1. Das Neue Testament als FamilienalbumFootnote 1
Auch wenn sie in Zeiten der Digitalisierung etwas aus der Mode kommen, kennen wir alle Familienalben. Auch wenn sie sehr unterschiedlich sein können, teilen Familienalben einige Charakteristika: Sie enthalten Momentaufnahmen aus dem Leben einer Familie, die aus einem größeren Pool von Aufnahmen ausgewählt wurden, und sind im Rückblick gestaltet. Im Familienalbum inszeniert sich die Familie und wählt aus, was sie zeigen möchte. Familienalben sind nicht nur Erinnerungen, sondern erzählen die Familienidentität im Medium Bild.
Als Medium des sozialen Gedächtnisses sind Familienalben auch für kulturwissenschaftliche Forschung interessant: Fotoalben gelten als Medien des sozialen Gedächtnisses, die zunächst private Erinnerungen von Einzelnen oder (kleineren) Erinnerungsgemeinschaften bildlich organisieren und strukturieren. Familienalben ermöglichen es, Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, die für die Familie/Erinnerungsgemeinschaft wichtig sind, sowie ihre (Herkunfts-)Geschichte zu organisieren, inszenieren und stabilisieren. Da Fotografie ein Massenmedium ist, sind Familienalben vergleichbar und können als Erinnerungsmedien analysiert werden. Als Momentaufnahme gilt zunächst das Festhalten eines Augenblicks oder (besonderen) Moments im Bild. Im übertragenen Sinne kann eine Momentaufnahme auch das Festhalten eines Moments im Gedächtnis oder einem externen Speichermedium wie einem Text sein.Footnote 2
Was hat das mit Einleitungswissenschaft zu tun? Auch die Texte des Neuen Testaments sind Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildung, die im Familienalbum Neues Testament präsentiert werden.Footnote 3 Auch in diesem Familienalbum befindet sich nur ein Teil aller Momentaufnahmen und das Album wurde später gestaltet.
Das Familienalbum zeigt, was die Familienmitglieder sehen, also: wahrnehmen, und nicht mehr vergessen sollen.Footnote 4 Familienalben zeigen, wie Familien sich verstehen und inszenieren. Das ist für die Familie selbst genauso interessant wie für Verwandte, Freunde und Neu-Hinzukommende, die in die Familie einheiraten oder als künftige Generationen durch den Blick ins Familienalbum etwas über die (eigene) Familiengeschichte lernen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Familienalben als Medien des sozialen Gedächtnisses an der Schnittstelle zur Oralität zu verorten sind. Der gemeinsame Blick ins Familienalbum fördert das Gespräch über Familienerinnerungen und die Familiengeschichte. Wenn wir das Neue Testament als Familienalbum betrachten, wird auch klar, dass wir es beim Entstehungsmilieu der Texte mit einer oralen Kultur zu tun haben.Footnote 5 Anders gesagt: Der Vergleich mit einem Familienalbum führt weg vom Medium Text und bricht die Fixierung auf Schriftlichkeit.
Ein Familienalbum kann man auf unterschiedliche Arten betrachten. Das kann gerade bei fremden Familienalben äußerst interessant sein. So lässt sich zum Beispiel fragen:
1. Will ich einzelne Aufnahmen verstehen oder das Gesamtbild?
2. Will ich die Bilder für sich betrachten oder die Anordnung der Bilder im Album verstehen?
3. Will ich die einzelnen Bilder wirken lassen oder die Geschichte hinter den Aufnahmen verstehen?
4. Will ich auf der Basis der Bilder die Geschichte der Familie als Historie oder als Identitätsgeschichte verstehen? Sprich: Erzählt das Album Geschichte oder Familienidentität?
5. Will ich die einzelnen Bilder von unserer jetzigen Familienidentität her verstehen und bewerten oder aufgrund meines Wissens über Familienbilder und Familienalben insgesamt?
6. Will ich das Album anschauen oder interessieren mich einzelne Bilder im Vergleich zu anderen Bildern aus einer bestimmten Zeit, die nicht im Album sind?Footnote 6
7. Kann ich das Album und seine Bilder aus sich selbst heraus verstehen oder brauche ich Zusatzinformationen zu Fotographie, Kompositionstechnik, Familienalben und Kontexten?
Diese verschiedenen Betrachtungsweisen sind auch für das neutestamentliche Familienalbum möglich, das Teil unserer eigenen, christlichen Familiengeschichte ist, und zeigen unterschiedliche Herangehensweisen aus der Einleitungswissenschaft. Im ersten Fall geht es um den Unterschied zwischen Einzeltext und Sammlung, im zweiten Fall um die Kompositionsprinzipien des Kanons, also Kanonhermeneutik. Der dritte Fall skizziert Textgeschichte, der vierte den Unterschied zwischen historischer Rückfrage und frühchristlicher Identitätsgeschichte. Im fünften Fall werden die Perspektiven etisch und emisch unterschieden, im sechsten neutestamentliche und außerkanonische Texte, und im siebten Fall werden kanonische Lektüre und historische Kontextualisierung unterschieden.
2. Einleitungswissenschaft: eine hybride Disziplin
Für mich ist der Vergleich mit dem Familienalbum ein Gedankenspiel mit hohem Wert, denn er schärft das Bewusstsein für das Neue Testament als Textsammlung und die unterschiedlichen Facetten einer hybriden Disziplin:Footnote 7 der Biblischen Einleitungswissenschaft.
Der Arbeitsgegenstand der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft sind 27 Textzeugnisse aus der Zeit von ca. 50-150 n.Chr., die nachträglich zu den fundierenden Texten des Christentums zusammengebunden wurden und deren primäres Charakteristikum für uns ihr kanonischer Status ist. Mit keinem Text würden wir uns so intensiv beschäftigen, wenn das nicht der Fall wäre.
