Published online by Cambridge University Press: 17 February 2016
Zur Entstehungsgeschichte der ps.-plutarchischen Institutio Traiani, deren Existenz bisher allein durch 16 lateinische Fragmente im Policraticus des Johannes von Salisbury gesichert ist, haben sich in der neueren Forschung zwei gegenläufige Auffassungen herausgebildet.
1 Herausgegeben wurden diese Bemardakis, Fragmente von G. N., Plutarchi Chaeronensis Moralia 7 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana: Leipzig 1896) pp 183–97Google Scholar und Desideri, [S.], [La] ‘Institutio [Traiani’] (Pubblicazioni dell’ Istituto di Filologia Classica, 12: Tivoli 1958) pp 83–92Google Scholar. Eine kurze inhaltliche Zusammcnfassung der einzelnen Fragmente findet sich bei Ziegler, K., Plutarchos von Chaironeia (Stuttgart 1964) pp 187–8Google Scholar; vgl. auch Desideri, ‘Institutio’, pp 9-68.
2 Vgl. dazu ausführlich Kerner, [M.], [‘Zur Entstehungsgeschichtc der] Institutio Traiani’], DA 32 (1976), pp 558–71.Google Scholar
3 Vgl. Liebeschütz, [H.] [‘John of Salisbury and) Pseudo-Plutarch’, Journal of the Warburg and Counauld Institutes 6 (1943) pp 33–9CrossRefGoogle Scholar, ders., ‘Mediaeval Humanism in the Life and Writings of John of Salisbury’ (Studies of the Warburg Institute 17: London 1950, Nachdruck mit Nachtrag Ncndcln 1968) pp 23-6, ders., ‘Das zwölftejahrhundert unddie Antike’, AKG 35 (1953) pp 264-5 und ders., ‘Chartres und Bologna, Naturbegriff und Staatsidee bei Johannes von Salisbury’, AKG 50 (1968) pp 19-20.
4 Vgl. Martin, [Janet M.], John [of Salisbury] and the Classics (Ph.D. Thesis, Harvard University, Cambridge, Mass. 1968) pp 176–87Google Scholar und dies., ‘Uses of Tradition: [Gellius, Petronius and John of Salisbury’,] Viator. Medieval und Renaissance Studies 10 (1979). pp 61-7.
5 Daβ die Institutio Traiani nichts mit einem Werk Plutarchs zu tun hat, ist bereits Ende dcs 18. Jahrhunderts von Wyttenbach und Fabricius festgestellt worden. Vgl. dazu mit den nàheren Einzelhciten Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 558-9.
6 Vgl. Liebeschütz, ‘Ps-Plutarch’, pp 33-4.
7 Johannes von Salisbury war in den Jahre 1142-4 Schüler des Robertus Pullus in Paris; vgl. dazu Poole, R. L., ‘The Early Lives of Robert Pullen and Nicholas Break-spear’, Studies in Chronology and History (Oxford 1934) p 290Google Scholar; Smalley, Beryl The Becket Conflict and the Schools. A Study of Intellectuals in Politics (Oxford 1973) p 88.Google Scholar
8 Ob die Institutio Traiani als mögliche Fàlsehung des Johannes in ihrem konzeptionellen Ansatz wirklich von Robertus Pullus angeregt worden sein kann, darf allerdings schon deshalb bezweifelt werden, weil dieser englische Theologe in seinem Sentenzenbuch von 1142-4 eine insgesamt uneinheitliche und vom Policraticus abweichende politische Auffassung vertrat. Vgl. dazu Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 568-9 und ders., [Johannes von Salisbury und die] logische Struktur [seines Policraticus] (Wiesbaden 1977) pp 54-8. Liebeschütz legte groβen Wert auf die formale Parallele zwischen Robertus Pullus und Johannes; für ihn folgte Johannes bei der Aufzählung der einzelnen Gesellschaftsgruppen der von Robertus vorgegebenen Abfolge (duces, milites, subditi=agricolae et mercatores). Man wird jedoch beachten müssen, daβ im Sentenzenbuch Roberts die hier entscheidenden organologischen Äquivalente fehlen.
9 Liebeschütz dachte hier z.B. an die von Johannes benutzten historiographischen Schriften des Floras und Eutrop, an die mittelalterliche Gregorlegende, an Lupus von Ferrières und an das Siudaslexikon. Vgl. dazu Liebeschütz, ‘Ps. Plutarch’, pp 34-7.
10 Zu erwähnen ist vor allem Policraticus, iv. 8, wo Johannes in Verbindung mit einer aus Gellius übemommenen Beispielgeschichte ein Werk Plutarchs anführt, das er offenkundig von sich aus und gegenüber der bekannten Plutarchüberlieferung mit einem neuen Titel (Archigramaton) und einer veränderten Inhaltsangabe (de magistratuum moderatione) versah. Für Martin, ‘Uses of Tradition’, p 65 war hier ‘a crude prototype of the Institutio, which similarly purports to be a political treatise by Plutarch’ vorweggcnommen. Vgl. dazu auch Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 559-60.
11 Vgl. Desideri, ‘Institutio’, pp 9-47 und die entsprechenden Momigliano, Rezensionen von A., RStI 71 (1959) pp 487–8Google Scholar und Paladini, M. L., Latomus 19 (1960) pp 156–9.Google Scholar
12 Vgl. dazu auch Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 560-1.
13 Zu nennen sind hier z.B. die Art des Zitierens, die Kennzeichnung des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Gewalt und die Änderung der poly-in monotheistische Formeln. Vgl. Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 560-1 mit Hinweis auf Desideri.
