1. Hinführung
In seiner weichenstellenden Erstaussage konstatiert der markinische Jesus die unabwendbare Nähe der Gottesherrschaft (ἤγγικɛν ἡ βασιλɛία τοῦ θɛοῦ).Footnote 1 Dabei hält er in der Schwebe, wie nah er sich diese Nähe vorstellt. Erst viele Kapitel später taucht in der Erzählung von der Verhaftung Jesu in 14,42 eine weitere ἤγγικɛν-Aussage auf: ἰδοὺ ὁ παραδιδούς μɛ ἤγγικɛν. Die narrative Einbettung dieser Aussage über die Nähe des Verräters bietet entscheidende Anhaltspunkte, um den Intensitätsgrad von ἤγγικɛν in der ersten Basileiaaussage nachträglich bestimmen zu können. Strategisch erweist sich der späte Zeitpunkt, an welchem die Unbestimmtheit in 1,15 reduzierbar wird, als hochrelevant, signalisiert Markus damit doch Folgendes: Selbst in Zeiten größtmöglicher Krisenerfahrungen ist ein bedeutsamer Erkenntnisfortschritt möglich, hier konkret im Hinblick auf die Näherbestimmung der Nähe der Gottesherrschaft.
Der Aufweis dieser Möglichkeit ist für Markus essentiell, und zwar auf der Ebene der Erzählerkommunikation. Er beansprucht mit seiner Jesuserzählung, die existentielle Krise seiner Gegenwart um 70 n. Chr. inmitten eben dieser Krisensituation deuten zu können. Mit der nachträglichen Einhegung der Ambiguität der ersten Basileiaaussage in 14,42 eröffnet der Erzähler noch in der erzählten Welt den Raum, Deutungshoheit inmitten von Krisen zu gewinnen. Dieser Gewinn marginalisiert weder die Krisenerfahrung am Vorabend des Todes Jesu noch die Krisenerfahrung der 70er Jahre, ist aber ein kleiner Schritt, in allen Vagheiten und bleibenden Unsicherheiten ein wenig festen Boden unter die Füße zu bekommen.
2. Forschungsgeschichtliche Verortung (1)
Markus begreift seine Gegenwart um 70 n. Chr. als integralen Bestandteil der eschatologischen Erfüllungszeit,Footnote 2 welche für ihn mit dem Kommen Jesu in die Welt irreversibel begonnen hat.Footnote 3 Diese Zeit teilt er in unterschiedliche Phasen ein und orientiert sich dabei an der irdischen An- und Abwesenheit Jesu. Während er die vergangene Zeit der irdischen Anwesenheit Jesu als uneingeschränkte Heilszeit betrachtet (z.B. 2,19), erlebt Markus seine eigene Gegenwart als ungemein finstere heilsgefährdende Zeit (z.B. 13,33–7; 14,27).
Diese Bewertung der eigenen Gegenwart basiert im Wesentlichen auf dem Erleben der irdischen Abwesenheit des erhöhten Herrn und vielfältiger gemeindeexterner und -interner Faktoren. Das einschlägige Spektrum reicht nach Ansicht von Sandra Huebenthal „vom jüdisch-römischen Krieg und dem Trauma der Tempelzerstörung über das Sterben der Augenzeugen und das Ausbleiben der Parusie bis zur Frage der konkreten Ausgestaltung des Lebens in der neuen Wirklichkeit der nahegekommenen βασιλɛία τοῦ θɛοῦ“.Footnote 4
Bei einer Lokalisierung der Gemeinde in Rom ist davon auszugehen, dass sie durch die Verfolgung unter Nero existentiell und katastrophal getroffen ist.Footnote 5 Es gibt in ihr – so Daniel Lanzinger – „keine Heldinnen oder Helden“ mehr. Solche seien „nur diejenigen, die unter Nero ihr Leben verloren“. Dementsprechend bestehe die markinische Gemeinde aktuell aus Menschen, „die verleugneten, … die untergetaucht sind oder Glück hatten und die deshalb nicht sicher sein können, ob sie nicht auch verleugnet oder gar andere verraten hätten.“Footnote 6
Die als gravierend erlebten Herausforderungen seiner Gegenwart verarbeitet Markus in seinem Evangelium narrativ-theologisch, sodass sich seine Erzählung als Krisen- oder sogar Traumbewältigungsliteratur lesen lässt.Footnote 7 Dabei überträgt er seinem Jesus die Aufgabe, das zeitliche Koordinatennetz grundlegend zu justieren, und kann deswegen „als Erzähler auf eine weitergehende Konstruktion von Zeit und Geschichte verzichten“.Footnote 8
Diesen Auftrag führt der markinische Jesus bereits in seiner ersten Aussage aus und steckt den maßgeblichen Zeitrahmen doppelt ab:Footnote 9 πɛπλήρωται ὁ καιρὸς καὶ ἤγγικɛν ἡ βασιλɛία τοῦ θɛοῦ. Während der erste Teil dieser doppelten Zeitansage den bereits erfolgten Anbruch der eschatologischen Erfüllungszeit festhält (πɛπλήρωται ὁ καιρός), bleibt die Aussage über die Basileia spürbar uneindeutiger. Diese Vagheit entsteht dadurch, dass der unmittelbare Erzählzusammenhang nicht genügend Anhaltspunkte bereitstellt, um die Nuancen von ἤγγικɛν, d.h. die „Nähe der Nähe“ genau(er) bestimmen zu können:
Nach Ansicht von Mark L. Strauss kann die Perfektform ἤγγικɛν „‘has arrived,’ ‘has drawn near,’ or ‘is near’“ bedeuten und sei „probably intentionally ambiguous“.Footnote 10 Eine Mehrdeutigkeit registriert auch M. Eugene Boring und hält fest, dass die Basileiaaussage in 1,15 gleichermaßen präsentische und futurische Implikationen zeigt: Die Gottesherrschaft „has not completely arrived and is not simply present … but neither is it merely future. The perfect tense conveys the sense that something has already happened that has brought the kingdom effectively near.“Footnote 11 Für Josef Ernst drückt ἤγγικɛν „in gedrängter Kürze den Doppelaspekt der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu – das ‚Schon jetzt‘ und das ‚Noch nicht‘ – aus.“Footnote 12 Auf dieser Linie liegt auch Santi Grasso, für den die Basileiaaussage „un movimento che ancora non è giunto al termine“ beschreibt. Von daher könne man nicht sagen, „che il regno sia già completamente presente, né che non lo sia. Il tenore delle parole sul regno da parte di Gesù, riferendosi per un verso a quello attuale e per un altro a quello escatologico, mostra come esso sia inserito nella tensione tra un già e un non ancora.“Footnote 13
Die präsentische Dimension der Basileiaaussage unterstreicht Eckhard J. Schnabel etwas stärker: Die Perfektform ἤγγικɛν signalisiere, „that Jesus speaks not merely of the coming of God's kingdom as imminent (but still in the future), but – in the context of the preceding statement that the kairos has been fulfilled – as happening in the present.“Footnote 14
James R. Edwards setzt anders an und hebt auf die untrennbar enge Bindung der Basileia an Jesus ab. Die Basileia „corresponds to and is identified in the closest possible way with his own person and ministry.“Footnote 15 Daraus folge: „In Jesus of Nazareth the kingdom of God makes a personal appearance.“Footnote 16
Nach Ansicht von Ma'afu Palu bringt der markinische Jesus mit der doppelten Zeitansage in 1,15 zum Ausdruck, „that he views time in its entirety (ὁ καιρός) as the promise of the kingdom of God, the fulfilment of which is now taking place.“Footnote 17 Diese Erfüllung beginne für Markus „with the advent of Jesus from Nazareth“ und sei „an ongoing dynamic to be ultimately concluded in the general resurrection.“Footnote 18 Die Dynamik einer voranschreitenden Erfüllung gewinne in Jesu Dienst eine beobachtbare Gestalt.Footnote 19
Unter rezeptionstheoretischer Perspektive macht Wolfgang Fritzen darauf aufmerksam, dass die Frage nach dem Zueinander von Gegenwart und Zukunft in der Basileiaaussage in 1,15 am Beginn der markinischen Jesuserzählung „unbeantwortbar“ bleibt. Es sei „eine gewichtige Leerstelle, die den Leser auf seinem weiteren Weg durch den Text begleiten soll. Wie nahe (oder fern) ist die Gottesherrschaft denn nun?“Footnote 20 Dabei bringe die erste Basileiaaussage eine „Spannung von verborgener Gegenwart und sicher verheißener Zukunft“Footnote 21 zum Ausdruck, „die die Auffassung des Markusevangeliums von der Gottesherrschaft insgesamt kennzeichnet.“Footnote 22
In die offene Diskussion rund um das Verständnis der ersten Basileiaaussage im Markusevangelium hat David S. du Toit eine wichtige Beobachtung eingespeist, welche bislang allerdings noch nicht umfänglich rezipiert wurde: Er betrachtet ἤγγικɛν ἡ βασιλɛία τοῦ θɛοῦ in 1,15 und ἰδοὺ ὁ παραδιδούς μɛ ἤγγικɛν in 14,42 als „exakte“ Parallelen. Diese Parallelität zeige, „dass das Faktum der Nähe (der Gottesherrschaft bzw. des Auslieferers) den baldigen Vollzug des vom Verbalnomen implizierten Geschehens impliziert“. Auf dieser Spur zeige ἤγγικɛν in 1,15 an, „dass das Kommen von Gottes Herrschaft in der nahen Zukunft bevorsteht“. Allerdings stünde der „Vollzug bzw. Anbruch … noch aus!“Footnote 23
Der Impuls von David S. du Toit, die beiden mit ἤγγικɛν gebildeten Aussagen in 1,15 und 14,42 gemeinsam auszuwerten und daraus ein Verständnis für die Basileiaaussage in 1,15 zu gewinnen, ist überaus stimulierend und weiterführend. Allerdings bringt die gegenwärtige Markusforschung das Potenzial dieser Zusammenschau nicht wirklich zur Geltung. An diesem Punkt setzen die folgenden Überlegungen an: Sie leuchten detailliert das erzählerische Zusammenspiel von 1,15 und 14,42 aus und fragen nach Anhaltspunkten, welche auf eine vom Erzähler intendierte Querverbindung zwischen beiden Stellen hindeuten. Dabei setzen unsere Überlegungen ambiguitätstheoretisch an. Sie rechnen mit der Möglichkeit, dass Markus intendiert Vagheiten und Mehrdeutigkeiten in seiner Jesuserzählung auslöst oder einhegt und dass er (literarische) Ambiguitäten zu einem zentralen Pfeiler in seinem Krisenmanagement macht.
