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Das introspektive Ich des Paulus nach Phil 1–3: Ein Entwurf

Published online by Cambridge University Press:  02 May 2019

Eve-Marie Becker*
Affiliation:
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Universitätsstraße 13–17, 48143 Münster, Germany. Email: [email protected]
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Abstract

This article interprets Paul's self-reflections in Phil 1 in light of the most current discourse about the ‘(introspective) self’ in antiquity: it is argued that Paul – in his last letter writing during his final imprisonment (in Rome?) – offers insights into his ‘inner self’ by construing the reflective mode of introspection. Similar to how ancient philosophers – such as Seneca in his letters – develop introspection when dealing/coping with the expectatio mortis, Paul too, in Phil 1–3, has to respond to his expectation of his pending death. While Phil 1.21–6 – which is to be read in the frame of chapters 1–3 – reflects Paul's situation highly individually and autobiographically, ancient philosophical introspective speaking modes in general tend to remain generic. In its ‘autobiographical consolidation’ Phil 1.21–6 is also to be seen in a ‘contrastive analogy’ to Rom 7.

German abstract: Der vorliegende Beitrag deutet die paulinischen Selbstreflexionen in Phil 1 im Lichte des gegenwärtigen Diskurses über das „(introspektive) Ich/Selbst”. In seinem letzten brieflichen Schreiben, wohl aus römischer Haft, gibt Paulus wertvolle Einsichten in sein „inneres Ich”, indem er den reflexiven Sprachmodus der Introspektion wählt. Antiken Philosophen, die den Denk- und Sprachmodus der Introspektion angesichts der Bewältigung ihrer expectatio mortis wählen, ähnlich muss sich auch Paulus in Phil 1–3 mit der Erwartung seines baldigen Todes auseinandersetzen. Während das introspektive Ich in Phil 1,21–6, das sich im Kontext der Kapitelfolge 1–3 umfassend in seiner Bedeutung erschließt, die Situation des Paulus autobiographisch reflektiert, bleiben die introspektiven Denk- und Sprachmodi im antiken philosophischen Diskurs zumeist generisch. In seiner autobiographischen Verdichtung ist Phil 1,21–6 aber auch in einer kontrastiven Analogie zu Röm 7 zu lesen.

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Copyright © Cambridge University Press, 2019

1. Die Fragestellung und die These

Die Entdeckung des „inneren Menschen“ ist in Philosophie und Anthropologie seit langem fest verwurzelt – sie setzt nicht erst mit Descartes oder Kant ein. Sie begegnet vielmehr in verschiedenen Varianten bereits bei Platon und Aristoteles, im delphischen Aphorismus des γνῶθι σεαυτόν (vgl. (Ps.-)Platon, Alkibiades 1,129a) oder auch bei Paulus. Bis in die Gegenwart hinein hat die Entdeckung des „inneren Menschen“ eine breite Wirkungs- und Interpretationsgeschichte hervorgebracht, die inzwischen auch in die Psychologie und Neurowissenschaften reicht.Footnote 1 Im Lichte des vielfältigen antiken selfhood-DiskursesFootnote 2 gewinnt die Frage, wie und warum es bei einem antiken Briefeschreiber wie Paulus zur Erforschung und Beschreibung seiner „inneren Person“ kommt und in welcher Weise dabei ein „introspektiver“ Denk- und Sprechmodus gewählt wird, erneut an Bedeutung. Der vorliegende Beitrag zielt darauf, den genannten Fragekomplex zu bearbeiten.

Ich beginne zunächst mit zwei klassischen Deutungsansätzen, die uns direkt zu Paulus führen.Footnote 3 Hans Dieter Betz hat in seiner „presidential lecture“ der SNTS 1999 das Konzept des ἔσω ἄνθρωπος in 2 Kor 4,16 und Röm 7,22 ausführlich untersucht und anschließend „Paul's place in ancient anthropology“ zu bestimmen gesucht.Footnote 4 Demnach knüpft Paulus mit dem ἔσω ἄνθρωπος, getrieben von eschatologischen Diskussionen in Korinth, an das sokratisch-platonische Konzept der Innerlichkeit („inner dimension“) des Menschen im Blick auf die Suche nach Moral und Gerechtigkeit an (vgl. Platon, pol).Footnote 5 Ob Paulus das platonische Konzept bewusst oder unbewusst adaptiert hat, bleibt nach Betz dahingestellt.Footnote 6

In ihrem Alterswerk „Vom Leben des Geistes: Das Wollen“ (amerik. Original: „The Life of the Mind: Willing“), das 1974 zuerst in Teilen im Rahmen der Gifford Lectures in Aberdeen vorgetragen wurde, zeichnet auch Hannah Arendt den Apostel Paulus in die Geschichte der Entdeckung des inneren Menschen ein. Den in Röm 7 beschriebenen Kampf „zwischen dem Ich-will und dem Ich-will-nicht“ deutet Arendt als Ausdruck eines „gespaltenen Willens“. Mit Blick auf das in Röm 7,19 geschilderte Dilemma: „Nicht nämlich, was ich will, tue ich: Gutes, sondern das, was ich nicht will: Böses, das tue ich“, weist Arendt zwar auf Motivparallelen bei Ovid (Met. 7,20f.) oder schon Euripides (Med. 1078–80) hin.Footnote 7 Allerdings, so Arendt, macht allein Paulus das Dilemma zwischen Wollen und Unvermögen zu einem „Zwei-in-einem“ Gespalten-sein:

… der Wille ist nicht deshalb ohnmächtig, weil ihm etwas Äußeres Hindernisse in den Weg legen würde, sondern weil der Wille sich selbst behinderte.Footnote 8

Nach Arendt ist das Dilemma, das Paulus in Röm 7 beschreibt, per se unlösbar:

Der Wille, der da gespalten ist und auf der Stelle seinen eigenen Gegenwillen hervorbringt, bedarf der Versöhnung, muß wieder eins werden. Wie das Denken hat auch das Wollen das Eine in ein Zwei-in-einem gespalten, doch für das denkende Ich wäre eine „Versöhnung“ der Spaltung das Schlimmste, was geschehen könnte; es würde dem Denken überhaupt ein Ende setzen.Footnote 9

Daher sucht Paulus als Jude, für die

unbeantwortbaren Fragen, die sein neuer Glaube und die neuen Entdeckungen seiner eigenen Innerlichkeit aufgeworfen hatten,

letztlich Antworten im Stile der Auseinandersetzung des Hiob mit Gott (vgl. z.B. Röm 9,20–3; Hiob 10):Footnote 10

Es ist fast Wort für Wort die Antwort Hiobs, der sich Gedanken über die unerforschlichen Wege des jüdischen Gottes machen mußte.Footnote 11

Betz wie Arendt lesen Röm 7 als eminenten Beitrag zur Geschichte der Entdeckung des „inneren Menschen“ oder der „inner person“, wie Margaret E. Thrall ähnlich im Blick auf 2 Kor 4,16 sagt: „the ἔσω ἄνθρωπος is one's unseen personality, visible only to God and (in part) to oneself“.Footnote 12 In Röm 7 kommt noch etwas hinzu, was für das Thema meines Vortrags entscheidend ist. Denn hier beschreibt das „denkende Ich“, wie Arendt es nennt, wie es eine Entdeckungsreise in seine innere Welt unternimmt. Hier nämlich geschieht – und nun gehe ich über Betz’ oder Arendts Beschreibung hinaus – die nach innen gewendete Beobachtung des inneren Menschen im Sinne einer Selbst-Erforschung des „Ich“, die wir als Inspektion des inneren Ich (bes. Röm 7,14–5) oder eben als Introspektion bezeichnen können.Footnote 13

So ist auch die Konstruktion des introspektiven „Ich“ nicht erst ein Element der (hamartiologisch bestimmten) Gewissenserforschung, das mit Augustinus oder Luther aufgekommen wäre und von daher auf die Paulusinterpretation rückgewirkt hätte.Footnote 14 Das Thema der Selbsterkenntnis nimmt schon (Ps.-)Platon auf (Alkibiades 1,129b1ff.). Verschiedene Formen eines introspektiven „Ich“ begegnen bei Paulus wie auch in der antiken jüdischen Literatur (z.B. Philo, Leg. 182ff.; Josephus, Vita 10ff.) sowie in der hellenistisch-römischen, frühkaiserzeitlichen (z.B. Seneca, Ep. mor.; Marc Aurel) Welt. Ich erwähne hier zum einen, wie im „Second Temple Judaism“ „new models of moral selfhood“ entstehen, die verstärkt das „phenomenon of inner moral conflict“ in den Blick nehmen (z.B. Sir 15,15; 2 Bar 54,19; CD ii,15).Footnote 15 Zum anderen beschreibt Philo von Alexandria, der berühmte Zeitgenosse des Paulus, in seiner „Legatio“, wie er angesichts der unklaren Erfolgsaussichten seiner Mission seine inneren Gedankenspiele (ἐγὼ δὲ φρονεῖν … ἀνακινῶν τὸν ἐμαυτοῦ λογισμόν…, 182), mit denen er sich „herumschlug“, reflektierte, ohne dabei Tag oder Nacht Ruhe finden zu können (184).

Ein drittes Beispiel, das den nach innen gewendeten Denkvorgang zum Prinzip macht: Seneca fordert, sich von den Worten anderer unabhängig zu machen, um „in sich selbst hineinzusehen“ (… intus te ipse considera, Ep. mor. 80,10; vgl. z.B. auch Marc Aurel, 2,2). „Ziehe dich in dich selbst zurück“ (recede in te ipse …, Ep. mor. 7,8), so rät er dem Adressaten Lucilius. Ich komme auf Seneca später ausführlich zurück. Mit seiner Selbsterforschung liegt der stoische Philosoph nicht nur im intellektuellen „Trend seiner Zeit“. Auch ist er als Autor unter Nero ein wichtiger, wenn nicht: der wichtigste Zeitgenosse des Paulus – das gilt besonders für die Abfassung der Epistulae Morales, seines Alterswerkes.