14 Vgl. zum Zeitpunkt solcher möglichen Veränderungen Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 570-1.
15 Bei einer ausführlicheren Behandlung der bisherigen Forschungsdiskussion zur Entstehungsgeschichte der Institutio Traiani müβte man beispielsweise noch einmal genauer die Beobachtung A. Momiglianos aufnehmen, der bekanntlich bei Petrarca lnstitutiofragmente gefunden hatte, die nicht oder nur teilweise durch den Policraticus abgedeckt werden können. Vgl. dazu und zu der entsprechenden Antwort von Liebeschütz auf Momigliano die kurzen Bemerkungen im Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 12 (1949), pp 189-90. Bei einer solchen Wiederaufnahme wäre auch einzugehen auf die für unseren Zusammenhang zentralen Bemerkungen des Johannes im Policraticus, i prolog, 1 pp 16-18, über figmentum und mendadum. Johannes scheint sich bei diesen Ausführungen auf eine literarische Diskussion in Canterbury zu beziehen, bei der er gegen die Auffassung eines gewissen Lanuvinus anzugehen hatte. Diescr Luscius Lanuvinus—aus den Prologen der Terenzkomödien bekannt und bei der breiten Terenzkenntnis des Johannes wahrscheinlich auch von dort in den Policraticus gelangt-ist für Johannes vielleicht ein Deckname für seine literarischen Gegner. Trifft dies zu, dann dürfte die literarische Auseinandersetzung zwischen Terenz und Lanuvinus auch die inhaltlichen Positionen der Kontro verse in Canterbury andeuten und Johannes zu einem Autor machen, der sich ähnlich wie Terenz gegen eine allzu cnge Anlehnung an seine Werkvorlagen wehrt. Diese Freiheit, literarische Vorlagen auch entsprechend zu bearbeiten, scheint Johannes zu meinen, wenn er von figmenta spricht und diese konkret etwa im Somnium Scipionis der ciceronischen Staatsschrift oder allgemeiner in platonistischen Neubearbeitungen bzw. in der Saturnalienliteratur verwirklicht sieht (vgl. Webb 1, 17, 30-18, 3). Von solchen figmenta hebt Johannes deutlich das literarische mendacium ab. Er wendet sich dagegen, bei der Heranziehung antiker Autoren ratione vel auctoritate die Unwahrheit gesagt zu haben. Für ihn gilt vielmehr: Nam et illos laudo auclores (Webb 1, 16, 13). Sollte der Leser trotzdem etwas finden, das anderswo anders als im Policraticus geschrieben steht, dann bedeutet dies für Johannes noch keine Inhaks-oder Autorenfälschung, sondern betrifft lediglich eine wahrscheinlich unterschiedliche Übcrlieferungssituation oder das Ergebnis gedanklicher Weiterentwicklung (vgl. Webb 1, 17, 2-7). Johannes behauptet demnach, die literarischen Vorlagen frei bearbeitet (figmentum), keinesfalls aber geschaffen (mendacium) zu haben. Die plutarchische Institutio Traiani als literarische Fiktion desjohannes aber ware nichts anderes als das von ihm selbst zurückgewiesene mendadum auctoritatis.
16 Vgl. zur bisherigen Rezeption der Desiderithesen etwa Martin, John and the Classics, p 238, n 19; dies., ‘Uses of Tradition’, p 63, woes lediglich heiβt: ‘Animperceptive study by Saverio Desideri takes for granted the independent existence of the Institutio without addressing Liebeschütz’s argument.’
17 Gemeint sind spätantike Ämterbezeichnungen wie praeses provinciarum, commentariensis oder comes rerum priuatarum, die Desideri der nachkonstantinischen Zeit zugeordnet hat. Vgl. dazu mit den näheren Einzelhciten Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 569-70. Das frg. II findet sich in der Edition bei Desideri (‘Institutio’, pp 84-5) und entspricht Policraticus v, 2 (vgl. Webb 1, pp 282-4).
18 Vgl. Struve, T., Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelaltcrs 16: Stuttgart 1978) pp 127–8.Google Scholar
19 ZRG KAbt 66 (1979) pp 341-2.
20 Solche Überlegungen beziehen sich beispielsweise auf die Art, wie Johannes von Salisbury dem Leser Übernahme und Verarbeitung der Institutio Traiani vorführt, oder auf den geringen Bekanntheitsgrad Plutarchs als ein der Logik mittelalterlicher Fälschungen widersprechendes Prinzip. Vgl. dazu im cinzelnen Kerner, ‘Institutio Traiani’, pp 562-7 und ders., Logische Struktur, p 176 mit n 219. Man könnte andererseits vielleicht meinen, daβ die auffallend geringe Übernahme von Zitaten aus der Institutio im Vergleich zur sonstigen Praxis desjohannes möglicherweise ein Argument für die Fiktionsthese von Liebeschütz und Martin darstellt. Diese merkwürdige Zurückhaltung des Johannes kann allerdings auch in dem Zustand seiner Vorlage begründet liegen, über den wir bis auf die Hinweise im Policraticus nichts Näheres wissen.