„Wie verhalten sich die mit dem Kanonsbegriff verbundenen dogmatischen und geschichtlichen Prädikate zu einer rein historischen Betrachtungsweise der 27 Schriften des Neuen Testaments?“, fragt Udo Schnelle in der Einführung zu seiner Einleitung in das Neue Testament und skizziert damit eine entscheidende Frageperspektive.Footnote 8 Dadurch, dass ihr Arbeitsgebiet weitgehend vom neutestamentlichen Kanon bestimmt ist, arbeitet Einleitungswissenschaft nicht einfach historisch oder literaturwissenschaftlich, sondern immer auch theologisch, zumindest im Schlagschatten von Theologie bzw. Dogmatik und Kirchengeschichte. Mit den Begriffen der Soziologie gesprochen, changiert die Einleitungswissenschaft zwischen dem etischen Blick auf einen bestimmten Teil antiker Literatur und dem emischen Blick auf fundierende und damit identitätsstiftende Texte der Kirche. Dabei ist die literarische Verortung oft nicht ohne die theologische Nachgeschichte und Bedeutung zu haben. Sich vom Wissen um die Bedeutung der Texte innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften freizumachen, ist nahezu unmöglich. Neutestamentliche Texte sind immer auch Teile der eigenen religiösen und kulturellen Identität.Footnote 9
Entsprechend arbeiten wir immer mit unterschiedlichen Hüten, die wir zum Teil auch gleichzeitig aufhaben. Selbst die scheinbar naheliegende Unterscheidung zwischen einem historischen Blick auf die Produktion eines neutestamentlichen Textes und einem theologischen Blick auf die Rezeptionsgeschichte lässt sich nicht so leicht durchhalten. Das beginnt damit, dass der Umfang der normalerweise in der Einleitung betrachteten Texte von ihrer Rezeptionsgeschichte als Kanon definiert ist. Das Wissen, dass es sich bei den zu betrachtenden Schriften um fundierende Texte des Christentums handelt, die in einem Aushandlungsprozess zu fundierenden Texten wurden, während andere Texte es nicht in den Kanon geschafft haben, führt – bewusst oder unbewusst – zu einem bestimmten Umgang mit ihnen.Footnote 10 Mit anderen Worten: Es gibt keinen unvoreingenommenen, unschuldigen oder objektiven Blick auf die Schriften des Neuen Testaments.
Der hybride Charakter des Faches spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Aufgaben, die mittlerweile zu weitgehend eigenständigen Diskursen oder Unterdisziplinen geworden sind:Footnote 11
• Kanongeschichte als allgemeine Einleitung,
• Textgeschichte von Einzelbuch und Kanon als Überlieferung, und
• Abfassungssituation der Einzelbücher als spezielle Einleitung.
Diese Unterdisziplinen arbeiten auf unterschiedlichen Ebenen – Einzeltext und Sammlung/Kanon – und haben methodische Partner. Dazu gehören die Neutestamentliche Zeitgeschichte, die historische, kulturelle, religions- und sozialgeschichtliche Kontexte untersucht, sowie die Geschichte des frühen Christentums, die die Entwicklung in den ersten etwa 100 Jahren erschließt. Dass es sich bei der Geschichte des frühen Christentums zumeist um die ersten 100 Jahre handelt, ist kein Zufall.Footnote 12
Ich habe mich gefragt, ob sich die Texte des Neuen Testaments überhaupt jenseits einer frühchristlichen Identitätsgeschichte verstehen lassen und ob es nicht hilfreich wäre, die Perspektive auf das Phänomen Neues Testament zu weiten und weniger beachtete Aspekte mit einzubinden. Um einseitige Fixierungen auf Text, Theologie und Geschichte aufzubrechen, scheint es mir sinnvoll, Medientheorie, Soziologie und Kulturwissenschaft, insbesondere kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie mit in den Einleitungsdiskurs einzubringen.
Ich lade Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Was ändert sich, wenn wir Einleitungsfragen durch eine gedächtnistheoretische Brille betrachten? Meine Fragen sind dabei wenig anders als die, die ohnehin diskutiert werden, und meine Hoffnung ist, dass die zusätzliche Perspektive die gemeinsame Suche voranbringt. Dabei gilt: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie oder kurz Memory Theory, wie sie vor allem über die historische Jesusforschung in unsere Disziplin gekommen ist, ist keine Methode, sondern eine Hermeneutik, um Fragen zu stellen und das vorliegende Material auszuwerten.Footnote 13 Es geht also nicht um eine neue Master- oder Metatheorie, sondern um eine andere Perspektive.
Eine erste Beobachtung aus dieser Perspektive lässt sich direkt formulieren, denn ein erster Punkt fällt beim gedächtnistheoretischen Blick ins Auge. Es ist die zeitliche Ausdehnung der speziellen Einleitung bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts, also die bereits genannten 100 Jahre. Mittlerweile ist der Versuch der älteren Forschung, die Entstehung aller neutestamentlichen Texte ins erste Jahrhundert zu datieren, weitgehend aufgegeben.Footnote 14 Innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft gibt es jedoch einen breiten Konsens, dass sich in der Mitte des zweiten Jahrhunderts grundlegend etwas ändert. Auch wenn die Begründungen unterschiedlich ausfallen, sieht die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen um 120-150 n. Chr. einen Einschnitt.Footnote 15
Die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie erkennt in dieser Zäsur die Lücke, die in der Oral-History-Forschung Floating Gap heißt und die Grenze des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses markiert, die die lebendige Erinnerung einer Gruppe oder Gemeinschaft von der Ursprungszeit trennt. An dieser Zäsur trennen sich auch die spezielle Einleitung, die die Entstehung der einzelnen Texte betrachtet und die allgemeine Einleitung, die die Geschichte der Entstehung des neutestamentlichen Kanons erforscht. Mit Jan Assmann gesprochen fällt die spezielle Einleitung in den Bereich des sozialen und kollektiven, die allgemeine Einleitung in den Bereich des kulturellen Gedächtnisses. Footnote 16 Beide Formen des Umgangs mit der Vergangenheit sind unterschiedlich geprägt, was ebenfalls erklärt, warum die Disziplin wenig Chancen hat, aus ihrem hybriden Status herauszukommen.