3. Forschungsgeschichtliche Verortung (2)
Mit der Fokussierung auf Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und – je nach Begriffsfassung – auf Ambiguitäten weiß sich der vorliegende Beitrag in einem Forschungsbereich der neutestamentlichen Exegese verortet, welcher mit einem intendierten und strategischen Einsatz von (literarischen) Mehrdeutigkeiten oder Unterbestimmtheiten etwa bei Paulus,Footnote 24 MarkusFootnote 25 oder LukasFootnote 26 rechnet.
Eine mehrdeutigkeitssensible Betrachtung kommt disziplinintern etwa bei hidden transcript-Lektüren zum Einsatz, welche mit einem verborgenen (politisch aufgeladenen) Subtext etwa im Philipperbrief rechnen. Für Angela Standhartinger spricht Paulus in diesem Gefangenschaftsbrief wiederholt mehrdeutig, da er mit ungebetenen Mitlesern wie „Gefängniswärter[n], Verfolgungsbehörden und Richter[n]“Footnote 27 habe rechnen müssen. Selbst wenn man solchen Annahmen skeptisch gegenübersteht, leisten solche Erwägungen allein dadurch einen methodisch wertvollen Beitrag, dass sie systematisch nach Funktionen von mehrdeutigen Formulierungen in biblischen Schriften fragen.
Im Blick auf das Markusevangelium weisen zahlreiche Auslegungen, Einzelanalysen und Kommentare wiederholt – manchmal nur „im Vorbeigehen“ – auf Mehrdeutigkeiten und Vagheiten an ganz verschiedenen Stellen im Erzählverlauf hin (z.B. 1,2–3; 1,15; 12,35–7). Allerdings fragen diese Stimmen gerade im Umfeld der ersten Basileiaaussage kaum systematisch nach erzählstrategischen und theologischen Funktionen der dortigen literarischen Uneindeutigkeit.
Ein interdisziplinärer Impuls zu einer ambiguitätstheoretischen Lektüre neutestamentlicher Schriften kommt aus dem Themenheft Ambiguität der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und LinguistikFootnote 28 sowie dem Tübinger Graduiertenkolleg 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption. Dieses Kolleg setzt „die Frage nach dem Verhältnis von potenzieller Ambiguität (als ein Merkmal sprachlicher Zeichen) und funktionaler Ambiguität (als ein Merkmal des Gebrauchs dieser Zeichen) zentral“Footnote 29. Man geht dort von der Annahme aus, „dass die Produktion und Rezeption von Ambiguität ebenso wie ihr strategisches und nicht-strategisches Vorkommen nur verstanden werden können, wenn untersucht wird, wie diese Aspekte in den Prozessen der Ambiguitätsauslösung und -auflösung interagieren.“Footnote 30
4. Ansatz und zentrale Thesen
Der vorliegende Beitrag nutzt einen weiten Ambiguitätsbegriff und schaut damit auf das erzählstrategische Zusammenspiel der beiden ἤγγικɛν-Aussagen in 1,15 und 14,42. Dieser weite Begriff umfasst Aspekte von Zwei- und Mehrdeutigkeit, von Unbestimmtheit, Unterbestimmtheit, Vagheit und Doppelbödigkeit.Footnote 31 Dabei betrachten wir literarische Ambiguitäten auf der Linie des Tübinger Graduiertenkollegs als ein dynamisches Phänomen. Sie sind zwar „potenziell in (sprachlichen) Zeichen vorhanden“, werden „aber nur unter bestimmten Bedingungen funktional“Footnote 32. Die Aktivierung von Mehrdeutigkeiten geschieht im Diskurs zwischen Sender- und Empfängerinstanz.Footnote 33 Bei der Anwendung auf das Markusevangelium bedeutet dies: Literarische Mehrdeutigkeiten werden im Kommunikationsgeschehen zwischen dem Erzähler und seinen Erzähladressaten ausgelöst, eingehegt oder aufgelöst.
Im Horizont dieser Begriffsbestimmung gehen die folgenden Überlegungen vier Thesen nach:
(1) Basileiatheologische Perspektive. Der markinische Jesus löst in der Basileiaaussage in 1,15 eine theologisch hochbedeutsame Ambiguität aus, welche der Erzähler erst viel später in 14,42 einhegt. Diese Einhegung macht den Intensitätsgrad der angesagten Nähe genauer bestimmbar und deutet in Richtung einer intensiven, ganz unmittelbaren Nähe. Die Gottesherrschaft steht damit „rückwirkend“ als Größe vor Augen, deren raum-zeitliche Nähe größer und intensiver nicht gedacht werden kann.
(2) Stabilisierung durch Ambiguitätseinhegung inmitten der Krise. Als Zeitpunkt für die Einhegung der Ambiguität wählt Markus die Situation der Verhaftung Jesu und signalisiert damit Folgendes: Im Moment der größtmöglichen Krisenerfahrung und der bevorstehenden vollständigen Auflösung des Jüngerkreises ist es dennoch möglich, konstruktive und weiterführende Einsichten und Vergewisserungen zu erhalten. Der Aufweis dieser Möglichkeit hat für Markus paradigmatischen Charakter und soll deutlich machen, dass eine solche Möglichkeit auch für seine Adressatengemeinde in der existentiellen Krisenerfahrung der 70er Jahre (ggf. infolge der neronischen Verfolgung) besteht.