In Röm 7 führt die nach innen gewendete Selbsterforschung des sprechenden und denkenden „Ich“, die Paulus mit dem οἶδα γὰρ … ἐν ἐμοί … (Röm 7,18) auf den Punkt bringt, zur Einsicht in das Dilemma des gespaltenen Willens (θέλειν). Dieses Dilemma ist existenziell, geht es doch mit dem Wissen um die Todesverfallenheit des Menschen (Röm 7,17.20) einher, die nach einem externen „Herausreißen“ aus dem „soma des Todes“ verlangt (Röm 7,24f.). Paulus beschreibt das denkende Ich in Röm 7 in all seinen Paradoxien und Aporien, ohne diese logisch-argumentativ auflösen zu können oder zu wollen (vgl. χάρις-Formel in Röm 7,25) – bis dahin, dass er die introspektive Selbstanalyse wie das denkende Ich selbst einer Kritik unterzieht (Röm 7,24f.).

Nun ist die paradoxale, ja aporetische Selbsterkundung des inneren Menschen bei Paulus nicht auf Röm 7 zu begrenzen. Ich möchte hier im Blick auf den Phil weiterarbeiten – einen Brief, den Betz wie Arendt in ihre Deutungen des „inneren Menschen“ und des denkenden oder selbst-reflektierenden Ich bei Paulus nicht mit einbeziehen. Auch wenn Betz’ Beurteilung: „Philippians shows no interest in the ἔσω ἄνθρωπος“,Footnote 16 lexisch und syntagmatisch zutreffend ist, so möchte ich in diesem Beitrag darlegen, dass die Konstruktion des introspektiven „Ich“, mit dem Paulus in Röm 7 die unlösbaren Dilemmata, Paradoxien und Aporien eines gespaltenen Willens beschreibt, in Phil 1 wiederkehrt – im Unterschied zu Röm 7 geschieht das in Phil 1 programmatisch in (auto-)biographisch verdichteter Form.

In Phil 1 beschreibt das denkende Ich, wie es seine innere Welt erforscht – auch hier findet diese Selbsterforschung in Hinsicht auf die existenzielle Auseinandersetzung mit dem individuellen Tod (Phil 1,20f.) statt. Im Unterschied zu Röm 7, wo Paulus den grundlegenden Zusammenhang von Sünde und Tod aufdeckt und als anthropologisches Dilemma deutet, unterliegt das Nachdenken des Paulus in Phil 1 den konkreten situativen Bedingungen seiner Gefängnishaft (schon Phil 1,7). In der Situation der Haft zeigt sich der Apostel zerrissen zwischen einer starken ἐπιθυμία, die sogar μᾶλλον κρεῖσσον verheißt (Phil 1,23), und dem πεποιθὼς οἶδα, das ἀναγκαιότερον ist (Phil 1,24f.).

In diesem Beitrag soll es also um die Interpretation der autobiographisch verdichteten introspektiven „Ich“-Rede gehen, die besonders Phil 1,21–6 prägt. Gerade dieser Textabschnitt, der sich in Hinsicht auf Rhetorik, Religionsgeschichte, Philosophie und politische Handlungstheorie als markant und vieldeutig erweist, hat in der jüngsten Phil-Forschung eine erhöhte exegetische Aufmerksamkeit erfahren.Footnote 17 Die verschiedenen Ansätze zur Beschreibung von Phil 1,21–6 zeigen durchaus Konvergenzen: Sie stellen den äußerst persönlich gehaltenen Redegestus des Paulus heraus, weisen auf die sozial-ethische Implikation und Funktion seiner Rede hin und decken die philosophisch gefärbte Sicht des Paulus beim Umgang mit dem Dilemma von Tod und Leben auf. Hier lässt sich eine kohärente, über die Betrachtung der AbfassungssituationFootnote 18 hinausreichende Deutung des paradoxalen inneren Dilemmas, das Paulus in 1,21–6 darlegt, anschließen.

Im Folgenden werde ich die Sicht auf das innere „Ich“, die Paulus in Phil 1–3 entwirft, als ideengeschichtlichen Beitrag zur Entwicklung eines „introspektiven Ich“ in Briefform verstehen. Ich werde zeigen, wie Paulus von Kapitel 1 zu Kapitel 3 eine paradoxale Dynamik biographisch-individualisierter „Ich“-Rede aufbaut. Zunächst richte ich den Blick auf Phil 1, wo Paulus im Wechsel von interaktiver und introspektiver „Ich“-Rede den Adressaten in Philippi seinen inneren Zwiespalt schildert: Obwohl Christus Leben und Sterben „Gewinn“ bedeutet (κέρδος, Phil 1,21), ist das fortdauernde Leben „im Fleisch“ (ἐν σαρκί, Phil 1,22) dennoch als „Frucht“ seiner Arbeit (καρπὸς ἔργου, Phil 1,22) zu verstehen. So besteht das persönliche Dilemma des Paulus darin, schon jetzt zu Christus kommen zu wollen und doch mutmaßlich physisch erst noch, auf unbegrenzte Zeit, am Leben zu bleiben. Paulus kann das Dilemma seiner Situation logisch-argumentativ nicht auflösen und lässt die Paradoxien der „Ich“-Erfahrung letztlich in die eschatologische Erwartung einer Transformation seiner selbst münden (Phil 3,20f.).

Im Vergleich mit der Selbst-Konstruktion Senecas in seinen Briefen wird deutlich werden, wie Paulus im Phil sein „Ich“ durch Selbstbeobachtung kultiviert. Mit der „Selbst-Kultivierung“ leistet der Apostel einen wichtigen Beitrag zur religiösen Individualisierung und philosophischen Subjektivierung in der frühkaiserzeitlichen Welt.Footnote 19

2. Die Konturen der paulinischen Introspektion in Phil 1–3

2.1 Interaktion und Introspektion in Phil 1

Das erste Kapitel des Phil ist von „Ich“-Rede und der Selbstdarstellung des Apostels geprägt. Nach dem eher kurzen Präskript (1,1–2), in dem Paulus und Timotheus gemeinsam als Absender des Briefes erscheinen und die Interaktion mit den Philippern formal in Gang setzen, wechselt Paulus bereits im Proömium bzw. der Eucharistie (1,3–11) in die „Ich“-Rede. Dem Apostel geht es einerseits darum, seine persönliche Verbundenheit mit den Adressaten (z.B. κοινωνία: 1,5.7) zum Ausdruck zu bringen. Andererseits sucht er, seine biographische Situation zu erläutern und zu deuten (1,7ff.).

Paulus befindet sich im Zuge seines Einsatzes für die „Apologie des Evangeliums“ (1,7.16) in Gefangenschaft. Die emotionale Nähe zu den Philippern (vgl. die Innerlichkeits-Semantik in 1,7ff.: καρδία, σπλάγχνα) und die Betonung der Gemeinschaft mit ihnen können in dieser Situation Zuversicht und gegenseitigen Trost vermitteln – auch diese Motive wurden in der Phil-Exegese vielfach beschrieben. Im Präskript und Proömium zeigt sich Paulus in persönlicher Interaktion mit den Briefadressaten in Philippi.

Mit einer disclosure formula leitet Paulus in 1,12 das eigentliche Briefcorpus ein. Er teilt eingangs vor allem seine Überzeugung mit, dass seine jetzige biographische Situation in Haft einschließlich der Ungewissheit über den Ausgang des Prozesses gegen ihn der προκοπή des Evangeliums dienen wird (1,12). Die „Freude“ des Apostels ist darin begründet, dass in jedem Fall – „auf verschiedene Weise, entweder unter Vorwand oder in Wahrheit“ – „Christus verkündigt“ werde (1,18).

In 1,18 kommt es zu einer ersten Zäsur: Paulus vollzieht den Übergang von der Beschreibung gegenwärtiger (χαίρω) zu zukünftiger Freude (χαρήσομαι) und entwickelt so eine Sicht auf das ihm prospektiv Bevorstehende. Dabei wechselt er von der kommunikativen Ebene des disclosure, das willensgeleitet ist (γινώσκειν δὲ ὑμᾶς βούλομαι …, 1,12), zur beschreibenden Reflexion seiner persönlichen Einsichten und Überlegungen (οἶδα …, 1,19).

In Phil 1,21 findet eine weitere Zuspitzung der persönlichen Rede statt. Das, was Paulus bevorsteht – sei es Leben oder Tod (1,20) – betrifft ihn unmittelbar selbst: sein σῶμα (1,20), seine Person (ἐμοί als dativus commodi: 1,21). Paulus teilt den Philippern in 1,21–6 seine zutiefst persönlichen Erwartungen und emotional gefärbten Hoffnungen, seine religiösen Sehnsüchte (ἐπιθυμία, 1,23) mit, bevor er in 1,27ff. in den kommunikativen Redegestus von 1,3ff. zurückkehren und in die ermahnende Rede (bis 2,18) eintreten wird. In 1,21–6 gewährt Paulus Einsicht in die Erforschung der Innenwelt seiner Person, in sein „inneres Ich“: Er legt dar, wie er seine innere Befindlichkeit im Modus der Introspektion erforscht (hat).

Der Apostel zeigt sich dabei, sich selbst beobachtend und erforschend, in einem inneren Zwiespalt (… ἐκ τῶν δύο …, 1,23a), der ihn förmlich beherrscht (συνέχομαι). Helmut Köster übersetzt: „ich bin von zweierlei beherrscht und dadurch wahrlich in einem Zwiespalt“.Footnote 20 Von der einen Seite sieht sich Paulus durch seine religiöse Sehnsucht getrieben, bei Christus sein zu wollen (allerdings ohne θέλειν – außer 2,13), von der anderen Seite seiner apostolischen Verantwortung verpflichtet, um der Gemeinde willen am Leben bleiben zu sollen (1,23b.24). Was er selbst wählen soll – so er denn die Wahl hätte –, weiß er nicht (… οὐ γνωρίζω: 1,22b).