3. Beobachtungen aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie
Das historische Bewusstsein arbeitet auf zwei Ebenen: der unmittelbaren und der entfernten Vergangenheit. Das zeigt sich in zwei unterschiedlichen Formen von Erinnerung: dem lebendigen Dreigenerationengedächtnis, das etwa 3-4 Generationen oder 80-120 Jahre umfasst, und der Ursprungszeit, zu der es keine lebendige Verbindung mehr gibt.
Beide Formen lassen sich an unserer Zeit veranschaulichen. Die Generation, die 1923 erwachsen war, konnte sich noch gut an das Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, und die Oktoberrevolution erinnern. Auch der Deutsch-Französische Krieg war Teil der lebendigen Erinnerung, zumindest innerhalb der eigenen Familie. Wer 2023 erwachsen wird, kennt diese Zeit – wenn überhaupt – nur aus dem Geschichtsbuch und hat wenig Vorstellung davon, wie sich die Inflation von 1923 angefühlt hat.Footnote 17 Auch können sich diejenigen, die heute erwachsen werden, eine Welt ohne Internet nicht vorstellen, und selbst wenn der Mauerfall und der 11. September zu den Ereignissen gehören, die sie für einschneidend halten, haben sie keine persönlichen Erinnerungen daran. Der Versuch, ein Verständnis für diese Zeit zu gewinnen, wird nicht im persönlichen Gespräch mit Zeitzeugen unternommen, sondern durch Dokumentationen, Doku-Soaps oder Literatur hergestellt. Ein Gefühl für die 1920er Jahre vermitteln den heute Zwanzigjährigen Serien wie Babylon Berlin, Historische Romane oder Sachbücher, die aus der Retrospektive auf diese Zeit schauen und heutige Interpretationsmuster mit einspielen.Footnote 18
Das Fehlen von Zeitzeugen als Gesprächspartner für die heute Zwanzigjährigen zeigt auch: Je länger Ereignisse zurückliegen, desto eher drohen sie aus dem Erinnerungsraster zu fallen. Mit dem Tod der Zeitzeugen beginnt sich die Erinnerung an ihre Zeit aufzulösen, wenn sie nicht rechtzeitig in eine andere Form und in ein anderes Medium überführt wird. Die Erinnerung an die Gründungsereignisse einer Gruppe verändert sich stark, wenn die Gründungsväter und -mütter sie nicht mehr mit Emotionen aufladen und semantisieren können. Die Ereignisse selbst bleiben für die Erinnerungsgemeinschaft weiterhin normierend und formierend, werden jedoch allmählich in die nicht mehr einholbare „graue Vorzeit“ verwiesen, wo ihnen ein mythischer Charakter zuwachsen kann. Diese bipolare Erinnerungsform erklärt der Ethnologe Jan Vansina damit, dass das historische Bewusstsein nur auf zwei Ebenen arbeitet: der Ursprungszeit und der jüngsten Vergangenheit. Das bedeutet für orale Gesellschaften, dass sie einerseits stabile Erinnerungen an die Gründungsereignisse haben und andererseits veränderliche biographische Erinnerungen. Die Lücke zwischen beiden Erinnerungsformen zeigt die Grenze des Generationengedächtnisses an, die sich mit der Erinnerungsgemeinschaft durch die Zeit bewegt.Footnote 19
Diese Lücke wird in der Oral-History-ForschungFootnote 20 in Anlehnung an Jan Vansina als Floating Gap, als mitwandernder Zeithorizont bezeichnet. Floating heißt dabei zweierlei: Einerseits ist die Lücke selbst alles andere als stabil und kann auch für die gleiche Generation an manchen Orten früher auftauchen als an anderen. Andererseits ist damit gemeint, dass diese Lücke gemeinsam mit einer Erinnerungsgemeinschaft durch die Zeit wandert. Sprich: Ereignisse, die vor 20 Jahren noch Teil des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses waren, sind es heute nicht mehr. Hinzu kommt, dass das lebendige Dreigenerationengedächtnis kein monolithischer Block ist, sondern sich zum einen über die Zeit verändert und zum anderen etwas mit der Größe der Gruppe zu tun hat, die sich erinnert. Die Erinnerung und das Aushandeln von Deutungsmustern sind unterschiedlich, je nachdem, wie lange ein wichtiges Ereignis zurückliegt und ob es nur die eigene Familie ist, die sich erinnert oder die ganze Stadt, das ganze Land oder die ganze Religionsgemeinschaft. Diesen Unterschied hat Maurice Halbwachs mit den Begriffen soziales und kollektives Gedächtnis in den Diskurs eingebracht.Footnote 21
3.1 Soziales Gedächtnis
Der Charakter des sozialen Gedächtnisses innerhalb des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses ist eher inoffiziell. Es wird von denjenigen geteilt, die in eine bestimmte Familie oder Gruppe hineingewachsen sind. Man kann daher auch sagen, dass das soziale Gedächtnis einerseits den Erfahrungsschatz einer Gruppe darstellt, auf den sie immer wieder ausgreift. Wenn der Gruppe etwas widerfährt, deutet sie es in den Kategorien – oder kulturellen Rahmen –, die sie kennt, die ihr vertraut sind. Das soziale Gedächtnis einer Gruppe begegnet andererseits in der materiellen Welt der alltäglichen Dinge wie dem Handy, dem Lieblingsgetränk und der Wochenzeitung, aber auch der städtischen Umgebung, mit ihren speziellen Läden, sozialen Anordnungen auf der Straße und ihren Umgangsformen etc.Footnote 22
Im lebendigen sozialen Gedächtnis sind die Dinge im Fluss, und Alltägliches wird kaum jemals aufgeschrieben. Und wenn doch, dann zumeist privat, wie im Tagebuch. Die Medien bleiben eher alltäglich. Selbst wer bloggt und Instagram nutzt, stellt fest, dass die eigenen Beiträge und die eigene Geschichte nur eine unter vielen und oft sehr rasch vergessen sind. Hier zeigt sich, wie stark das soziale Gedächtnis von Multiperspektivität geprägt ist und dass zunächst einmal alle Perspektiven gleichberechtigt sind. Wenn eine Perspektive anderen gegenüber hierarchisiert wird, braucht es dazu einen Grund, der weniger in der Verbreitung dieser Perspektive begründet ist oder der Autorität, mit der sie vorgetragen wird, als in ihrer Plausibilität innerhalb der Gruppe.