(3) Mehrdeutigkeiten und Krisenmanagement. Markus sieht in Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und zugespitzten Zweideutigkeiten geeignete literarische Gestaltungsmittel, um individuelle und kollektive Krisen- und Traumaerfahrungen seiner Gemeinde narrativ-theologisch zu bearbeiten.Footnote 34 Der Einsatz dieser Mittel erlaubt es ihm, die (gemeinsame) Wahrnehmung der Gegenwart als überaus bedrohliche Zeit nicht „theologisch“ ausbalancieren oder relativieren zu müssen. Die Erfahrungen von existentieller Krise und angebrochener Endzeit mitsamt der Berufung zum Heil stehen in einem beunruhigenden, unauflösbaren Spannungsverhältnis.
(4) Ekklesiologische Perspektive. Der markinische Gemeindeentwurf rechnet von seinem Ansatz her mit einer generationenübergreifenden Zerbrechlichkeit des Jüngerkreises und sieht davon ab, eine lineare Entwicklung hin zu dessen dauerhafter Festigung anzudeuten. Dieses „gebrochene“ Jüngerbild reagiert auf die aktuelle Krisenerfahrung und nimmt in seiner Gebrochenheit diese bedrohliche und beängstigende Erfahrung radikal ernst. Dabei verurteilt Markus die Jünger nicht, auch wenn er seine Jesusfigur wiederholt scharfe Kritik an ihnen äußern lässt (z.B. 10,14).
5. Handfeste Spuren einer intendierten erzählerischen Vernetzung von 1,15 und 14,42
Die beiden Jesusaussagen in 1,15 und 14,42 sind allein formal dadurch miteinander vernetzt, dass die Perfektform ἤγγικɛν nur an diesen beiden Stellen im Markusevangelium auftaucht. Darüber hinaus stehen beide Aussagen durch ihren AnkündigungscharakterFootnote 35 und ihre kontextuelle Einbindung in einer engen Beziehung zueinander. So bringt Markus im Vorfeld der beiden ἤγγικɛν-Aussagen das Thema „Versuchung“ ein und lässt seinen Jesus jeweils eine zentrale Zeitansage tätigen; beiden Aussagen folgt je eine ganz zentrale Jüngerepisode:
a) Thema: „Versuchung“
Unmittelbar bevor Jesus in 1,14–15 sein weichenstellendes Programmwort ausspricht, ist er vom Teufel in der Wüste versucht worden (καὶ ἦν ἐν τῇ ἐρήμῳ τɛσσɛράκοντα ἡμέρας πɛιραζόμɛνος ὑπὸ τοῦ σατανᾶ); in Getsemani fordert Jesus seine Jünger auf, zu wachen und zu beten, damit sie nicht in Versuchung gerieten: γρηγορɛῖτɛ καὶ προσɛύχɛσθɛ, ἵνα μὴ ἔλθητɛ ɛἰς πɛιρασμόν (14,38a).Footnote 36
b) Zeitansagen
Die beiden Zeitansagen πɛπλήρωται ὁ καιρός und ἦλθɛν ἡ ὥρα bringen gleichermaßen einen Beginn zum Ausdruck und lassen ferner eine Zuspitzung des Betrachtungswinkels erkennen: In 1,15 bekundet Jesus, dass die eschatologische Endzeit begonnen hat; in 14,41 fokussiert er sich auf die Stunde und legt offen, dass die Stunde der Jerusalemer Ereignisse gekommen ist.
c) Jüngerepisoden
An die mit ἤγγικɛν gebildete Basileiaaussage schließt sich in 1,16–20 die Episode von der Ur-Konstitution der Nachfolgegemeinschaft an; auf die ἤγγικɛν-Judas-Aussage folgt in 14,43–52 die Episode über die Zerstörung dieser Ur-Gemeinschaft durch die vollständige Flucht der Jünger.
Zusammengenommen machen diese Einzelbeobachtungen die Annahme mehr als plausibel, dass Markus eine intendierte erzählerinterne Querverbindung zwischen 1,15 und 14,42 herstellt,Footnote 37 insbesondere durch die direkte Vernetzung mit zwei so markanten Eckpfeilern seiner Jüngergeschichte. Unter rezeptionstheoretischer Perspektive sucht Markus durch diese thematische Querverbindung sicherzustellen, dass sich der Erzähladressat – spätestens bei einer wiederholten Lektüre des Evangeliums – dieses im Abstand von vielen Kapiteln geführte erzählerische Zusammenspiel von Ambiguitätsauslösung und Ambiguitätseinhegung (1,15 ↔ 14,42) vergegenwärtigt und in dieses Zusammenspiel auch (kognitiv) tatsächlich einsteigt.
6. Ambiguität 1.0 – Die früh ausgelöste und erst spät eingehegte Ambiguität in der ersten Basileiaaussage
Schaut man auf die Basileiaaussage in 1,15, lassen sich vier Faktoren identifizieren, welche die dortige Ambiguität auslösen (trigger Footnote 38):
(1) Der markinische Jesus bindet die beiden Glieder der doppelten Zeitansage in 1,15 mit καί zusammen und hält durch die Vieldeutigkeit dieser Konjunktion die genaue inhaltliche Verhältnisbestimmung der beiden Glieder in der Schwebe.Footnote 39
(2) Infolge der uneindeutigen Zuordnung beider Aussagen färbt die Feststellung im ersten Glied, dass die eschatologische Endzeit angebrochen ist (πɛπλήρωται ὁ καιρός), unweigerlich die Basileiaaussage im zweiten Glied mit ein, ohne sie einlinig auf diese Nuance festzulegen.
(3) Es bleibt beim unkommentierten ἤγγικɛν (ἡ βασιλɛία τοῦ θɛοῦ), wodurch nicht eindeutig festgelegt ist, wie nah die Nähe der Gottesherrschaft zu denken ist.