Darin, dass Paulus sein persönliches Verlangen und sein biographisches Geschick einmal mehr dem Prinzip, die προκοπή des Evangeliums zu vermehren (1,25), unterordnet, exemplifiziert er die von ihm selbst angenommene Rolle als δοῦλος (1,1; s. auch 2,7) wie auch die praktische Übung der „Demut“.Footnote 21 Er tut dies, noch bevor er der Gemeinde die ταπεινοφροσύνη als ein an Christus orientiertes Ethos (2,3) vorstellt, das er anschließend ausführlich durch exempla konkretisiert (2,6–11; 2,19–24; 2,25–30).Footnote 22

2.2 Extrospektion und autobiographisches self-fashioning in Phil 2–3

In Phil 2 wechselt Paulus von der introspektiven Sicht auf das eigene Ich zum Modus dessen, was ich als „Extrospektion“ beschreiben möchte. Die Extrospektion richtet den Blick nach außen und erforscht dabei die Anderen. So ergänzt und erweitert der extrospektive Denk- und Sprechmodus die introspektive Konstruktion des „Ich“. Auch Seneca nutzt die Extrospektion zur Erkundung des/der Anderen, um so wiederum eine umso stärkere Nähe seiner Person zum Adressaten seines Schreibens herstellen zu können (inquiro de te et ab omnibus sciscitor …, quid agas … verba dare non potes: tecum sum…, Ep. mor. 32,1). Wenn Paulus in Phil 2 den Blick nach außen verlagert, so richtet er ihn auf Christus, Timotheus, Epaphroditus und immer wieder auch auf sich selbst (1,30; 3,17). Der Apostel sucht mit der extrospektiven Sicht auf andere und sich selbst, die brieflich vermittelte Gemeinschaft mit den Philippern weiter zu stärken.

Paulus ist grundsätzlich um das rechte πολιτεύεσθαι der Philipper besorgt (1,27). Doch die persönliche Fürsorge des Paulus allein kann in Zukunft nicht genügen – der Gemeinde müssen angesichts des möglichen Auftretens von Gegnern (3,2) oder „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18) zusätzliche Rollenmodelle vor Augen gestellt werden. Das geschieht im Modus der Extrospektion – von Paulus gezeigt zunächst an drei positiven Fallbeispielen, die durch den Hinweis auf sich selbst, d.h. das apostolische Vorbild, gerahmt werden (… εἴδετε ἐν ἐμοί, 1,30; συμμιμηταί μου … σκοπεῖτε, 3,17): (1) Das φρονεῖν der Gemeinde stellt Paulus als eine Henophronesis vor, die die innere Gemeinschaft (χαρά) mit dem Apostel stärken (2,1–3) und von der Orientierung an Christus ihren Ausgang nehmen soll (2,5). Darin (τοῦτο) liegt der Maßstab der kommunitären Phronesis. Das Beispiel Christi (2,6–11) ist in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch – die Klimax liegt darin, den Gehorsam bis zum Tod am Kreuz gezeigt zu haben (2,8b–c). Die von Gott selbst gewirkte Erhöhung setzt erst bei der äußersten Erniedrigung im Tod an (διό, 2,9). Die Beschäftigung mit dem Tod, die schon die introspektive Selbsterforschung des Paulus in 1,21–6 veranlasste, begegnet erneut im Christus-exemplum – hier am Wendepunkt von ultimativer Erniedrigung zur kosmischen Erhöhung. (2) Auch am Beispiel des Timotheus (2,19–24) kann die Gemeinde lernen und Erkenntnis gewinnen (… γινώσκετε, 2,22): Im Unterschied zu vielen anderen hat Timotheus, der ἰσόψυχος mit Paulus ist (hapax legomenon in 2,20), nicht nach seinen eigenen Interessen gehandelt, sondern nach dem, was Christus entspricht, gesucht (2,21). Timotheus exemplifiziert somit das rechte σκοποῦντες, das Paulus zuvor von den Philippern als Gesinnung der ταπεινοφροσύνη verlangt hatte (2,4). (3) Mit dem Beispiel des Epaphroditus (2,25–30) kommt Paulus noch einmal auf das Motiv der Auseinandersetzung mit dem Tod zurück: Epaphroditus ist wegen des Werkes Christi nahe an den Tod herangekommen. Das Syntagma μέχρι θανάτου in 2,30 nimmt das, was Paulus über den Vorgang der Erniedrigung Christi gesagt hatte (2,8b), wieder auf. Epaphroditus war so krank, dass er dabei dem Tode nahe war (2,27a).Footnote 23 Gott aber hat sich seiner erbarmt (2,27b) – auch hier klingt 2,6–11, genauer: das Erniedrigungs-Erhöhungsschema von 2,8–9 wieder an. Dabei liegt in 2,27–30 der Fokus darauf, die Bedeutung des Wirkens des Epaphroditus für Paulus (2,25.27b) und für die Philipper (2,25–6.28–30) zu erkennen.

In Phil 2 soll also die extrospektive Sicht auf Christus, Timotheus und Epaphroditus den Philippern helfen, erkennend zu lernen, wie das kommunitäre „Gleichgesinntsein“ (Henophronesis), das Paulus den Philippern von 2,1ff. an im Rahmen von Ermahnung und Belehrung (seit 1,27ff.) vor Augen gestellt hatte, zu realisieren sei. Paulus teilt die extrospektive Sicht mit den Philippern und wird ihnen nicht zuletzt auch in der gemeinsamen Betrachtung der Vorbilder anderer wiederum selbst zum Beispiel, das nachzuahmen, zu imitieren ist (3,17).Footnote 24 Das gilt besonders in der Auseinandersetzung mit Gegnern.

Denn mit der polemischen Warnung vor „bösen Arbeitern“ (3,2) und den „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18) hält Paulus in Phil 3 die extrospektive Perspektive weiter aufrecht – nun ex negativo gewendet. Es gilt, die „Hunde“ und die „Zerschneidung“ zu sehen (βλέπετε), zu identifizieren und so enttarnen zu können (3,2).

Die Schilderung der eigenen Biographie (3,3ff.) steht wiederum im Kontrast zur Negativfolie möglicher Gegner und Opponenten. Der Apostel betreibt mit dem autobiographischen Schreiben self-fashioning (bes. 3,4–8),Footnote 25 um sodann erneut in den Modus der extrospektiven Selbstbeobachtung (3,12–16) einzutreten, in dem er das Dilemma seines Eiferns beschreibt, ohne schon das Ziel der „Erwählung von oben“ (ἄνω κλῆσις, 3,14) erreicht zu haben. Umso mehr bemüht sich Paulus darum, das βραβεῖον zu erlangen (Agon-Metaphorik).Footnote 26 Motivparallelen hierzu finden sich bei Seneca (Ep. mor. 12,9) unter Aufnahme von Vergil (Aen. 4,653; vgl. auch Seneca, Vit. beat. 19; Ben. 5,17,5; Horaz, Carm. 3,29,41).

Die extrospektive Sicht auf paradigmatische Vorbilder (2,6–30*) und auf Gegner (3,1ff.), die Paulus wiederum in einen Kontrast zu sich selbst stellt (3,4ff.), ergänzt die introspektive Einsicht, die Paulus in Kapitel 1 in seine innere Situation gewährt hatte. Beide Sichtweisen – die intro- wie extrospektive – werden durch das Motiv des Todes und der Todesnähe (2,8–30*) zusammengehalten. Das Todes-Motiv verknüpft die introspektive Selbsterforschung von Phil 1 mit der extrospektiven „Fremd“-ErforschungFootnote 27 in Phil 2–3. Der Aspekt der expectatio mortis ist für Phil 1–3 also insgesamt grundlegend (θάνατος κτλ. in 1,20.23; 2,8.27.30; 3,10) und soll im Folgenden näher untersucht werden.

2.3 Introspektion im Angesicht der Todesfurcht

Im Anschluss an die Konstitution der Interaktion mit den Philippern (1,1–11) stellt der Apostel seine biographische Situation und seine „Ich“-Erfahrungen dar (1,12–26). Die introspektive Sicht in seine innere Situation (1,21–6) bildet den Höhepunkt der persönlich gehaltenen „Ich“-Rede in Phil 1. Paulus legt sein persönliches Dilemma, das in seiner nach innen gewendeten Selbsterforschung sichtbar wird, in Paradoxien dar, die seine innere Zerrissenheit widerspiegeln (sollen). Das kommunikative, ja emotionale Verhältnis zu den Briefadressaten (… ὑμᾶς, 1,12; … πρὸς ὑμᾶς, 1,26) rahmt gleichwohl die persönliche Selbstdarstellung des Apostels.

Ein vertiefter vergleichender Blick auf Seneca und sein briefliches Konzept der Introspektion ist hier erhellend.Footnote 28 Denn die Konstruktion des „introspektiven Ich“ in Phil 1,22f., das seine Präferenzen und potentiellen Wahlmöglichkeiten (in der Situation der Gefängnishaft) zu erforschen sucht, ist als eine besonders intensive Form der Selbstwahrnehmung und -darstellung zu verstehen, wie sie sich auch in Senecas Briefen findet.