Der Begriff Narrativ beschreibt diesen Zusammenhang und mittlerweile ist empirisch erforscht, dass das, was nicht zum Narrativ der eigenen Gruppe passt, systematisch nicht zur Kenntnis genommen wird.Footnote 23 Man schließt sich eher einer Perspektive an, die zu den Traditionen und dem Verständnis der eigenen Gruppe oder Subkultur, also den eigenen sozialen und kulturellen Rahmen passt, als einer fremden, die wenig Anschlusspunkt bietet. Damit das geschieht, braucht es einen starken Veränderungsimpuls, der eher von Extern als von Innen kommt. Tiefe Veränderung resultiert zumeist aus einer Krisenerfahrung, die zwingt, das Vertraute, die Heimat, enge Beziehungen und die eigene Perspektive zu überdenken. Dabei muss keine Katastrophe im Weltmaßstab geschehen. Alltägliche Krisenerfahrungen wie Krankheit, Trennung und der Tod vertrauter Menschen können ausreichen.
Wenn sich eine Erinnerungsgemeinschaft durch die Zeit bewegt, verändert sich der Blick auf das, was ihr als wichtige oder fundierende Ereignisse gelten. Hinzu kommt, dass von Anfang an nicht einfach nur konstatiert oder berichtet wird. Erzählungen sind perspektivisch gebunden, sie interpretieren und versuchen, den Ereignissen und Widerfahrnissen Sinn abzugewinnen. Dabei ändern sich mit der Zeit die Erzählungen, Perspektiven und Medien. Während die Großelterngeneration als Zeitzeugen noch lebendig vom Krieg, der alten Heimat und dem Aufbau des Landes erzählen konnte, erzählen die Enkel den Urenkeln anhand von Bildern, Briefen und Gegenständen von den Groß-bzw. Urgroßeltern, was diese erlebt und erlitten haben, oder schauen sich gemeinsam Filme über die Zeit an. Falls die Großeltern schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen haben, werden diese mit großer Wahrscheinlichkeit von den Kindern und Enkeln für die Urenkel kommentiert.Footnote 24
3.2 Generational Gap und kollektives Gedächtnis
Wie man über Erlebnisse und fundierende Erfahrungen spricht, verändert sich über die Zeit.Footnote 25 Eine Generation später kann vieles, wenn nicht alles, anders sein und die eigene Gegenwart prägt den Blick auf die Vergangenheit und den Umgang mit ihr.Footnote 26 Während Traditionen grundsätzlich keine Tendenz zur Verschriftlichung haben, führen Krisenerfahrungen, die mit Traditionsabbrüchen wie einem Generationenwechsel einhergehen, zur Transformation von Erinnerungen und zur Überführung in andere Medien. „Der natürliche Weg der Tradition“, hält der Ägyptologe Jan Assmann fest, „führt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, nicht zur Explikation, sondern zum Implizit-Werden, zur Habitualisierung und Unbewußtmachung. Der Anstoß zur Verschriftlichung kommt von außen, und wo er kommt, verändert er Traditionen. Daher ist es sinnvoll, nach solchen äußeren Anstößen der Verschriftlichung zu fragen“.Footnote 27 Die Traditionsbrüche, die Verschriftlichungsschübe initiieren, gehen mit Medienwechseln innerhalb des Erinnerungsmanagements einher.Footnote 28
Ein solcher Traditionsbruch ist der Generational Gap, die Generationen- oder Epochenschwelle, die sich nach einer Generation oder 30-50 Jahren auftut und zu starken Veränderungen innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft und im Umgang mit ihrer Vergangenheit führt.Footnote 29 Mit dem Generationenwechsel verändert sich das lebendige Dreigenerationengedächtnis, und je nachdem mit welchen Ereignissen eine Gruppe konfrontiert wird, kommt diese Veränderung früher oder später und fällt mehr oder weniger einschneidend aus. In jedem Fall verändert sich die Wahrnehmung mit der Zeit und das ehemals eher private soziale Gedächtnis weicht einer anderen Form der Vergangenheitswahrnehmung und -deutung, die deutlich offizieller, zumindest größer ist: dem kollektiven Gedächtnis.
Zu den Charakteristika der Zeit nach dem Generational Gap gehört, dass sich die Vielfältigkeit der Perspektiven auf ein Ereignis allmählich zugunsten einer leitenden Perspektive verengt, und dass diese Perspektive neue Deutungskategorien schafft. Je einschneidender das Erlebnis, desto stärker wird es zur Verfertigung neuer sozialer Rahmen beitragen, mit denen künftig die Welt gesehen wird.Footnote 30
Hier ließen sich noch weitere Differenzierungen und Erklärungen anschließen, doch für ein grundlegendes Verständnis der anschließenden Überlegungen sind die Konzepte Dreigenerationengedächtnis, Floating Gap, Generational Gap, soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis ausreichend.
4. Gedächtnistheorie und Frühes Christentum
Bei der Übertragung der Konzepte aus der Gedächtnistheorie auf die neutestamentliche Zeit ist die Übersicht zunächst umzudrehen, weil wir uns vom fundierenden Christusereignis als Ausgangspunkt vorwärts durch die Zeit bewegen, nicht von der eigenen Gegenwart zurückschauen.