(4) Der markinische Jesus lässt offen, inwieweit in ἤγγικɛν zeitliche und räumliche Facetten gleichermaßen zur Sprache kommen.Footnote 40
Aufs Ganze gesehen bleibt die Aussage über die Nähe der Gottesherrschaft im Anfangsstadium der markinischen Jesuserzählung merklich unterbestimmt, vage und mehrdeutig. Die Aussage changiert zwischen unterschiedlichen Intensitätsgraden, und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich. Sie lässt gleichermaßen und auch gleichzeitig an Aspekte von „nah herangekommen“ über „unmittelbar bevorstehen“ bis hin zu „bereits in die irdische Wirklichkeit einbrechend“ denken.
Mit dieser theologisch hochrelevanten Uneindeutigkeit für den gesamten Erzählverlauf (range)Footnote 41 entlässt Markus seinen Erzähladressaten in den ersten Hauptteil der Erzählung, der mit der Episode von der Jüngerberufung in 1,16–20 an Fahrt aufnimmt.
Er hegt die Vagheit und Mehrdeutigkeit dieser so weichenstellenden Basileia-Erstaussage erst durch das Zusammenspiel zwischen Erzähler- und Jesusrede in 14,42–3 ein. Am Ende der Getsemani-Episode kündigt Jesus das unmittelbar bevorstehende Eintreffen des Judas an: ἰδοὺ ὁ παραδιδούς μɛ ἤγγικɛν. Direkt nach dieser Ankündigung übernimmt der Erzähler und verortet das Geschehen der Ankunft des Judas noch in dem Moment, in dem Jesus spricht: καὶ ɛὐθὺς ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος παραγίνɛται Ἰούδας. Dieses Zusammenspiel von Jesus- und Erzählerrede stellt eine beinahe Gleichzeitigkeit zwischen Ankündigung und Erfüllung her und steigert den Intensitätsgrad der mit ἤγγικɛν ausgesagten Nähe auf ein Höchstmaß. Zudem bringt die Dynamik der Erzählung unzweifelhaft zum Ausdruck, dass sich die Erfüllung der Ankündigung nicht mehr aufhalten lässt. Das Eintreffen dessen, dessen unabänderliche Nähe Jesus gerade eben angekündigt hat (= Judas), erfolgt noch in eben diesem Augenblick.
Das Zusammenspiel von Ambiguitätsauslösung und -einhegung zwischen 1,15 und 14,42 dient dazu, den Intensitätsgrad der Nähe der Gottesherrschaft nachträglich näher bestimmbar zu machen, und zwar während einer lebensgefährlichen Extremsituation. Die Ereignisabfolge in 14,42–3 vermittelt einen tragfähigen Eindruck, wie unsagbar nah sich der markinische Jesus eine mit ἤγγικɛν ausgesagte Nähe vorstellt. Die Gottesherrschaft steht damit „rückwirkend“ als Größe vor Augen, deren Nähe größer und intensiver nicht gedacht werden kann. Die Vorstellung einer unabänderlichen Nähe ist in 1,15 vollkommen auf die Spitze getrieben, ihr Einbruch in die irdische Wirklichkeit ist für den markinischen Jesus unaufhaltsam. Dabei rückt die Perfektform ἤγγικɛν das Moment der anhaltenden Wirkung in den Vordergrund. Mit dem Einsatz der beiden Perfektformen πɛπλήρωται und ἤγγικɛν deutet der markinische Jesus in 1,15 seine Vorstellung an, dass der durch den Verbalinhalt bezeichnete abgeschlossene Vorgang – die Erfüllung der Zeit und das Nahegekommensein der Gottesherrschaft – in seiner Gegenwart fortdauert und nachwirkt.Footnote 42
Der erreichte Zustand einer nicht mehr steigerbaren Nähe wirkt in die Gegenwart sowohl der erzählten Zeit als auch der Gegenwart des Erzählers hinein. So deutlich das Perfekt dabei auch an einen abgeschlossenen Vorgang denken lässt – die größtmögliche Nähe ist erreicht –, spielt die Dynamik der Erzählung bei der Ambiguitätseinhegung in 14,42–3 den Aspekt ein, dass dieser Zustand keinen Stopp einer Bewegung markiert. Die größtmögliche Nähe der Gottesherrschaft ist zwar erreicht, aber damit ist die entscheidende Bewegung in Richtung eines irdischen Einbruchs der Gottesherrschaft noch nicht zum Abschluss gekommen.
Überträgt man zudem den Gedanken einer Beinahe-Gleichzeitigkeit aus 14,42–3 auf die erste Basileiaaussage, zeichnet sich folgende Annahme ab: Genau zu dem Zeitpunkt, in welcher die Bewegung hin zu einer größtmöglichen Nähe zum Abschluss gekommen ist (ἤγγικɛν), beginnt die Zeit für den letzten Schritt. Für den markinischen Jesus steht die Gottesherrschaft unmittelbar nah vor der Tür, welche gerade dabei ist, sich zu öffnen. Bei der „Konzeptionalisierung“ dieser beginnenden Zeit denkt Markus gleichermaßen in Richtung eines Zeitpunktes und einer Zeitspanne. Dieses Zugleich unterschiedlicher „Zeitfenster“ schwingt sowohl im Begriff καιρός („sowohl d. Zeitpunkt wie d. Zeitabschnitt“Footnote 43) als auch in der Basileiaaussage mit. Diese Aussage fokussiert sich ganz auf den Moment größtmöglicher Nähe der Gottesherrschaft unmittelbar vor deren tatsächlichem Einbruch in die Welt und ist doch in eine sich dehnende Zeitspanne hineingesprochen, in welcher Markus zusammen mit seiner Gemeinde eine existentielle Krise durchlebt. Und genau diese Gegenwartserfahrung wirkt einem unmittelbaren Erleben der so nahen Gottesherrschaft entgegen.