Die Selbsterforschung setzt gemeinhin beim Moment der allgemeinen Selbstbetrachtung an: So definiert Seneca „Gesundheit“ (vgl. etwa Ep. mor. 84,1) mit Hilfe verschiedener Pronomina als eine kongruente „Selbst“-Erfahrung. Die introspektive Selbsterforschung als besonders intensive Form der Selbstwahrnehmung geht als selbstgewählter Rückzug in sich selbst von statten (Ep. mor. 9,13). Das introspektive „Ich“ dient zugleich der Erforschung der eigentlichen Werte (introrsus bona tua spectent, Ep. mor. 7,12). Seneca lässt die Introspektivität immer dann sichtbar werden, wenn er – indem er seine selbst-beobachtenden Aktivitäten darlegt (observabo me protinus, Ep. mor. 83,2) – die maximale Konfrontation mit sich selbst in der Gegenwart sucht. Pierre Hadot hat diese „Ich“-Erfahrungen im Rahmen der geistigen Übungen der antiken Philosophie – so auch der Stoa – einmal wie folgt beschrieben:

Das Bewußtsein seiner selbst ist nichts anderes als das Bewusstsein eines Ich, das im gegenwärtigen Augenblick handelt und lebt.Footnote 29

Die moralphilosophischen und ethischen Implikationen dieser „Ich“-Bewusstmachung und -Erforschung liegen auf der Hand,Footnote 30 wie etwa die „Sorge um sich selbst“ (ἐπιμέλεια – vgl. schon (Ps.-)Platon, Alkibiades 1,129b).Footnote 31 Die Frage, die mich indes in diesem Beitrag weiter beschäftigt, ist: Wie, wann und warum kommt es zu der nach innen gewendeten, also introspektiven Erforschung und Beschreibung des inneren Ich? Dieser Vorgang lässt sich auch als nach innen gewendeter „Bewegungsablauf des denkenden Ich“ beschreiben.

Seneca bringt das introspektive Ich vor allem an den Stellen zum Einsatz, wo er die menschliche Innerlichkeit im Angesicht des Todes erforscht (sui amor est et permanendi conservandique se insita voluntas atque aspernatio dissolutionis…, Ep. mor. 82,15). Diese Form der „Selbst“-Erforschung dient der Überwindung des metus mortis, der Todesangst (vgl. etwa Marc Aurel, 4,5), die so stark ist, dass sie alle anderen Lebensstunden überschattet (Seneca, Ep. mor. 4,9). So ist die Selbsterforschung, um noch einmal mit Hadot zu sprechen, seit Platon und ähnlich auch bei den Stoikern als philosophische „Übung im Sterben“ zu sehen:

Bei dieser Übung ist das Ich völlig in die Gegenwart eingegrenzt.Footnote 32

Marc Aurel wird später in seinen „Selbstbetrachtungen“ mit sich selbst bzw. seiner „Seele“: ὑβρίζεις, ὑβρίζεις ἑαυτήν, ὦ ψυχή … (2,6) sprechen.Footnote 33 Es geht Marc Aurel in seiner Lebensphilosophie – so zuletzt von Alexander Demandt beschrieben –

um die innere Haltung zu den äußeren Gegebenheiten … Man denkt an einen Bildhauer, der ständig an sich selber arbeitet, um dem Ideal eines humanen Menschen näherzukommen.Footnote 34

Die „Selbstbetrachtungen“ enthalten kaum autobiographisches Material, sondern eher „Gedankengut“ aus angeeigneter „Schultradition“, das der „Selbsterziehung“ dienen soll.Footnote 35 Schon bei Seneca, dem das Motiv der Unterhaltung mit sich selbst keineswegs unbekannt ist (Ep. mor. 10,1), ist die introspektive „Ich“-Erforschung tendenziell a-historisch geleitet: Sie findet jetzt statt und entzieht sich weitgehend einer real-biographischen Zuordnung. Sie dient, in Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, der Suche nach dem eigenen Ich und der Arbeit an der Frage, wer man selbst unabhängig von allen möglichen äußeren Zwängen ist.

Augustinus wird diese selbst-dialogische Selbsterkundung auf die Spitze treiben (… quaerenti memetipsum ac bonum meum …, Soliloquia 1,1). Doch bereits nach Seneca, der formal gesehen im brieflichen Dialog mit Lucilius verbleibt, muss man sich von den Worten Anderer unabhängig machen (Ep. mor. 80,10). Der weise Mann ist sich selbst genug (Ep. mor. 9,13.19) und sucht fortlaufend nach sapientia (Ep. mor. 65,18). Dabei erforscht er sich dauernd selbst (sapiens omnia examinabit secum …, Ep. mor. 81,10).Footnote 36 So ist der Weise den situativ verursachten Lebensbedingungen seiner Außenwelt entzogen. Das Selbstgespräch setzt freilich das Streben nach sapientia voraus, denn sonst würde die Unterhaltung mit sich selbst die Unterhaltung mit einem schlechten Menschen sein (cum homine malo, Ep. mor. 10,1).

Wie dann auch bei Marc Aurel ersichtlich (z.B. 4,5), geschieht die introspektive Erforschung des eigenen Ich bei Seneca im Zuge der Auseinandersetzung mit dem metus mortis (vgl. auch Augustinus, Soliloquia 2,1ff.; 2,23ff.). Der Philosoph sucht, sein inneres Wesen, ja sich selbst in besonderer Weise im Angesicht des Todes zu erforschen, um so die Todesangst zu beherrschen. Umgekehrt ermöglicht der Umgang mit der individuellen Todesangst erst die ultimative Selbstbetrachtung im Rahmen einer philosophischen Übung.

Bei Seneca führt die Auseinandersetzung mit dem metus mortis schließlich sogar zu einer Kritik der philosophischen Dialektik (bes. Ep. mor. 82):Footnote 37 Im Blick auf den Umgang mit der Todesfurcht – metus mortis/timor mortis (Ep. mor. 82,23) – wird für Seneca das philosophische Denken selbst zu einem kritikwürdigen Unternehmen.

Auch Paulus wählt den Modus der introspektiven Selbstbetrachtung in Phil 1 angesichts seiner persönlichen Todeserwartung. Ist auch er von Todesfurcht getrieben? Der Apostel weiß oder vermutet zumindest, dass er sterben wird, bevor sich die Parusie Christi ereignet (3,20; vgl. schon 1,10). Zwar fürchtet Paulus den Tod als solchen nicht, sondern deutet ihn als „Gewinn“ (κέρδος, 1,21). Umso mehr aber treiben ihn Ungewissheit und Sorge um: ‚Was wird mit ihm und seinen Gemeinden angesichts seines eigenen (bald) zu erwartenden Todes (1,20) geschehen? Darf er seiner persönlichen Christus-Sehnsucht nachgeben? Welche Wahlmöglichkeiten hat er (1,21–3)?‘

In der Situation der persönlichen expectatio mortis, die im Blick auf die autobiographische, real-historische Verdichtung von der stoischen Vorstellung des metus/timor mortis zu unterscheiden ist, kommt es bei Paulus zur Konstruktion des introspektiven „Ich“ und zur paradoxalen Beschreibung seines inneren Dilemmas (1,22f.). Die autobiographische Verdichtung in Phil 1–3 ist konstitutiv für den introspektiven Denk- und Schreibmodus, den Paulus wählt. Die introspektive Sicht auf die innere Zerrissenheit bringt letztlich die Aporien, mit denen das denkende Ich hier operieren muss, schonungslos zum Vorschein.

2.4 Autobiographisch individualisierte „Ich“-Erfahrung

Paulus unternimmt seine introspektive Selbstbetrachtung in Phil 1 im realen, historisch definierten Kontext der Gefängnishaft, über den er autobiographisch Auskunft gibt (1,12ff.). Zwar artikuliert sich auch Seneca in seinen Briefen als literarisch individualisierte persona. Seine philosophischen Fragen leitet er gleichwohl zumeist von bagatellartigen Beobachtungen zum alltäglichen Leben ab (vgl. etwa die Überlegungen zum Alter – angeregt durch die Beobachtung des eigenen Anwesens: Ep. mor. 12,1ff.), die kaum autobiographische Verdichtung aufweisen. Da die individuelle Person danach strebt, ein sapiens (Ep. mor. 71,26; 85,33ff.; 89,2; 90,13ff.) zu werden,Footnote 38 thematisiert Seneca in seinen Briefen die Differenz zwischen dem proficiens als dem, der auf dem Weg ist, und dem idealen sapiens. Im Blick auf das angestrebte „ideale Selbst“ („ideal self“)Footnote 39 des sapiens wird dann der Umgang mit dem Schicksal des eigenen Todes zum Gegenstand phänomenologischer oder generischer Überlegungen (z.B. Ep. mor. 66,43; 69,6).

Das Wissen um die mortalitas aller Dinge ist Allgemeingut (hoc unum scio: omnia mortalium opera mortalitate damnata sunt, inter peritura vivimus, Ep. mor. 91,12).Footnote 40 Der Einzelne repräsentiert, selbst in der persönlichen Frage des eigenen Todes (… mortem sibi…, Ep. mor. 70,12), bei der es gilt, das eigene fatum wählen zu können (O virum fortem…, cui fati daretur electio, Ep. mor. 70,21), immer nur die allgemeine Haltung des Menschen in der Konfrontation mit fortuna (Ep. mor. 70,13) und der expectatio mortis (Ep. mor. 70,9; 74,3).Footnote 41

Tugendhaft oder „gut“ zu sterben, ist nach Seneca das eigentliche Ziel der Belehrung über den Tod (bene autem mori est effugere male vivendi periculum, Ep. mor. 70,6). Denn der Tod ist nicht notwendig und – im Gegensatz zu Paulus, der den Tod entweder als „Sold der Sünde“ (Röm 6,23) oder als „Gewinn“ (Phil 1,21) beschreibt – ein malum (Ep. mor. 82,17),Footnote 42 sondern durchaus honesta … per illud, quod honestum est, id est virtus et animus extrema contemnens (Ep. mor. 82,14). So ist die Furcht vor dem Tod letztlich nicht mehr als die Furcht vor Gerüchten (sic mortem times quomodo famam, Ep. mor. 91,19). Im Tod sind die Menschen gleich (inpares nascimur, pares morimur, Ep. mor. 91,16). Nichts ist so schwer, dass es nicht ertragen werden könnte.