Als Ausgangsdatum habe ich 30 n.Chr. gewählt. Der Floating Gap als Grenze des leben-digen Dreigenerationengedächtnisses und Übergang zum Kulturellen Gedächtnis liegt zwischen 80 und 100 Jahren danach. Wenn wir als Mittelwert 90 Jahre annehmen, sind wir in der Zeit um 120 n. Chr. Hier zeigt sich noch einmal, warum das erste Drittel des 2. Jahrhunderts so interessant ist: Nach 3-4 Generationen ändern sich die Dinge grundlegend. Zu beachten ist freilich, dass der Floating Gap sich nicht überall zur gleichen Zeit auftut. Das erklärt die Ungleichzeitigkeit bzw. das Überlappen von bestimmten Phänomenen, die man in der einen oder anderen Generation verorten würde, wie beispielsweise pseudepigraphe Schriften oder Textsammlungen. Die Ungleichzeitigkeit hat auch etwas mit Gruppengröße, Reichweite, Vernetzung, Erfahrungen und externen Einflüssen zu tun.Footnote 31
Der Generational Gap liegt nach einer Generation oder 30-50 Jahren. Wenn wir hier ebenfalls mit einem Mittelwert arbeiten, sind wir bei 70 n. Chr. Dass just in diese Zeit auch das Ende des ersten Jüdisch-Römischen Krieges und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels fallen, ist Zufall. Dieser Zufall hat mich lange davon abgehalten, an dieser Stelle weiterzudenken, weil mit der Tempelzerstörung und den sich aus ihr ergebenden Folgen Vieles bereits ausreichend gut erklärt erschien. Dennoch lohnt es, hier Veränderungen im intergenerationellen Erinnern mit zu berücksichtigen.
Als letzter Schritt sind die frühchristlichen Generationen (je etwa 40 Jahre) einzufügen. Diese Generationen entsprechen weitgehend dem Umfang, den auch die Standardwerke der speziellen Einleitung und Geschichte des frühen Christentums für die ersten urchristlichen Generationen annehmen.Footnote 32 Hier kommen beide Disziplinen problemlos zusammen. Damit ist die gedächtnistheoretische Vorarbeit erst einmal beendet und die neutestamentlichen Texte und Textgruppen können – basierend auf der Forschung der speziellen Einleitung – in die Übersicht eingetragen werden. Dabei geht es nicht um Datierungsfragen, sondern einen ersten Überblick über die Textgruppen der Paulusbriefe, Deuteropaulinen, Evangelien, Apostelgeschichte, Katholischen Briefe, des Hebräerbriefs und der Offenbarung.
Allein aus der Zusammenschau der Forschungsergebnisse der speziellen Einleitung und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ergeben sich Synergien und Erwartungen an die einzelnen Texte, Textcorpora, Genres und Medienwechsel.Footnote 34 In anderen Worten: Ohne etwas über die Texte zu wissen, lassen sich bestimmte Entwicklungen und, daran anknüpfend, Leseerwartungen formulieren.Footnote 35 Genaugenommen tut kulturwissenschaftliche Exegese hier wenig mehr als solche Erwartungen anhand der Texte zu prüfen und daraus Theorien zu entwickeln. Dafür müssen die Erwartungen jedoch klar sein – und dazu braucht es einen weiteren Blick in die Theorie.
Die Frage von Generationen und die Auswirkungen von Generationenwechseln ist dabei ein zentraler Punkt.Footnote 36 Wenn wir den Generational Gap ernst nehmen, sind für die zweite Generation der frühen Christen andere Frageperspektiven zu erwarten als für die dritte und vierte. Dabei greifen die generationelle Veränderung und die Ausbreitung der Bewegung ineinander, was sich beispielsweise an Fragen im Gefolge der gesetzesfreien Heidenmission ablesen lässt. Die Causa „Götzenopferfleisch“, um ein konkretes Beispiel zu nennen, wird in der zweiten Generation bei Paulus (1 Kor 8) und in der dritten/vierten Generation in der Offenbarung (Offb 2,14) unterschiedlich diskutiert.
Die zweite Generation beschäftigt sich mit Fragen, was Jesusnachfolge heißt und wie sie sich jenseits der individuellen Bekehrung sozial und gesellschaftlich konkretisiert, sprich: Was mit den sozialen Normen geschieht, wenn sich eine Gemeinschaft von Christen aus Juden, Heiden, Sklaven, Freien, Männern und Frauen bildet. Dabei steht die Erfahrung der Begegnung mit dem Evangelium und ihre konkreten Auswirkungen sowie die eigene Beziehung zu Christus im Fokus. Der Kommunikationsradius sind die eigene Gruppe und Fragen des konkreten Zusammenlebens und der Nachfolge im Alltag.
Die dritte und vierte Generation ist weiter von diesem Ursprung entfernt und denkt in größeren Zusammenhängen. Die Versprachlichung der eigenen Erfahrung tritt zugunsten der Suche nach und Kommunikation von eigenen Traditionen und Normen für eine größer werdende Gruppe in den Hintergrund. Traditionen und Traditionsgaranten werden gefunden oder geschaffen, die Richtlinien für eine christliche Identität bilden. Sie laden ein, sich selbst in diesen Rahmen zu verorten, die für die Jesusnachfolger im Imperium Romanum insgesamt gelten und den Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit der christlichen Botschaft eine Heimat bieten.
5. Medien und Medienwechsel im Neuen Testament
Auch wenn der Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis und ihren jeweiligen Externalisierungen hier nur schematisch und holzschnittartig skizziert werden kann, zeigt sich, dass es sich beim kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Blick auf das Neue Testament nicht um ein starres Modell handelt, sondern Dynamiken berücksichtigt und unterschiedliche historische und soziale Prozesse mitgedacht werden. Die Texte gelten als Momentaufnahmen aus dem Fluss von Erinnerung und Tradition. Wie bei Fotografien lassen sich bestimmte Charakteristika erkennen, ohne dass sich die Erinnerungsbilder trennscharf an einem Ort oder in einer bestimmten Zeit verorten ließen.
5.1 Soziales Gedächtnis
Zu den Spezifika des sozialen Gedächtnisses gehört seine begrenzte Reichweite. In den Erinnerungsgemeinschaften kennt jeder jeden und wenn Texte die mündliche Kommunikation ersetzen, sind sie orthonym. Kommunikationsmedien behandeln Alltagsfragen, die diskursiv ausgehandelt werden.Footnote 37 Dabei sind die unterschiedlichen Perspektiven zunächst gleichberechtigt. Bei der Suche nach Lösungen für konkrete Probleme werden vertraute kulturelle Rahmen herangezogen, in denen die entsprechenden Erfahrungen, Fragen und Themen verortet werden.
