Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Magere Ergebnisse fördert zutage, wer die echten Schelme in der deutschen Dichtung aufspüren will and dazu die üblichen bibliographischen Handbücher, die zusammenfassenden Darstellungen motiv- und stoffgeschichtlicher Art und die nach Gattungen geordneten Sachbücher befragt. Josef Körner nennt in seinem Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums nur eine geringe Anzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen unter dem Stichwort “Schelmenroman”, wovon die meisten sich auch noch auf das 16. und 17. Jahrhundert und die Lazarillo- und Don Quichote-Nachahmungen beschränken. In seiner durch ungeheuren Fleiß ausgezeichneten Anhäufung von Material, The Literature of Roguery (1907), teilt Frank W. Chandler der deutschen Schelmenliteratur nur neun Seiten zu, wobei sie sich diesen Platz auch noch mit der Diskussion des Genres in Holland teilen muß. Außer kurzen Hinweisen auf die deutsche Schwankliteratur, Meier Helmbrecht, Wittenweilers Der Ring, das Liber Vagatorum, Sebastian Brants Das Narrenschijf und auf einige Barocksatiren werden nur Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch und seine späteren Simplicianische Schriften einer knappen Besprechung für würdig erachtet. Chandler schließt mit der Erwähnung mehrerer Robinsonaden und dem bezeichnenden Satz: “as elsewhere in letters, the ideal and the sentimental replaced picaresque realism. And so for a time the spirit of Rousseau and Richardson ruled.” Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur zählt einige der deutschen Übersetzungen und Nachdichtungen der Gattung im Barockzeitalter auf und nennt au der neueren deutschen Literatur Wincklers Der tolle Bomberg, Thelens Die Insel des zweiten Gesichts und Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Das klassische Werkzeug aller Germanisten, der Merker-Stammler, räumt dem Schelmenroman auch nur verhältnismäßig wenig Platz ein. Es wird hingewiesen auf den Bayern Ägidius Albertinus, den “Vater des deutschen Schelmenromans” und seine Bearbeitung des “Gusman von Alfarache” und auf einige obskure Verfasser und Bearbeiter. Man beeilt sich jedoch hinzuzufügen: “Von einem deutschen Schelmenroman kann …kaum gesprochen werden.” Und weiter unten heißt es: “Sowohl die Schelmenromane wie die Romane Grimmelshausens haben … wenig Nachahmung gefunden.”
1 Josef Körner, Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums (Bern, 1949), S. 187 ff.
2 Frank W. Chandler, The Literature of Roguery, i (Boston and New York, 1907), 26-35.
3 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur (Stuttgart, 1955), S. 519 ff.
4 Paul Merker und Wolfgang Stammler, Reallexikon der deutschen Literalurgeschichte, iii (Berlin, 1928–29), 164–167. Die Eintragungen unter “Schelmenroman” oder “Pikaresker Roman” der neuen Auflage lagen bei der Abfassung dieser Arbeit noch nicht vor.
5 Siehe dazu Hans-Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch (München, 1955), S. 285 ff. Helmut Günther, “Der ewige Simplicissimus. Gestalt und Wandlungen des deutschen Schelmenromans,” Welt und Wort, x (1955), 1-5.
6 Dabei braucht gar nicht verschwiegen zu werden, dafi der lange Atem mancher alten Schelmendichter auf ganz materialistischen Erwägungen beruhte: je mehr Abenteuer, desto mehr Druckbogen, desto größer der Profit.
7 El Lazarillo de Tormes, ed. Luis J. Cimeros (Buenos Aires, o. J.), S. 131, 183.
8 Alain-René Le Sage, Histoire de Gil Bias de Santillane (Paris, 1855), S. 125.
9 Albert Vigoleis Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts (Dusseldorf-Köln, 1953), S. 483, 412.
10 Gunter Graß, Die Blechlrommel (Darmstadt, 1959), S. 236, 412.
11 Thelen, S. 573.
12 Daniel Defoe, The Fortunes and Misfortunes of the Famous Moll Flanders, ii (New York, 1903), 29.
13 Thomas Mann, Gesammelte Werke, vii (1960), 416.
14 Thelen, S. 222.
15 Graß, S. 732.
16 Oskar Seidlin, Von Goethe zu Thomas Mann (Gottingen, 1963), S. 172.
17 Auf die allgemeinen und komplexen Fragen der Erzähl-haltung und Erzähltechnik in der modernen Literature kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu die sehr brauchbare Bibliographie in Werner Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil (The Hague, 1965).
18 Seidlin, S. 164. Der Vergleich mit einer anderen, bereits verfallenden Gesellschaftsschicht, die einen Picaro gebar, liegt nahe: die k.u.k. österreichisch-ungarische Beamten- und Militarhierarchie und der Soldat Schweyk.
19 Lazarillo, S. 161-162.