Seneca zeigt sich in diesen Überlegungen weder als autobiographisch individualisierte Person,Footnote 43 noch schafft er eine an historische Bedingungen gebundene realbiographische Identität – er bezweifelt tendenziell sogar deren Vorhandensein (84,10). Bei seiner Arbeit am „stoischen Selbst“ gibt er die traditionellen Rollenmodelle einer öffentlich wirksamen persona (vgl. Cicero, Off. 1) auf.Footnote 44 Wieweit die dementsprechende Selbstdistanzierung des historischen Autors im Text („self-effacement of the author“)Footnote 45 und die „Flucht aus der Zeit“,Footnote 46 die damit verbunden ist, im Rahmen der sog. „neronischen Literatur“ zu sehen sind,Footnote 47 kann ich hier nicht weiter diskutieren. Jedenfalls bleibt festzustellen, dass in Senecas Briefen die Mitteilungen des denkenden Ich über sich selbst und die Beschreibung der introspektiven Selbsterforschung eher historisch unspezifisch sind. Bei allen Überlegungen zum individuellen Tod und Sterben (z.B. Ep. mor. 70,6.15) würden autobiographische Befindlichkeiten das Streben nach dem summum bonum (Ep. mor. 71,2), das sich generell im steten Wissen um den Vorbehalt des Todes (tamquam migraturus habita, Ep. mor. 70,17) vollzieht, aus Sicht des Seneca nur behindern.Footnote 48

Anders Paulus in Phil 1: Der Apostel setzt in diesem Brief beim autobiographisch individualisierten „Ich“ des Gefangenen an, mit dem er seinem eigenen, persönlich zu erwartenden Tod entgegensieht (1,19ff.). In zweierlei Hinsicht wird deutlich, dass die biographisch individualisierte Sicht auf die expectatio mortis argumentationsleitend ist: Zum einen determinieren die konkreten situativen Umstände, wie Paulus spricht. Paulus präsentiert sich als Gefangener (1,7ff.): Der Apostel ist über den Ausgang seines Prozesses im Unklaren ist und muss mit seinem baldigen, gewaltsamen Tod rechnen. Gerade weil die persönlichen Lebensbedingungen den Aktionsradius des Apostels einschränken, geht es Paulus darum, seine bleibende Fürsorge für die Gemeinde deutlich zu machen und seine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass der Erfolg der Evangeliumsverkündigung – unabhängig von der Frage von Leben und Tod – letztlich feststeht (1,19f.).

Zum anderen beschreibt Paulus in Phil 1.3 seinen eigenen Leib (ἐν τῷ σώματί μου, 1,20) als den notwendigen, ja den konkreten religiösen Ort, an dem die Größe und Erhabenheit Christi sich zeigen.Footnote 49 Daher verleiht die Leidensbereitschaft, die Paulus selbst als individuelle Person aufbringt und dann auch von seinen Adressaten fordert (1,29f.), der eschatologisch geprägten Existenzbeschreibung zusätzliche autobiographisch individualisierende Züge.

Während Seneca davon ausgeht, dass die körperlichen Güter in totum non sunt bona (Ep. mor. 71,33), und so die auf Körperlichkeit beruhende Unterschiedlichkeit des Menschen soweit möglich ignorieren will (Ep. mor. 71,34), um den metus mortis zu besiegen (Ep. mor. 71,37; 80,5f.),Footnote 50 wird bei Paulus in Phil 1,20 das σῶμα μου (sonst: 1 Kor 13,3; Gal 6,17) zum notwendigen Ort autobiographisch individualisierter eschatologischer Ich-Erfahrung.Footnote 51 So werden in Phil 1.3 gerade die biographischen Besonderheiten des individuellen paulinischen Schicksals zum Gegenstand wichtiger autobiographischer BriefteileFootnote 52 und zum Ansatzpunkt introspektiver Selbst-Konstruktion.

2.5 Die Transformation des „Ich“ in Phil 3

In Phil 1 resultiert die introspektive Selbstbetrachtung des Paulus aus der eigenen Todeserwartung. Die Selbstbetrachtung ist persönlich formuliert, situativ und biographisch definiert und als individuelles Schicksal des Apostels stilisiert. Paulus legt im Rahmen seiner Selbsterkundung zugleich die Paradoxien, ja Aporien, in die er verstrickt ist, offen. Welche „Lösung“ sucht er für sein persönliches Dilemma und die Aporien seines Denkens?

In Phil 1–3 arbeitet Paulus mit einer doppelten Denkfigur: Zum einen wendet er in Phil 2–3 seine Aufmerksamkeit auf die extrospektive Betrachtung positiver Vorbilder (2,6–30*), möglicher Gegner und Opponenten (3,2.18) und – wiederum im Kontrast dazu – seines eigenen religiösen Werdegangs (3,4ff.) und Strebens (3,12ff.). So wird die introspektive Selbsterforschung um die extrospektive Sichtweise auf die Anderen und sich selbst ergänzt – dies dient der Stärkung der kommunitären Gemeinschaft nach innen und ihrer Abgrenzung nach außen.

Zum anderen zeichnet Paulus im Philipperbrief das Hoffnungsbild einer eschatologischen Transformation seiner selbst.Footnote 53 Paulus ist sich selbst – anders, als es Seneca über den Weisen sagt (z.B. Ep. mor. 9,13.19: se enim ipse contentus est) – nicht genug. In Phil 1–3 erhofft und erwartet Paulus für sich vielmehr eine so enge Gemeinschaft mit Christus, dass diese über eine Leidensgemeinschaft hinaus (Phil 3,10) zu einer Konformität mit Christus führt (Phil 3,21). Schon in Phil 1 bringt Paulus seine Überzeugung zum Ausdruck, dass – ganz gleich, ob durch Tod oder durch Leben – Christus an seinem Leibe „groß gemacht“ werde (1,20). Diese Hoffnung impliziert die eschatologische Erwartung einer Transformation: Paulus erwartet, in Hinsicht auf den Tod Christus gleichgestaltet zu werden (3,10), um so in die Teilhabe an seiner Auferstehung zu gelangen (καταντήσω, 3,11). So kann der Apostel schließlich auch im Blick auf das σῶμα τῆς δόξης der Gestalt nach Christus ähnlich werden (3,21). Paulus erwartet nichts weniger für sich als eine somatische, also vollständige Transformation seiner selbst zu Christus hin. Schon jetzt aber gilt, dass Christus „in ihm“ wohnt: ἐν ἐμοὶ Χριστός (Gal 2,20; ähnlich: Phil 1,21f.), also gleichsam die energetisch wirkende und wirksame Kraft in Paulus ist.Footnote 54 Zwischen dem „schon jetzt“ und dem „erst noch“ liegt eine weitere Spannung, die einmal mehr die paradoxalen Denk- und Sprachbewegungen des Paulus in Phil 1–3 bestimmt.

In der Konsequenz unterscheidet sich das eschatologische Denken des Paulus in Phil 1–3 von den Überlegungen, die der Apostel in früheren brieflichen Diskurszusammenhängen angestellt hatte (vgl. besonders 1 Thess 4f.; 1 Kor 15; 2 Kor 5): In Phil 1–3 macht die Erwartung der künftig noch ausstehenden vollständigen somatischen Transformation in das Schicksal Christi hinein den persönlichen Tod des Paulus – trotz unabsehbarer zeitlicher Perspektive – zur notwendigen Voraussetzung, ja Denkrichtung seiner Eschatologie (anders 1 Thess 4,17; 1 Kor 15,51).Footnote 55 Das aber bedeutet auch: Auf den Verzicht, der ἐπιθυμία nachzugeben, schon jetzt mit Christus in eschatologischer Vollendung zusammen zu sein (1,23), folgt erst noch die im zeitlich Ungewissen liegende, künftige Partizipation an der Auferstehung Christi (3,20f.), die zuvor erst eine Einwilligung in die Leidens- und Sterbensgemeinschaft mit Christus voraussetzt und „lohnenswert“ macht (3,10f.).

Seneca, der diejenigen „erbärmlich“ (miseri) nennt, die zwischen Todesfurcht und Lebensqual (… inter mortis metum et vitae tormenta …) hin- und herschwanken und weder leben wollen noch sterben können (Ep. mor. 4,5), würde die von Paulus gezeigte Haltung als Bereitschaft des proficiens, ja des sapiens verstehen, sich in das fatum einzufügen, um selbstbestimmt zu bleiben. Auch Paulus ist – und das ergibt die intro- wie extrospektive Selbst- und Fremderforschung in Phil 1–3 – zu allem bereit. Aus seiner Sicht bestätigt er mit dieser Haltung – selbst unter den Bedingungen seiner Haft – einmal mehr das credo seines Apostolats:

Wenn wir nämlich leben, leben wir dem Herrn; wenn wir sterben, sterben wir dem Herrn. Wenn wir also leben, wenn wir sterben, sind wir des Herrn. (Röm 14,9; vgl. auch 6,11 oder 1 Kor 3,23; 1 Thess 5,10).

3. Paulus und die Kultivierung des „Ich“

Abschließend werde ich meine bis hierher angestellten Überlegungen zu Phil 1–3 zusammenfassen und mit einem weiterführenden Gedanken schließen.

(1) Phil 1–3 sind insofern als eigenständiger Beitrag zur Entdeckung und Erforschung des „inneren Menschen“ neben Röm 7 zu lesen, als in Phil 1,21–6 Elemente einer nach innen gewendeten selbstbefragenden Selbsterforschung begegnen. Ich möchte diese Elemente als paulinische Form der introspektiven Selbsterkundung bezeichnen.