Bei einer Gruppe mit starker jüdischer Verwurzelung dürfte sich das vor allem im Rückgriff auf die Schrift zeigen. Der Bezug auf die unterschiedlichen Perspektiven kann durch das Nennen von Namen und Gruppen geschehen,Footnote 38 die allen Beteiligten bekannt sind. Identitätsbildung erfolgt durch die Erinnerung an gemeinsame Erfahrungen eher diskursiv, wobei die Vergangenheit nicht bewusst als Argumentationsbasis verwendet wird, sondern en passant.Footnote 39 Wer Autorität beansprucht, bezieht sie aus der gemeinsamen Erfahrung oder der Begegnung mit Jesus, die ihn in besonderer Weise legitimiert,Footnote 40 ohne ihn deshalb hierarchisch auf eine höhere Stufe zu stellen.
Die Paulusbriefe lassen sich als Medien des sozialen Gedächtnisses verstehen. Die Form der Alltagskommunikation und Verortung der eigenen Situation und Erfahrung innerhalb vorgegebener sozio-kultureller Rahmen lässt sich ebenso erkennen wie das diskursive Aushandeln von Identität und grundsätzliche Multiperspektivität. Es ist gut zu erkennen, wie die Briefe den persönlichen Kontakt mit einer kleinen Gruppe ersetzen und wie Fragen, die alle betreffen, ausgehandelt werden.
5.2 Kollektives Gedächtnis
Zu den Spezifika des kollektiven Gedächtnisses gehört seine größere zeitliche und örtliche Reichweite. In den Erinnerungsgruppen und Netzwerken von Erinnerungsgemeinschaften kennt nicht (mehr) jeder jeden und aufgrund verschiedener Erfahrungen und kultureller Hintergründe können nicht für alle die gleichen Voraussetzungen gemacht werden. Identitätsbildung und -sicherung geschieht durch verbindliche Traditionen und Deutungsrahmen, die auf der Basis vorgefundener oder neu „gefundener“ Traditionen verfertigt werden. Diese Rahmen können innerhalb derselben Großgruppe durchaus unterschiedlich sein und dadurch Untergruppen konstituieren. An die Stelle einer diskursiven Aushandlung von Identität tritt zu diesem Zeitpunkt eine leitende Perspektive. Die Neigung, Fragen grundsätzlich zu klären, nimmt zu. Dabei kommt es zu einer Verengung des Traditionsstroms und einer Vereinheitlichung von Perspektiven, die sich auch in veränderten Medien niederschlägt. Genres werden von der Pragmatik her gedacht und experimentell genutzt. Dabei entstehende Texte können je nach Zielrichtung pseudepigraph, anonym oder orthonym sein.
Wenn wir die Tendenz zum Medienwechsel nach dem Generational Gap oder bei einer Reichweitenvergrößerung ernst nehmen, ist bei den Medien des kollektiven Gedächtnisses eine größere Bandbreite zu erwarten. Im Neuen Testament finden sich zwei Arten von Texten, die in unterschiedlichen Spielarten aufscheinen: Narrative Texte und Briefliteratur. Gemein ist den Texten der dritten und vierten Generation, dass sie die Vergangenheit nicht in bereits bestehenden kulturellen Rahmen verorten, sondern neue Rahmen verfertigen und verteidigen. In der Argumentation erscheinen die Traditionsträger nicht mehr als gleichberechtigter Teil der Gruppe, sondern sind in besonderer Weise herausgehoben und klar als Gegenüber zu erkennen. Dabei gilt nach meinen Leseeindrücken, dass die Identitäten und Rahmen fixer werden, je näher man an die Grenze des Dreigenerationengedächtnisses kommt. Mitunter werden sogar die Generationen selbst thematisiert, wie etwa in Verweisen auf Schüler, Tradentenketten, bis hin zu den drei Generationen christlichen Glaubens in 2 Tim 1,5.
Zu den narrativen Texten gehören die synoptischen Evangelien. Sie erscheinen als erste Entwürfe gemeinsamer Gründungsgeschichten, die durch andere Texte fortgeschrieben oder ersetzt werden, beides normale Vorgänge im kollektiven Gedächtnis. Je nachdem, ob Matthäus die Absicht hatte, Markus zu erweitern oder zu ersetzen, hätten wir es mit der einen oder anderen Variante zu tun. Bei Lukas entsteht weniger der Eindruck der Fortschreibung als der eines neuen Entwurfs, der als eigenständiger Diskussionsbeitrag neben die bereits vorhandenen gestellt wird. Bei den Evangelien ist gut zu sehen, dass sie neue Rahmen für künftige Identitätskonstruktionen bereitstellen wollen.Footnote 41 Wenn sie in den Erinnerungsgemeinschaften als performances aufgeführt werden, initiieren sie weitere soziale Aushandlungsprozesse. Wie die neue Identität sich konkret gestalten könnte, wird ebenfalls gezeigt. In der Apostelgeschichte, aber auch im Johannesevangelium finden sich Einblicke in exemplarische frühchristliche Identitäten.
Die Briefliteratur ist deutlich vielfältiger als das paulinische Formular. Im kollektiven Gedächtnis finden sich apokalyptische, paränetische und testamentarische Formen. Briefe können eher im Vortragsstil, im Rundbriefcharakter, als Teile von Briefsammlungen oder als Briefromane vorliegen. Dabei gilt nach dem Generational Gap: form follows function. Die größere Reichweite führt zu Veränderungen im Bereich Sprache, Stil, Genre, um zeitlich und örtlich entfernte Adressaten zu erreichen. Auch die Briefsammlungen zeigen, dass man nicht nur in der eigenen Gemeinde denkt.Footnote 42 Insgesamt findet sich eine größere Bandbreite unterschiedlicher Medien, die vielleicht noch ganz anders verstanden werden können als das bislang der Fall ist. In den letzten 20 Jahren ist in der neutestamentlichen Forschung eine Fülle von Untersuchungen zu Bereichen wie Genres und Genregrenzen, Pseudepigraphie und Gegnerfragen, sozialen Identitäten und Textgeschichte entstanden, die es noch in gedächtnistheoretischer Perspektive auszuwerten gilt.