Demnach löste eine Fokussierung allein auf den Zeitpunkt der heilvollen Nähe der Gottesherrschaft eine erhebliche Differenzerfahrung aus. Dächte der Erzähler umgekehrt nur in den Bahnen einer Zeitspanne, würde er die Krisenerfahrung potenziell noch spürbar verstärken, erschiene sie doch ohne greifbares Ende. Zudem liefe er Gefahr, Gott womöglich als ohnmächtig gegenüber den widerstreitenden (politischen) Kräften erscheinen zu lassen.
Die spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Zeitpunkt und Zeitspanne, welche der doppelten Zeitansage in 1,15 innewohnt, berücksichtigt beide Herausforderungen und dient ihm ganz basal dazu, die Zeitphasen der irdischen An- und Abwesenheit Jesu über alle Zäsuren hinweg fest miteinander zu verbinden, ohne einseitig den Gedanken unmittelbarster Nähe (= Zeitpunkt) in die Vorstellung einer sich unentwegt dehnenden Zeit (= Zeitspanne) zu überführen.Footnote 44 Es gilt beides gleichermaßen: Es ist sowohl der Zeitpunkt als auch die Zeitspanne der „sich öffnenden Tür“, die nicht wieder geschlossen werden kann.
Darüber hinaus erfüllt die markinische Vorstellung eines gedehnten Zeitpunktes bzw. einer punktuellen Zeitspanne noch zwei weitere, sich gegenseitig ergänzende Funktionen im markinischen Krisenmanagement: Auf der einen Seite eröffnet diese Zeit-Vorstellung Handlungsspielräume für die Menschen in der Jesusnachfolge. Sie sind gefordert, in der Zeitspanne der sich öffnenden Tür selbst aktiv zu werden und die Auftaktmahnungen zu Umkehr und Glaube an das Evangelium schrittweise in die Tat umzusetzen. Diese Zeitspanne ist zugleich aber die Ära, in der die Menschen der extremen Gefahr ausgesetzt sind, den heilvollen Status als Berufene doch noch endgültig zu verspielen (z.B. 4,16–17; 13,36). Der existentiellen Verunsicherung, die sich aus dieser Gefährdung ergibt, wirkt die markinische Zeit-Vorstellung auf der anderen Seite effektiv entgegen und bietet Trost an.
7. Ambiguität 2.0 – Die Einhegung der Ambiguität in 1,15 ist selbst ambig
Vagheit gehört zur „Zeit“ dazu. Dies zeigt etwa jeder Versuch, den Augenblick von Gegenwart einzuholen. Ein solches Unterfangen sieht sich grundsätzlich mit der Herausforderung konfrontiert, dass ein gegenwärtiger Zeitpunkt im Moment der Definition bereits der Vergangenheit angehört.
Bei Markus erweist sich die erzählerische Einhegung des ambigen ἤγγικɛν mit seinen komplexen und zugleich mehrdeutigen Zeitkonnotationen auf einer Metaebene als eindeutig und vage zugleich. Diese Einhegung ist gleichermaßen textlich fassbar und bleibt doch im Detail unterbestimmt. Die enge erzählerische Vernetzung von 1,15 und 14,42 deutet darauf hin, dass Markus die Ambiguität aus 1,15 in 14,42 intendiert einhegt.Footnote 45 Zur gleichen Zeit lässt der Erzähltext offen, ob die beiden ἤγγικɛν-Aussagen über die Profilierung des Intensitätsgrades von „Nähe“ hinaus noch auf anderen Ebenen oder unter anderen Blickwinkeln miteinander interagieren. Es bleibt völlig in der Schwebe, inwieweit sich die Initiative des Judas auf die Nähe der Gottesherrschaft auswirkt. Man kann lediglich negativ festhalten, dass Markus mit der Ankunft des Verräters bei Jesus in Getsemani zumindest nicht ausdrücklich die Vorstellung verbindet, dass mit diesem Zeitpunkt die Gottesherrschaft in die irdische Wirklichkeit einbricht.Footnote 46 Von daher entsteht der Eindruck, dass Markus die Querverbindung zwischen 1,15 und 14,42 nicht nur intendiert, sondern intendiert vage herstellt. Er reduziert die in 1,15 intendiert hergestellte Mehrdeutigkeit, ohne gänzlich Eindeutigkeit herzustellen.