(2) Der Typus der Introspektivität, den Paulus in Phil 1 entwickelt und bis zum Schluss von Phil 3 weiterdenkt, ist – ähnlich der antiken philosophischen Selbsterforschung – erstens mit der expectatio mortis verbunden. Zweitens: Im Unterschied etwa zu den stoischen Selbsterkundungen blendet Paulus die biographischen Rahmenbedingungen seiner Selbstbefragung nicht aus, sondern macht die spezifische Situation seiner Haft zum Ausgangs- und Referenzpunkt seiner Selbstwahrnehmung. Hier liegt das subjektiv-(auto-)biographische Element der paulinischen Selbsterkundung.

(3) Die Konturen der paulinischen Selbsterforschung sind – wie bei Seneca auch – multiperspektivisch.Footnote 56 In Phil 1–3 lassen sie sich in vier Aspekten zeichnen: Sie umfassen (a) die Perspektive der Introspektivität (1,21–6), d.h. der nach innen gewendeten Selbstbefragung und -erkundung, und (b) die Perspektive der Extrospektivität, mit der Paulus positive Rollenvorbilder (2,6–30) wie Warnungen vor negativ gezeichneten möglichen Gegnern (3,2.18f.) im Sinne der Erforschung des/der Anderen entwirft. Dazu treten (c) die autobiographische narratio, also der rückblickende Selbstbericht, zum Zwecke des apostolischen self-fashioning (3,4–8), und (d) die gegenwärtige Selbstbeobachtung des eifernden Apostels, der seiner persönlichen eschatologischen Vollendung entgegensieht (3,12–16). Der Modus der extrospektiven Selbstbeobachtung, der den gegenwärtigen religiösen Eifer wie die Erwartung des Künftigen beschreibt, soll die Leser dazu anleiten, Paulus als τύπος zu imitieren (3,17).

(4) In Phil 1–3 sind die Konturen der paulinischen Selbsterforschung mehrdimensional – die Erkundung und Erforschung des eigenen „Ich“ ist so dynamisch. Sie geht gleichsam in verschiedenen Bewegungsabläufen von statten: nach innen, nach außen, zurück und auf die Gegenwart bzw. die antizipierte Zukunft hin. Die nach innen gerichtete, also introspektive Form der Selbsterkundung, führt zur eigentlichen Konfrontation des denkenden „Ich“ mit sich selbst im Angesicht der expectatio mortis und stellt so den konzeptionellen Höhepunkt der paulinischen Selbsterforschung (im Philipperbrief) dar.

(5) In Anlehnung an Michel Foucault möchte ich die oben genannten vier Aspekte, in denen sich in Phil 1–3 die Selbsterforschung des Paulus vollzieht, als „Kultivierung des Selbst“ (orig.: „La culture de soi“) beschreiben.Footnote 57 Mit dieser Beschreibungssprache bewege ich mich im Rahmen der gegenwärtigen antiken selfhood-Forschung,Footnote 58 die zuvor schon mehrfach angeklungen ist.

(6) Foucault u.a. sprechen – unter besonderem Verweis auf Seneca, Epiktet (z.B. Diss. 2,8,18ff.), Plinius (Ep. 1,9) oder auch EpikurFootnote 59 – davon, wie in der hellenistisch-römischen Welt die Kultivierung des Selbst je stärker voranschreite, je stärker die Privatisierung und Individualisierung des Lebens und der Rückzug aus dem öffentlichen Leben zunähmen. Das Thema des Rückzugs aus dem öffentlichen Raum spielt gerade in der frühkaiserzeitlichen Literatur in der Tat eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. Quintilian, Inst. or. 12,11,1–30). Es führt – so Seneca – zu einer Art „Selbstgespräch“ (… ut ipse tecum loquaris, Ep. mor. 68,6; aber: otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura, 82,3; vgl. auch Plinius, Ep. 1,9). So schreibt Seneca seine Briefe, in denen er der Selbsterforschung besonders viel Raum und seinem (fiktiven oder realen) Leser damit Anteil an der Kultivierung dieses Selbst gibt, als Privatier – nicht mehr als Politiker. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit muss – nach Seneca – selbstgewählt sein (Ep. mor. 9,13) und steht zusammen mit der Selbsterforschung im Dienst der Beschäftigung des Philosophen mit seiner Nachwelt (Ep. mor. 8,2.6). Lässt sich Vergleichbares über Paulus sagen?

(7.1) Wieweit Paulus bei der Kultivierung seines „Ich“, seiner selber oder seines Selbst in Phil 1–3 den öffentlichen Raum verlässt und so der (religiösen) Privatisierung Vorschub leistet, kann ich hier nicht weiter diskutieren. Mir scheint eher, dass sogar die introspektive, nach innen gerichtete Bewegung in Phil 1 an die Interaktion mit den Philippern, die tendenziell im öffentlichen Raum geschieht (vgl. auch Phil 1,20: … ἐν πάσῃ παρρησίᾳ), gebunden bleibt.

(7.2) Unbestreitbar ist, dass die Konturen der paulinischen Selbsterforschung als wichtiger frühkaiserzeitlicher Beitrag zur Individualisierung und Subjektivierung des Denkens zu bewerten sind: Wie selten sonst scheinen in Phil 1–3 die „individualistische Einstellung“ („l'attitude individualiste“) und die „Intensität der Selbstbeziehungen“ („l'intensité des rapports à soi“)Footnote 60 des Apostels durch – nicht zuletzt dann, wenn er seine persönlichen Dilemmata sowie die Paradoxien und Aporien seines Denkens offenlegt. Das eingangs zitierte Arendt'sche „denkende Ich“ lebt davon, dass der selbst-reflektierende Umgang mit der Ich-Erfahrung letztlich unversöhnlich und unlösbar ist, ja paradoxal bleibt.

Auch wenn das Pathos des Jacob Burckhardt, dessen 200. Geburtstags kürzlich gedacht wurde, der postmodernen Erforschung der antiken Welt befremdlich erscheinen mag – auch für Paulus könnte in Abwandlung gelten, was der Baseler Historiker über die „großen Dichter“ als bedeutende individuelle Leistungsträger in der Geschichte sagte:

… vollends aber bilden sie … die größte zusammenhängende Offenbarung über den innern Menschen überhaupt.Footnote 61

Footnotes

Der Beitrag wurde als main paper bei der Tagung der SNTS in Athen am 9. August 2018 gehalten. Wichtige Überlegungen zum antiken selfhood-Diskurs verdanke ich dem interdisziplinären Gespräch in der IIAS-Forschergruppe: „Subjectivity in Antiquity: Contours and Expressions of the Self in Ancient Mediterranean Cultures“, 2017–18, Leitung: Maren Niehoff et al. (Jerusalem).

References

1 Von hierher ergeben sich für die Interpretation antiker Texte neue Impulse. Vgl. etwa: Newsom, C. A., „Models of the Moral Self: Hebrew Bible and Second Temple Judaism“, JBL 131 (2012) 525, bes. 5–10Google Scholar; Pannese, A., „The ‘I’ of the Beholder: Studying the ‘Self’ across the Humanities and Neuroscience“, Med Humanit 37 (2011) 115–22CrossRefGoogle ScholarPubMed.

2 Die umfangreiche Literatur kann hier nicht im Einzelnen angeführt werden – vgl. zuletzt z.B. Rüpke, J./Woolf, G. D., Hg., Religious Dimensions of the Self in the Second Century ce (StAC 76; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013)CrossRefGoogle Scholar. Als wichtige Titel seit: Taylor, C., Sources of the Self: The Making of Modern Identity (Cambridge: Harvard University Press, 1989)Google Scholar, die die interdisziplinäre Forschungsdiskussion angeregt haben, sind z.B. zu nennen: Gill, C., Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy: The Self in Dialogue (Oxford: Clarendon, 1996)Google Scholar; Reydams-Schils, G., The Roman Stoics: Self, Responsibility, and Affection (Chicago: University of Chicago Press, 2005)Google Scholar; Bartsch, S., The Mirror of the Self: Sexuality, Self-Knowledge, and the Gaze in the Early Roman Empire (Chicago: University of Chicago Press, 2006)CrossRefGoogle Scholar; Gill, C., The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (Oxford: Oxford University Press, 2006)CrossRefGoogle Scholar; Sorabji, R., Self: Ancient and Modern Insights about Individuality, Life, and Death (Oxford: Clarendon, 2006)CrossRefGoogle Scholar; Shulman, D./Stroumsa, G. G., Hg., Self and Self-Transformations in the History of Religions (Oxford: Oxford University Press, 2011)Google Scholar; Arweiler, A./Möller, M., Hg., Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond (Transformationen der Antike Bd. 8; Berlin/New York: de Gruyter, 2008)CrossRefGoogle Scholar.

3 Vgl. zuletzt auch: Theißen, G., „Das transformative Menschenbild der Bibel: Die Erfindung des ‚inneren Menschen‘ und seine Erneuerung im Urchristentum“, Der ganze Mensch: Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (hg. Janowski, B.; Berlin: Akademie Verlag, 2012) 269–88Google Scholar.

4 Betz, H. D., „The Concept of the ‘Inner Human Being’ (ὁ ἔσω ἄνθρωπος) in the Anthropology of Paul“, NTS 46 (2000) 315–41CrossRefGoogle Scholar.

5 Unter Verweis auf Burkert, W., „Towards Plato and Paul: The ‘Inner Human Being’“, Ancient and Modern Perspectives on the Bible and Culture: Essays in Honor of Hans Dieter Betz (hg. Collins, A. Y.; Atlanta: Scholars, 1998) 5982Google Scholar.

6 Betz, „Concept“, bes. 339ff.

7 Arendt, H., Vom Leben des Geistes: Das Denken. Das Wollen (hg. McCarthy, M.; aus dem Amerik. v. H. Vetter; München: Piper, 2016 9) 298–307, bes. 304Google Scholar.

