Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, […] Und er wird für die Gerechten entscheiden und ein gerechtes Urteil fällen.
Auf der sprachlichen Ebene scheinen sich Sir 35,21–22 und Lk 18,7 zu berühren. Die Parallelen setzen sich fort, insofern auch das Flehen der Witwe, also das Leitmotiv in Lk 18,2–6, in Sir 35 in Erscheinung tritt. Gott achtet nicht auf soziale Unterschiede, sondern hört den Hilferuf der Witwe und der Waisen:
Sir 35,17–19 Er missachtet nicht den Hilferuf der Waise und die Witwe, wenn sie ihren Jammer ausschüttet.
Ohne beide Texte vorschnell parallelisieren zu wollen, ist der Hilferuf der Witwe in Lk 18,3 ein zentrales Element. Die semantische Charakterisierung des Gottesbildes in Lk 18 bedient sich Motive, die in Sir 34–35 zentrale Elemente bilden. Es scheint, dass Lukas bewusst auf die Frömmigkeitsdiskussion der Weisheitsliteratur anspielen möchte, um sein theologisches Anliegen zu unterstreichen: Rein äußerliche Gebetshandlungen werden von Gott nicht akzeptiert, wenn sie nicht von einer aufrichtigen und gerechten Spiritualität getragen werden. Diese theologische Aussage in Lk 18 erhält eine tiefere Sinnschärfe, wenn sie vor dem Hintergrund der Schriften Israels gelesen wird.
Competing Interest
The author declares none.