Diese „beunruhigende“ Dynamik zeigt sich auch noch unter einer anderen Perspektive: Markus scheut sich nicht, die Erstaussage Jesu in 1,15 als programmatische Grundsatzerklärung herauszustellen und den Aussageinhalt doch über weite Strecken der Erzählung im Vagen und Mehrdeutigen zu halten. Der „späte“ Zeitpunkt der Ambiguitätseinhegung ist erzählkonzeptionell maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Erzähladressat bei der Entfaltung der Basileia-konzeption zwischen 1,15 und 14,25 (= der letzten Basileiaaussage vor 14,42) weitgehend im Unklaren darüber bleibt, wie „nah“ ἤγγικɛν zu denken ist.Footnote 47
Über diesen Umgang mit der Erstaussage Jesu profiliert der Erzähler exemplarisch, dass er literarisch und theologisch Vages und Mehrdeutiges mitsamt den zugehörigen Prozessen der Auslösung und Einhegung als eigenständigen und zentralen Pfeiler in seinem Krisenmanagement einsetzt: Das Weichenstellende der Heilsbotschaft Jesu erschließt sich in der markinischen Erzählkonzeption nicht von vornhinein vollumfänglich und eindeutig. Die zunächst vagen Konturen dieser Botschaft gewinnen erst langsam an Gestalt, ohne jedoch jemals völlig eindeutig zu werden. Der Erzähler belässt es dabei, die Ambiguität einzuhegen, und verweist sich selbst zusammen mit seinen Adressaten dauerhaft auf die Jesuserzählung zurück. Diese Erzählung betrachtet Markus für seine Erzählgemeinschaft als den nachösterlichen Begegnungsraum mit Jesus.Footnote 48
Diese Überlegungen betreten endgültig die Ebene einer erzählstrategischen Auswertung.Footnote 49 Unter diesem Betrachtungswinkel ist der Aufweis einer unabänderlichen, höchst intensiven Nähe der Gottesherrschaft in der eschatologischen Erfüllungszeit, den Markus über die Auslösung und Einhegung der Ambiguität von ἤγγικɛν führt, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Der Erzähler dokumentiert in diesem Aufweis seine Hoffnung, dass sich der finale Schritt hin zur umfänglichen irdischen Durchsetzung der Gottesherrschaft von keiner irdischen Institution oder keinem irdischen Machthaber aufhalten oder abwenden lässt. Diese Hoffnungsbekundung spielt Markus zu einem überaus markanten Zeitpunkt innerhalb der erzählten Welt kongenial ein. Es ist nicht mehr die friedliche, sichere und nahezu unbefangene Zeit der Sammlung der ersten Jünger und der Verkündigung in Galiläa.Footnote 50 Stattdessen steht seine Verhaftung unmittelbar bevor, welche geradewegs zu Verurteilung durch Pontius Pilatus und zur Hinrichtung am Kreuz führt. Damit erfolgen die Ambiguitätseinhegung und Hoffnungsbekundung im Hinblick auf die Nähe der Gottesherrschaft exakt zu jenem Zeitpunkt (ἦλθɛν ἡ ὥρα), an welchem sich irdische Machthaber und Institutionen gegen Jesus und Gott durchzusetzen scheinen. In die Situation einer vermeintlichen göttlichen Niederlage hinein bringt Markus über die rückwirkende Einhegung der Ambiguität von 14,42–3 zurück auf 1,15 seine Überzeugung ein, dass Gott unter allen Umständen das letzte Wort behalten und seine Herrschaft irdisch gegen sämtliche Widerstände durchsetzen wird.
Unterdessen vergegenwärtigt das erzählerische Zusammenspiel der ersten Basileiaaussage mit der Aussage über die Nähe des Verräters eine stets virulente Gefahr: Bei aller unabwendbaren, heilsamen Nähe der Basileia besteht – und dies ist für die Erzähladressaten von elementarer Bedeutung – dennoch das Risiko, sich in letzter Sekunde von ihr abzuwenden und aus ihr herauszufallen; verortet man die markinische Gemeinde in Rom, hat sie diese Gefahr in der neronischen Verfolgung hautnah und brutal mit extrem desaströsen Auswirkungen erleben müssen.
Aufs Ganze gesehen gibt der Erzähler mit der Wahl genau dieses späten Zeitpunktes für die Ambiguitätseinhegung der ersten Basileiaaussage (= 14,42–3) ein strategisch entscheidendes Signal: Selbst im Moment der größtmöglichen Krisenerfahrung und der bevorstehenden vollständigen Auflösung des Jüngerkreises (14,50–2) ist noch ein bedeutsamer Erkenntnisfortschritt möglich, hier konkret im Hinblick auf die Näherbestimmung der Nähe der Gottesherrschaft.
Markus ist sogar darauf angewiesen, dass die Gemeinde dieses Signal nicht exklusiv auf die eine Situation der Verhaftung Jesu beschränkt. Gesteht sie diesem Signal vielmehr einen exemplarischen Charakter zu, kann die Gemeinde folgenden Gedanken ableiten: Erfahrungen von existentiellen Krisen und radikalen Destabilisierungen im Kreis der Nachfolgegemeinschaft machen Erkenntnisfortschritte nicht unmöglich. Nur unter dieser Voraussetzung kann das markinische Krisenmanagement seine Wirkung in der Gemeinde entfalten und zu deren Konsolidierung beitragen. Der Erzähler beansprucht ja mit seinem Evangelium, die Worte und Taten Jesu authentisch zu überliefern und sie auch transparent auf die Situation der Nachfolgegemeinschaft in den existentiellen Herausforderungen der 70er Jahre werden zu lassen. Dieses Herstellen von Transparenz kann der Gemeinde einen wirklichen Erkenntnisfortschritt inmitten der Krise ermöglichen: Die Gemeinde soll die gegenwärtige existentielle Krisenerfahrung im Licht des Jesusereignisses verstehen und Optionen für die Zukunftsgestaltung in aller möglichen Verunsicherung und Gebrochenheit kennenlernen. Dabei beansprucht Markus, das verfügbare Wissen in Gestalt der überlieferten Worte und Taten des irdischen Jesus situationsangemessen und authentisch deuten zu können.