8 Arendt, Vom Leben des Geistes, 304f.

9 Arendt, Vom Leben des Geistes, 304.

10 Arendt, Vom Leben des Geistes, 306.

11 Arendt, Vom Leben des Geistes, 306.

12 Thrall, M. E., The Second Epistle to the Corinthians, Bd. i: Introduction and Commentary on ii Corinthians i–vii (ICC; London/New York: T&T Clark, 1994) 349fGoogle Scholar.

13 Das gilt unabhängig von der Frage, ob das „Ich“ in Röm 7 als „vorchristliches“, „nachchristliches“, „adamitisches“, „mosaisches“, autofiktionales, typologisches oder generisches Ich zu verstehen sei. Zur Übersicht über die Forschung: Jewett, R., Romans: A Commentary (Hermeneia; Minneapolis: Fortress, 2007) 441ffGoogle Scholar.

14 So vorausgesetzt bei Stendahl, K., „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West“, JSSR 1.2 (1962) 261–3Google Scholar; ders., „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West“, HTR 56 (1963) 199215CrossRefGoogle Scholar.

15 Newsom, „Models of the Moral Self“, 14 – mit weiteren Belegen: 15ff. Nach Newsom entwickelt sich das Konzept des „Moral Self“ im antiken Judentum aufgrund verschiedener Faktoren: u.a. aufgrund der zunehmenden Interaktion der frühjüdischen Gesellschaft(en) mit anderen Kulturen.

16 Betz, „Concept“, 326.

17 So steht in der jüngsten Forschungsdiskussion erstens die formal-rhetorische Beschreibung der paulinischen „Ich“-Rede in 1,21–4 als Synkrisis (Vollenweider, S., „Die Waagschalen von Leben und Tod: Zum antiken Hintergrund von Phil 1,21–26“, ZNW 85 (1994) 93115)CrossRefGoogle Scholar oder speziell in 1,22 – in möglicher Nähe zu einer dubitatio (Holloway, P. A., Philippians: A Commentary (Hermeneia; Minneapolis: Fortress, 2017) 96f.CrossRefGoogle Scholar; ders., Deliberating Life and Death: Paul's Tragic dubitatio in Philippians 1:22–26“, HTR 111 (2018) 174–91)CrossRefGoogle Scholar zur Diskussion. – Zweitens wird diskutiert, wieweit Paulus in 1,21–6 einen Beitrag zu den „contemporary religio-philosophical debates on the topic of ‘life and death’“ leiste: Vgl. H. D. Betz, „A Statement of Principle (Phil 1:21–26), ders., Studies in Paul's Letter to the Philippians (WUNT 343; Tübingen: Mohr Siebeck, 2015) 1946Google Scholar, hier 40. Die hierbei umstrittenen Fragen sind: In welcher Hinsicht tut Paulus das – spielt er etwa mit dem Gedanken des Suizids (vgl. etwa kritisch: Croy, N. Clayton, „‘To Die Is Gain’ (Philippians 1:19–26): Does Paul Contemplate Suicide?“, JBL 122 (2003) 517–31Google Scholar) –, und welcher philosophischen Schultradition steht er am nächsten? Häufig gelten die Seneca-Briefe als instruktives Vergleichsmaterial: Vgl. zuletzt etwa Engberg-Pedersen, T., „Paul in Philippians and Seneca in Epistle 93 on Life after Death and its Present Implications“, Paul and Seneca in Dialogue (hg. Dodson, J. R./Briones, D. E.; Ancient Philosophy and Religion 2; Leiden/Boston: Brill, 2017) 267–84Google Scholar. – Drittens lässt sich – unter Rückgriff auf antike philosophische Vorbilder so wie Sokrates und auf moderne politische Handlungstheorie – die (gemeinde-)politische Funktion des ethisch motivierten decision-making, an der Paulus seinen Lesern in 1,21–6 Anteil gibt, näher betrachten: Vgl. Becker, E.-M., „Die Person als Paradigma politisch-ethischen Handelns: Kriton 50a und Phil 1,23f. im Vergleich“, Paulus – Werk und Wirkung: FS A. Lindemann (hg. Klumbies, P.-G. et al. ; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013) 129–48Google Scholar. – Und viertens ist in religionsgeschichtlicher Hinsicht zu untersuchen, worauf die religiöse Sehnsucht oder Erwartung, schon jetzt bei Christus zu sein, letztlich zielt: Vgl. Schreiber, S., „Paulus im ‚Zwischenzustand‘: Phil 1.23 und die Ambivalenz des Sterbens als Provokation“, NTS 49 (2003) 336–59CrossRefGoogle Scholar.

18 Vgl. etwa Standhartinger, A., „Die Kommunikationsstruktur des Philipperbriefs im Spiegel seiner Abfassungssituation“, NT 55 (2013) 140–67CrossRefGoogle Scholar.

19 Vgl. dazu zuletzt z.B.: Rüpke, J., „Creating Groups and Individuals in Textual Practices“, RRE 2 (2016) 39CrossRefGoogle Scholar, und den Beitrag von S. Honigman beim workshop: „Genres and Ethics“, 30. Mai–1. Juni 2018, Schloss Mickeln/Düsseldorf. S. Honigmann weist auf epigraphische wie literarische Texte hin, die – gerade auch im Bereich von Krankenheilungen – die zunehmende Individualisierung in der hellenistisch-römischen Welt dokumentieren, z.B.: IG xi.4 1299; IG iv2.1 126; Apuleius, Met. 11 (und weitere Literaturhinweise), und wiederum in eine kontrastive Analogie zur paulinischen Autobiographie gestellt werden können. Zum Motivzusammenhang von Heilung und Individualisierung vgl. zuletzt auch Petridou, G., „The Curious Case of Aelius Aristides: The Author as Sufferer and Illness as ‘Individualizing Motif’“, Autoren in religiösen literarischen Texten der späthellenistischen und der frühkaiserzeitlichen Welt. Zwölf Fallstudien (hg. Becker, E.-M./Rüpke, J.; CRPG 3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2019) 199219Google Scholar. – Vgl. insgesamt zur kulturgeschichtlichen Wahrnehmung der Individualisierungstendenzen in der Antike schon: Foucault, M., Die Sorge um sich: Sexualität und Wahrheit 3 (übersetzt v. Raulff, U./Seitter, W.; stw 718; Frankfurt: Suhrkamp, 1986) 55–94/ders.Google Scholar, Histoire de la sexualité, Bd. iii: Le souci de soi (Collection Tel 280; Gallimard, 1984) 5394Google Scholar, der im Blick auf den zu beobachtenden Individualisierungsschub in der hellenistisch-römischen Welt zwischen Aspekten der „individualistischen Einstellung“ („l'attitude individualiste“), der „Hochschätzung des Privatlebens“ („la valorisation de la vie privée“) und der „Intensität der Selbstbeziehungen“ („l'intensité des rapports à soi“ (alle Zitate: a.a.O., 59/59) unterscheidet. – Zu Grundfragen in der Paulusexegese: Dunson, B. C., „The Individual and Community in Twentieth- and Twenty-First-Century Pauline Scholarship“, CBR 9 (2010) 63–97, bes. 68ffGoogle Scholar.

20 Koester, H., „συνέχω, συνοχή“, ThWNT 7 (1964) 875–85, hier 882 (kursiv)Google Scholar.

21 Vgl. dazu zuletzt auch Becker, E.-M., „Paulus als doulos in Röm 1,1 und Phil 1,1: Die epistolare Selbstbezeichnung als Argument“, Autoren in religiösen literarischen Texten der späthellenistischen und der frühkaiserzeitlichen Welt: Zwölf Fallstudien (hg. Becker, E.-M./Rüpke, J.; CRPG 3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2019) 105–20Google Scholar.

22 Vgl. etwa Clayton Croy, „‘To Die Is Gain’“, 531. Vgl. dazu auch ausführlich: Becker, E.-M., Der Begriff der Demut bei Paulus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2015)Google Scholar.

23 Die Manuskripte: א2 B, P, Ψ etc. lesen auch hier den Genitiv θανάτου.

24 Vgl. dazu Becker, E.-M., „Mimetische Ethik im Philipperbrief: Zu Form und Funktion paulinischer exempla“, Metapher – Narratio – Mimesis: Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik (hg. Horn, F. W. et al. ; WUNT 356; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016) 219–34Google Scholar.

25 Vgl. zum Begriff und Konzept zuletzt die verschiedenen Beiträge in: Becker, E.-M./Mortensen, J., Hg., Paul as homo novus: Authorial Strategies of Self-Fashioning in Light of a Ciceronian Term (SANt 6; Göttingen/Bristol: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018)CrossRefGoogle Scholar.

26 Zur sog. Agon-Metaphorik vgl.: Brändl, M., Der Agon bei Paulus: Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik (WUNT ii/222; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006)Google Scholar.

27 Gleichwohl zeichnen sich ja Timotheus und Epaphroditus gerade durch ihre enge Verbindung zu Paulus aus (2,20.25), und Christus verkörpert prototypisch genau das σῶμα, in welches Paulus selbst verwandelt werden will (3,21). So kommt die Erforschung der Anderen letztlich wieder der Erforschung, wer Paulus selbst ist, zugute.

28 Die vergleichende Paulus-und-Seneca Lektüre gibt dabei allerdings immer eine „distinct difference and a distinct similarity“ zu erkennen: Nach Engberg-Pedersen, „Paul in Philippians“, 283.

29 Hadot, P., Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Aus dem Französischen von H. Pollmeier (Frankfurt: Eichborn, 1999) 224Google Scholar.