Aus meinen Lektüreeindrücken des Neuen Testaments in kulturwissenschaftlicher Perspektive ließen sich zum Beispiel folgende Fragen beisteuern: Lässt sich Pseudepigraphie als Strategie in frühchristlichen Identitätsdiskursen verstehen?Footnote 43 Daran anschließend: Ist der Kolosserbrief wirklich an eine Gemeinde oder einen Gemeindeverband gerichtet? Könnte sein Adressat auch eine Briefsammlung sein, für die er einen Paulusbrief imitiert? Ist der Epheserbrief wirklich ein Brief oder ein Vortragstext für überregionale Performanzen? Wenn er in der gleichen Zeit wie die synoptischen Evangelien entsteht, wäre eine andere Form von aufführbarem Text, der die Adressaten direkt anspricht, interessant.
Sind die Katholischen Briefe ebenfalls als Brieffiktionen mit größerer Reichweite für den Vortrag zu denken, zum Beispiel als literarisches Testament (2 Petr, vgl. 2 Tim) oder Traditionen für christliche Identitätsbildung (Jak)? Der Versuch, Traditionen zu schaffen, ist bei kaum einem Text zu übersehen. Lassen sich die Johannesbriefe – auch im Verbund mit dem Evangelium – als Selbstzeugnis einer christlichen Gruppe lesen, die trotz bester Absichten immer mehr in eine Sackgasse gerät, aus der sie nicht mehr herauskommt? Lassen sich die Pastoralbriefe mit den Formen Paränese und Testament auch als erbaulicher Briefroman für die Oberschicht verstehen, der eine bestimmte Art christlicher Identität vermittelt?Footnote 44 Als Zeitgenossen der Apostelgeschichte wären sie ein briefliches Pendant zu deren narrativem Entwurf und ebenfalls eine Form erbaulich-unterweisender Literatur, die gehobenen Kreisen erzählt, wie das Leben innerhalb christlicher Rahmen aussehen kann, wie sie beispielweise das Lukasevangelium entwickelt hat. Besonders interessant wäre das, wenn beides aus Kleinasien stammen und damit in den gleichen historischen Kontext gehören würde.
6. Medienkritik und Medienfragen
Von der speziellen Einleitung und dem Generationengedächtnis mit seiner spezifischen Dynamik und seinen Medien und Medienwechseln herkommend, tue ich mich mit dem Kanonbegriff und der sekundären Zuschreibung als eher statischer, kanonischer Text schwer. An diesem Punkt sind der produktionsorientiert-etisch-historische und der rezeptionsorientiert-emisch-theologische Blick auf die Texte am schwierigsten zu vermitteln. Die Gefahr, dass mit dem „kanonischen Blick“ auch spätere Vorstellungen von Text und Schrift sowie der Entwicklung und Weitergabe von Traditionen in die Texte hineingelesen werden, ist hier am größten. Mit Werner Kelber bin ich der Meinung, dass an diesem Punkt medientheoretische Überlegungen weiterhelfen können.Footnote 45 Da das Projekt einer Mediengeschichte des (frühen) Christentums noch aussteht,Footnote 46 beschränke mich auf wenige Schlaglichter.
6.1 Medien und Medienwechsel – Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Die Frage, wie Medien und Medienwechsel mit der Entwicklung der frühchristlichen Geschichte und frühchristlicher Identitäten zusammenhängen, ist ein Randthema der Einleitung. Bislang verfolgte Spuren einer frühchristlichen LiteraturgeschichteFootnote 47 werden dem Phänomen nur in Ansätzen gerecht, weil sie von Literatur und damit von Text ausgehen. Wie sehr das Paradigma der Schriftlichkeit – die Gutenberg-Galaxie, in der wir leben – die Fragen dominiert, ist auch daran zu erkennen, dass die ältere historisch-kritische Exegese mündliche Traditionen im Hinblick auf ihre Stabilität und Rekonstruierbarkeit gerne analog zu schriftlichen behandelt hat. Dabei kann leicht das Wissen verloren gehen, dass jedes Medium seine eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln hat. Die Regeln von Mündlichkeit und Schriftlichkeit lassen sich nicht wechselseitig übertragen.Footnote 48
Mündlichkeit kennt kein Original und seine Ableitungen. Entsprechend ist es nicht möglich, Abhängigkeiten über Stemma abzubilden, wie wir es aus der Textkritik kennen.Footnote 49 Im Bereich der Mündlichkeit gilt die Equiprimordialität,Footnote 50 das heißt: Jede Aufführung ist ein Original. Damit stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, nach der ursprünglichen Form von Jesuslogien zu suchen und implizit anzunehmen, dass Jesus die Dinge entweder nur ein einziges Mal oder immer in der gleichen Form – und damit gerade nicht adressatenorientiert – ausgedrückt hat.
6.2 Identische Textausgaben und Textkritik
Die Dominanz der Schriftlichkeit, die die Gutenberg-Galaxie seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern beherrscht, ist eine nicht ausreichend reflektierte Vorannahme. Identische Texte und Textausgaben gab es in der Antike nicht, sie bestimmen jedoch unseren Alltag und unsere Arbeit. Auch bei der Schriftlichkeit steht am Anfang nicht der eine Text, das Original, von dem fehlerfrei kopiert wurde; es gibt vielmehr eine Fülle unterschiedlicher Handschriften. Was in der Textkritik die Suche nach dem Urtext hervorgerufen hat, lässt sich auch als vielfache Bezeugung (multiple attestation) verstehen.Footnote 51 Vielfache Bezeugung muss nicht bedeuten, dass es sich um authentisches Material handelt. Sie belegt lediglich, dass es sich um überzeugende Narrative handelt.