8. Gesamteinordnung und Schlussreflexionen
An der ersten Basileiaaussage lässt sich exemplarisch und weichenstellend nachvollziehen, wie Markus bei der literarisch-theologischen Verarbeitung seiner Gegenwartserfahrung vage und ambig ansetzt, und zwar sowohl formal-gestalterisch als auch inhaltlich. Er betrachtet Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und zugespitzte Zweideutigkeiten als geeignete literarische Gestaltungsmittel, um die kollektiven Krisen- und Traumaerfahrungen seiner Gegenwart narrativ-theologisch zu bearbeiten.
Der gezielte Einsatz von Ambiguitäten im weiten Sinn ermöglicht es Markus, die erlebte Widersprüchlichkeit seiner Gegenwartserfahrung in seiner Jesuserzählung auszuhalten und von vermeintlich eindeutigen Antworten abzusehen, welche dieser Widersprüchlichkeit in seinen Augen kaum gerecht würden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die beibehaltene Vagheit der Basileiaaussage in 1,15 im Sinne einer Ambiguität 2.0 für den Erzähler unter rezeptionstheoretischer Perspektive als schlichtweg grundlegend: Nur durch die konsequente Beibehaltung dieser Vagheit über 14,42 und letztlich über das Erzählende hinaus kann die theologische Mehrdeutigkeit von 1,15 ihr Potenzial zur Krisenbearbeitung auch noch bei einer wiederholten Lektüre entfalten. Bestünde am Ende der Erstlektüre völlige Klarheit über das ἤγγικɛν aus 1,15, würde die erste Basileiaaussage bei einer zweiten Lektüre schon keine Ambiguität mehr auslösen und könnte auch nicht mehr entsprechend im Krisenmanagement wirksam werden und dazu auffordern, die so gegensätzliche, spannungsgeladene Grunderfahrung von Heilszusage und drohendem Heilsverlust konstruktiv auszuhalten.Footnote 51
Dieser Ansatz im Krisenmanagement ist für die Erzähladressaten fordernd, möglicherweise überfordernd. Markus zeigt diesbezüglich die nötige Sensibilität, indem er Rückschläge im Aufbau der Jesusgemeinde nicht ausblendet. Er macht solche erlebten Rückschläge zum integralen Bestandteil seines Gemeindeentwurfs. Im narrativen Spannungsbogen rund um die beiden ἤγγικɛν-Aussagen zeigt dieser Entwurf zwischen Erstberufung und Jüngerflucht bereits den ursprünglichen Jüngerkreis in einer existenzgefährdenden Instabilität und Zerbrechlichkeit. Die Jünger stehen in der erzählten Welt als Figuren vor Augen, welche den Anspruch Jesu wiederholt nur höchst unzureichend realisieren. Wiewohl sie Kontakt zu Jesus „von Angesicht zu Angesicht“ haben, bleiben die Jünger bei Markus gerade auch in der Heilszeit der irdischen Gegenwart Jesu alltäglichen Machtfragen verhaftet (z.B. 9,34). Sie suchen den Zugang zu Jesus zu kontrollieren (z.B. 9,38b; 10,13b) und ergreifen angesichts des drohenden „Karfreitags“ die Flucht (14,50). Schließlich leugnet Petrus gleich dreimal, Jesus überhaupt gekannt zu haben (14,66–72).
Damit signalisiert Markus seiner Gemeinde: Der Fortbestand des Jüngerkreises ist nicht nur aktuell akut gefährdet, sondern generationsübergreifend, extrem etwa im Zugehen auf die Passionsereignisse und dann später durch den jüdisch-römischen Krieg und seine Folgen sowie – verortet man die Gemeinde in Rom – auch natürlich infolge der neronischen Verfolgung. Darüber hinaus stuft der Erzähler aber auch alltägliche Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen im gegenwärtigen Erleben der Christusgläubigen als eminent existenzgefährdend für die Gemeinde ein.
Der Aufweis, dass die Gefährdungslage generationsübergreifend besteht, soll für die Adressatengemeinde eine entlastende Funktion haben, sie trotz eigener Gebrochenheiten in der Nachfolge stärkenFootnote 52 und ggf. in die Gemeinde reintegrieren („zweite Chance“Footnote 53). Denn dieser Aufweis erinnert doch daran, dass der Jüngerkreis schon während der irdischen Anwesenheit Jesu überaus labil war. Wenn sich die Jesusnachfolge selbst zur Zeit seiner heilvollen irdischen Gegenwart als so herausfordernd darstellt, überrascht es nicht, dass Nachfolge auch während der Zeit seiner Abwesenheit so erlebt wird.
Im Horizont dieser aufgewiesenen Dauerlabilität ist das markinische Krisenmanagement aufs Ganze gesehen von der Grundabsicht getragen, eine existentielle Spannung auszuhalten: Da ist auf der einen Seite die Wahrnehmung der eigenen Endzeit als düstere, dunkle Phase in der mit Jesus angebrochenen eschatologischen Erfüllungszeit; auf der anderen Seite ist da die leise Hoffnung auf einen Gott, der das Geschick der Menschheit in dieser Endzeit zum Guten wenden wird.Footnote 54 Diese beiden so gegensätzlichen Seiten hält Markus in einer spannungsvollen Gleichzeitigkeit und ist dabei von der Erwartung getragen, dass die Gottesherrschaft direkt vor der Tür steht, die gerade unaufhaltsam dabei ist, sich zu öffnen.
Competing interest
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