30 Sie schließen etwa die Diskurse über „Gabe“ und „Self-Giving“ ein – dazu vgl. z.B. Barclay, J. M. G., „Benefiting Others and Benefit to Oneself: Seneca and Paul on ‘Altruism’“, Paul and Seneca in Dialogue (hg. Dodson, J. R./Briones, D. E.; Ancient Philosophy and Religion 2; Leiden/Boston: Brill, 2017) 109–26Google Scholar; D. E. Briones, „Paul and Seneca on the Self-Gift“, Paul and Seneca in Dialogue, 127–49 –, gehen aber auch darüber hinaus. Vgl. etwa: D. A. de Silva, „‘We are Debtors’: Grace and Obligation in Paul and Seneca“, Paul and Seneca in Dialogue, 150–78.

31 Der Begriff ἐπιμέλεια ist nicht im NT belegt – am nächsten kommt ihm μέριμνα κτλ. (bei Paulus u.a. Phil 2,20; 4,6). Dazu: Becker, E.-M., „The Anxiety (Sorge) of the Human Self: Paul's Notion of μέριμνα“, ‘What is Human?’ Theological Encounters with Anthropology (hg. Becker, E.-M. et al. ; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017) 121–32Google Scholar. – Vgl. im Blick auf Epikur zuletzt auch: Németh, A., Epicurus on the Self: Issues in Ancient Philosophy (London/New York: Routledge, 2017)CrossRefGoogle Scholar

32 Hadot, Wege, 222f.

33 Zu Marc Aurel und seinen „Selbstbetrachtungen“ vgl. zuletzt: Demandt, A., Marc Aurel: Der Kaiser und seine Welt (München: C. H. Beck, 2018), bes. 361ffCrossRefGoogle Scholar.

34 Demandt, Marc Aurel, 367.

35 Demandt, Marc Aurel, 366f.

36 Dabei werden auch die Grenzen der Selbst-Erforschung deutlich: So führt etwa die Lektüre das „Ich“ über sich selbst hinaus (Ep. mor. 84,1); Selbsterfahrung wirkt durch den Körper – die Natur selbst aber wirkt im Körper (Ep. mor. 84,5).

37 Vgl. Hamacher, U. G., Senecas 82. Brief an Lucilius: Dialektikkritik illustriert am Beispiel der Bekämpfung des metus mortis. Ein Kommentar (Beiträge zur Altertumskunde 230; München/Leipzig: K. G. Saur, 2006)CrossRefGoogle Scholar.

38 Der sapiens besiegt fortuna mit virtus (71,30) und kann daher nie von externen Bedingungen in die Knie gezwungen werden (85,38), sondern entwickelt die virtus weiter (85,40).

39 Bartsch, S., „Senecan Selves“, The Cambridge Companion to Seneca (hg. S. Bartsch/A. Schiesaro; Cambridge: Cambridge University Press, 2015) 187–98, hier 188CrossRefGoogle Scholar.

40 Der divinus animus verlässt den sterblichen Menschen wie ein irdisches Gefäß (receptaculum, 92,34). So vermeidet Seneca weitgehend den Rückgriff auf Geschichte: Er nennt höchstens einzelne Personen als Heroen oder philosophische Vorläufer, de-kontextualisiert diese aber geschichtlich, oder er kommt auf eine mythische Vorzeit (90,4) oder das saeculum aureum zu sprechen (90,5).

41 Die virtus erhebt den Menschen über die Sterblichkeit (87,16). Der sapiens hat Elemente des Göttlichen (87,19) und ist daher groß, quia magnum animum habet (87,18). Das summum bonum wohnt in der „Seele“ (87,21). – Zuletzt hat H. D. Betz den Philipperbrief insgesamt und auf sein genre bezogen als „praemeditatio mortis“ bestimmt: Vgl. Betz, H. D., „On the Question of the Literary Genre“, ders., Studies in Paul's Letter to the Philippians (WUNT 343; Tübingen: Mohr Siebeck, 2015) 133–54, hier 153CrossRefGoogle Scholar.

42 Ein malum ist nur das, was von den Menschen als solches bezeichnet wird (85,28). Fortitudo ist das Wissen um die Unterscheidung zwischen malum und nicht malum (85,28).

43 soli lunaeque plurimum debeo, et non uni mihi oriuntur. anno temperantique annum deo privatim obligatus sum, quamvis nihil in meum honorem discripta sint (Ep. mor. 73,6). – Ich danke Ulrike Egelhaaf-Gaiser (Göttingen) für hilfreiche Anmerkungen zu meinem Manuskript.

44 Vgl. auch Bartsch, „Senecan Selves“, 188.

45 Mannering, J., „Seneca's Philosophical Writings: Naturales Quaestiones, Dialogi, Epistulae morales“, A Companion to the Neronian Age (hg. E. Buckley/M. T. Dinter; Chicester: Wiley-Blackwell, 2013) 188203, hier 190CrossRefGoogle Scholar.

46 Vgl. V. Rimell, „Seneca and Neronian Rome: In the Mirror of Time“, The Cambridge Companion to Seneca, 122–34, hier 131.

47 Zur sog. neronischen Literatur: Reitz, C., Literatur im Zeitalter Neros (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006)Google Scholar. – Zum Element der „Verkehrung“: Castagna, L./Vogt-Spira, G., Hg., Pervertere: Ästhetik der Verkehrung. Literatur und Kultur neronischer Zeit und ihre Rezeption (München/Leipzig: K. G. Saur, 2002)CrossRefGoogle Scholar; G. Vogt-Spira, „Verkehrung als kulturelles Model neronischer Zeit. Einige Überlegungen“, Pervertere: Ästhetik der Verkehrung, 305–310; Kirichenko, A., Lehrreiche Trugbilder: Senecas Tragödien und die Rhetorik des Sehens (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften 2.142; Heidelberg: Winter, 2013)Google Scholar.

48 Seneca geht es zuletzt darum zu zeigen, dass das summum bonum, das sich in den virtutes Bahn bricht und quod naturaincorruptum ist (74,24), nicht an historische Bedingungen geknüpft, sondern Erweis des beatus esse ist (nisi beatus est, in summo bono non est, 71,18).

49 Vgl. Scornaienchi, L., Sarx und Soma bei Paulus: Der Mensch zwischen Destruktivität und Konstruktiviät (NTOA 67; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008) 114–17, wo Phil 1,20CrossRefGoogle Scholar zusammen mit 2 Kor 4,10f. und Gal 6,17 gesehen wird. In Phil 1,20 bezeichnet sōma „das konkrete Leben des Apostels und nicht nur seinen zu tödlichen Leiden verurteilten Leib“ (a.a.O., 115).

50 Es ist der animus divinus, der letztlich die Furcht darum, was mit dem Körper post mortem geschieht, besiegt (92,35).

51 Paulus versucht sonst, mit Hilfe des σῶμα-Begriffs (so schon 1 Kor 15,35ff.), die endzeitliche Bewahrung der personalen Identität des individuellen Menschen plausibel zu machen: Der Begriff beschreibt „das Selbst-Sein bzw. Individuum-Sein von der Leiblichkeit des Menschen aus“: Wischmeyer, O., „Menschsein: Neues Testament“, Menschsein: Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (hg. C. Frevel/O. Wischmeyer; NEB Themen 11; Würzburg: Echter, 2003) 61117, hier 94Google Scholar.

52 Hier begegnet eine Form der autobiographischen Selbst-Konstruktion, die Paulus schon in früheren Briefen (1 Kor 9.15; 2 Kor 12; Gal 1–2) entworfen hatte.

53 Theißen, „Das transformative Menschenbild“, 284 spricht bei Paulus insgesamt von einer – in der biblischen Tradition auch sonst bekannten – „radikalisierte(n) Version“ einer Sehnsucht nach Transformation.

54 Lässt sich bei Vorstellung vom energetisch wirksamen ἐν ἐμοὶ Χριστός von einer „religious agency“ Christi im apostolischen Dienst sprechen?

55 Es gilt daher: Der Umstand, dass Paulus selbst womöglich bald, jedenfalls vor der Parusie Christi stirbt, ändert die Parameter des eschatologischen Denkens, das ja zunächst davon ausging, dass der Apostel am Tag der Parusie zu den „Lebenden“ bzw. den „Zurückbleibenden“ zählt (1 Thess 4,17).

56 Shadi Bartsch nennt: „the meditatio, the nocturnal self-review …, the … praemeditatio malorum .., the imaginary spectatorship of oneself by heroic figures …, the divine principle itself …; hypomnemata …, internal dialogue and second-order queries about one's choices and desires …“: Bartsch, „Senecan Selves“, 189.

57 Vgl. Foucault, M., The History of Sexuality, Bd. iii: The Care of the Self (aus dem Französischen übersetzt von  R. Hurley; New York: Vintage Books, 1986) 43Google Scholar. – In der deutschen Übersetzung als „Kultur seiner selber“ wiedergegeben: Foucault, Die Sorge um sich, 53. Foucault greift hier wiederum auf Hadot, P., Exercices spirituels et philosophie antique (Paris: Études Augustiniennes, 1981), zurückGoogle Scholar.

58 Vgl. aus ntl. Sicht: Nicolet-Andersen, V., Constructing the Self: Thinking with Paul and Michel Foucault (WUNT ii/324; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012) 4ff.CrossRefGoogle Scholar; vgl. aus altertumswissenschaftlicher Sicht (philologisch, historisch und philosophisch) – in Auswahl: Bartsch, The Mirror of the Self, 11f.; Gill, The Structured Self, 325ff.; Reydams-Schils, The Roman Stoics, bes. 15ff.

59 Vgl. dazu zuletzt Németh, Epicurus.

60 Foucault, Die Sorge um sich, 59/Le souci de soi, 59. Die „individualistische Sicht“ ist „gekennzeichnet durch den absoluten Wert, den man dem Individuum in seiner Einzigkeit beilegt“/„caractérisée par la valeur absolute qu'on attribue à l'individu dans sa singularité“ (ebd.).

61 Burckhardt, J., Weltgeschichtliche Betrachtungen: Mit einem Nachwort v. J. Osterhammel (München: C. H. Beck, 2018) 230fCrossRefGoogle Scholar.