Hinzu kommt: Die vielfache Bezeugung liegt in Einzelfragmenten, nicht in größeren Kontexten vor. In den Begriffen der Gedächtnistheorie ausgedrückt, haben wir es eher mit semantischem als mit episodischem Gedächtnis zu tun. Das heißt, man erfährt durch die Fragmente nichts über ihre perspektivische Gebundenheit, es sind vielmehr rohe Daten ohne Kontext, die in einen Zusammenhang gestellt werden müssen. Das muss nicht unbedingt der kanonische Kontext sein und gerade hier wäre eine intensive Zusammenarbeit mit der Textkritik hilfreich.Footnote 52
6.3 Der Kanon als primärer Kontext
Zum kanonischen Kontext fragt sich, ob alle 27 Schriften des Neuen Testaments den Selbstanspruch haben, das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus gültig und verbindlich auszusagen und der Kanon nachträglich nur einen Anspruch bündelt und fixiert, der den Schriften bereits innewohnt.Footnote 53 Die theologische Vorstellung verleiht den Texten ein Gewicht, das nicht unbedingt intendiert war. Die Paulusbriefe sind Gelegenheitsschreiben für einen begrenzten Kreis und sollen den persönlichen Kontakt ersetzen.Footnote 54 Sie waren nicht als dogmatische Traktate und überregional verbindliche Anordnungen gedacht. Der kanonische Blick, der implizit im genannten Selbstanspruch steckt, macht es geradezu unmöglich, neutestamentliche Texte als Experimente zu verstehen.Footnote 55 Man könnte auch fragen: Lässt der Kanonbegriff die Vorstellung literarischer und theologischer Versuche in den neutestamentlichen Texten zu?
Wenn wir die neutestamentlichen Texte explizit oder implizit vom Kanon her lesen, gehen wir bereits mit dem Vorverständnis der Texte als Heilige Schrift dran und verlieren womöglich die dynamische Zeit des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses aus dem Blick. Laufen wir dabei Gefahr, die unterschiedlichen Spielarten von Briefliteratur, die sich im Neuen Testament finden, mit der Gattung „Briefe“ über einen Kamm zu scheren und damit ihren Charakter als Gesprächsbeiträge in frühchristlichen Identitätsdiskursen zu übersehen?Footnote 56
Statt jedes epistolographisch anmutende Schreiben als antiken Brief zu untersuchen, könnte es erhellend sein, ein Spiel mit Medien und Genres anzunehmen, das stärker von der Pragmatik als der Form her denkt. Die Erforschung der Briefe hat die Einleitung in eine Art „Standardeinstellung“ gebracht, die Absender, Adressaten, Situation und Gegner erforscht, was für einen echten Brief sinnvoll ist, aber nicht unbedingt für eine pseudepigraphe Brieffiktion. Wenn Absender und Adressat fiktional sind, warum sollte die Situation inklusive der Gegner real sein?Footnote 57
6.4 Reichweitenvergrößerung und fließende Genregrenzen
Damit verbunden ist die Frage nach der Auswirkung der Reichweitenvergrößerung und des Generationenwechsels auf die Medien, in denen sich frühchristliche Identitäten ausdrücken. Auch hier geht es um Topoi der Einleitungswissenschaft. So ließe sich durchaus fragen, ob das Gemeindeverständnis, das aus den paulinischen Briefen stammt und für die Vergesellschaftung von Jesusnachfolgern der ersten Generationen angenommen wird, zu den Medien des kollektiven Gedächtnisses passt, die sich an größere Gruppen wenden. Ändert nicht die Reichweite der Schreiben automatisch etwas an Sprache, Stil, Genre, weil man auch weiter entfernte und spätere Adressaten erreichen will? Anders gefragt: Kann man bei den Deuteropaulinen und Evangelien noch von einzelnen Gemeinden als Adressaten sprechen, wie Paulus sie bei seinen Gelegenheitsschreiben im sozialen Gedächtnis im Blick hatte? Ist die Rede von der markinischen, matthäischen oder lukanischen Gemeinde wirklich sinnvoll?
7. Fazit
Die Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie können der Einleitungswissenschaft tatsächlich neue Perspektiven zum Weiterdenken bieten. Fünf Punkte seien abschließend festgehalten, die zu einem neuen Diskurs über Einleitung und Einleitungsfragen anregen:
1) Erkenntnisse zum intergenerationellen Erinnern und zu sozialen Aushandlungsprozessen helfen, die Pluralität der neutestamentlichen Texte als Momentaufnahmen unterschiedlicher frühchristlicher Gruppen und Identitäten zu verstehen, die als kulturelles Gedächtnis auch späteren christlichen Gruppen unterschiedliche Anknüpfungspunkte bieten.
2) Durch die Hinzuziehung von Erkenntnissen aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie lässt sich ein besseres Verständnis dafür gewinnen, warum die Einleitungswissenschaft ein hybrides Fach ist und es auch bleiben wird. Wenn man berücksichtigt, dass die allgemeine Einleitung im Bereich des kulturellen Gedächtnisses arbeitet und die spezielle Einleitung im Bereich des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses wird klar, warum beide Unterdisziplinen auf unterschiedlichen Ebenen arbeiten. Eine der Hauptaufgaben besteht darin, die Ebenen möglichst getrennt zu halten und gerade im Hinblick auf die theologischen und kirchengeschichtlichen Aspekte nicht ineinander zu lesen.
3) Die Veränderungen im frühen Christentum in der Mitte des zweiten Jahrhunderts werden durch die Grenze des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses und den Floating Gap besser nachvollziehbar. Hier liefert die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie zusätzliche Erklärungsmuster für sonst nur schwer verständliche Phänomene.
4) Erkenntnisse zu den unterschiedlichen Generationen, dem Generational Gap und damit einhergehenden Medienwechseln ermöglichen einen neuen Blick auf die unterschiedlichen Texte und Textsorten des Neuen Testaments. Sie können zusätzliche Indizien für die historische Verortung der Texte liefern und bestimmte Entwicklungen erklären.
5) Die Einbeziehung von medientheoretischen Erkenntnissen kann in der praktischen Arbeit mit den Texten helfen, Fixierungen auf Genres und Topoi aufzubrechen, spezielle Gesetzmäßigkeiten und Reichweiten der Medien einzubeziehen und die Texte stärker von ihrer Pragmatik als von Genre oder Theologie her zu verstehen.
Competing interest
The author declares none.