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Realismus und Tragik in Hebbels Dramen
Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
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Friedrich Hebbel, nächst Ibsen der grösste Dramatiker der germanischen Welt im 19. Jahrhundert, ist oft der Dramatiker des Realismus genannt worden. Nun ist es bezeichnend, dass Edna Purdie in ihrem Buch über Hebbel sich jeder geistesgeschichtlichen oder stilgeschichtlichen Einordnung von Hebbels Werk enthält und vor allem Wort und Begriff des Realismus meidet. Vielleicht mit Recht, wenn man bedenkt, wie sehr das Wort missbraucht und wie schillernd der Begriff geworden ist. Aber gerade bei Hebbel Hesse sich zu einer Vertiefung des Begriffes durchstossen, wenn man nämlich Realismus nicht als einen äusserlich-stilistischen Terminus fasst, der ein Mehr oder Minder an Tatsachenfreude, an Detail der Umweltschilderung bezeichnet, sondern unter Realismus eine prinzipiell bejahende Haltung zu den Realitäten des Lebens versteht.
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- Research Article
- Information
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- Copyright © Modern Language Association of America, 1938
References
1 Edna Purdie, Friedrich Hebbel, A Study of his Life and Work (London, 1932).
2 „Realismus und Idealismus, wie vereinigen sie sich im Drama? Dadurch, dass man jenen steigert und diesen schwächt. Ein Charakter z.B. handle und spreche nie über seine Welt hinaus, aber für das, was in seiner Welt möglich ist, finde er die reinste Form und den edelsten Ausdruck, selbst der Bauer.“ (Hebbels Tagebilcher hrg. R.M. Werner, iv, 37; 3. August 1854). Hebbel gebraucht hier die Worte „Realismus“ und „Idealismus“ nicht in der Bedeutung, die wir bei diesem Aufsatz im Sinne haben; aber er trennt sich entschieden von einer äusserlich-stilistischen Auffassung des Begriffes Realismus.
3 Maria Magdalena, iii, 11: „ich bezahl's mit dem Leben, dass ich mich von einem, der schlechter war, als ich, so abhängig machte. “
4 Räuber, iv, 2 und Maria Magdalena, in, 5.—Vergleiche auch Golos Schlussworte am Ende des 3. Aktes der Genoveva.
5 Bei Schiller mit auffälligen Anklängen an die Rede des Todes im Ackermann aus Böhmen, Kapitel 24, wo dieser den stoischen Standpunkt aufgibt und ebenfalls zum Zynismus seine Zuflucht nimmt.
6 Purdie, Hebbel, Seite 163: „It is she herself who pronounces the ultimate judgement.“
7 Karl Moor gibt sein Leben auf aus Einsicht, nicht aus Trotz. Franz Moor kommt dem Hebbelschen Typ etwas näher, aber er legt Hand an sich im Wahnsinn der Verzweiflung, nicht im beherrschten Trotz einer Mariamne. Die Brüder von Schillers Drama suchen ihr Ende, als ihre Welt zusammengebrochen ist, die Hebbelschen Charaktere sterben als Blutzeugen, als Märtyrer ihrer Welt.
8 Albrecht mag in der ersten Aufwallung einen Gegensatz zwischen seiner Liebe und seinem herzoglichen Stand empfunden haben (i, 14: „Da liegt der Herzog“). Aber das ist längst vergessen. Als ihn die Nachricht vom Tode seines Vetters Adolf erreicht, ruft er aus: „Für mich war er nie da!“ (iv, 8). Das bedeutet, Albrecht hat den Herrscheranspruch nie aufgegeben. Ernst ändert am Ende nicht seines Sohnes Charakter, sondern nur seinen Sinn. Nicht d a s s er regieren soll, sondern w i e er regieren soll, schreibt er ihm vor.
9 Tagebücher ii, 392; 9. April 1844.
10 In Ueber naive und senlimenlalische Dichtung (in fine) sagt Schiller, dass „der Idealist … zwar in einzelnen Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit näher kommt, dagegen aber nicht selten sogar unter dem niedrigsten Begriffe derselben bleibet.“
11 Miss Purdie bespricht Seite 246–248 Hebbels Gebrauch des Monologs. Die zwei Tagebuchstellen, die sie anführt, scheinen mir auf Hebbels Praxis nicht anwendbar. Überhaupt ist es eine der wesentlichsten Schwächen von Miss Purdies Buch, dass sie seine Tagebucheinträge meist unkritisch hinnimmt und als Schlüssel zu seinen Werken benutzt. Aber wie vieles ist in diesen Tagebüchern bloss Frucht der Lektüre, flüchtiger Einfall, der durch das Lesen der Werke anderer Dichter hervorgerufen wird! Wie vieles ist nur dem prägnanten Ausdruck, der schlagenden Metapher zuliebe hingesetzt! Danach fragt Miss Purdie kaum. So kommt sie auch über die oberflächliche Unterscheidung von langen und kurzen, die Tat erwägenden und die Situation erklärenden Monologen nicht hinaus.
12 Ihre kurzen Monologe verdienen kaum den Namen.
13 Siehe oben die Bemerkungen über Maria Magdalena. Schon den Gehalt des ersten Hebbelschen Dramas, der Judith, könnte man „Krise des Idealismus“ nennen. Judith will ihre Tat als Retterin ihres Volkes, als Beauftragte ihres Gottes vollbringen. Das Opfer ihres Leibes, die reale Bedingung der Tat, scheint ihr ein Leichtes und sie denkt kaum daran. Aber als es zur Ausführung der Tat kommt, wird die reale Bedingung ausschlaggebend und der ideale Beweggrund vergessen. Judith begeht den Mord nicht als göttliches Werkzeug, sondern als Rächerin ihrer verletzten Menschlichkeit. Schon hier also findet sich die typisch Hebbelsche Aszendenz des Realen über das Ideale. Schon hier ist der Heldin am Ende die Handlungsfreiheit genommen, die Umstände werden ihr Schicksal entscheiden, während Schillers Helden sich gerade am Ende über ihr Schicksal erheben und ihre Handlungsfreiheit wiedergewinnen. Schon hier ist die Heldin ein Opfer: Hebbel selbst gebraucht das Wort von der Judith. (Tagebücher ii, 26; 3. April 1840.)
14 Man wird mit Recht einwenden, dies Beispiel sei weniger schlagend als die eingangs zitierten aus Schillers Dramen. In Goethe steckt gewiss ein höheres Verständnis und stärkere Sympathie für den Realisten. Gerade die Entstehungsgeschichte des Tasso lehrt, wie er sich in dieser Richtung bewegt. Aber das Drama verfährt nicht hart genug mit Tasso, er bleibt der Vertreter einer „besseren Welt.“ Antonio mag sich wie Herzog Ernst auf die Realitäten des Lebens berufen, er hat nicht zugleich dessen Hoheit. Der Widerstreit zwischen idealer Forderung und harter Wirklichkeit klafft bis zum Ende, er ist nicht zugunsten der letzteren aufgelöst.
15 Das gilt nur für die Agnes Bernauer. Hebbel selbst hat oft Aussprüche getan, die sich dem Illusionismus oder Pessimismus Ibsens nähern. Nur wenige Belege:
„Es ist eine Sünde, heisst es, den Menschen die Wahrheit vorzuenthalten. Mag sein. Aber es ist eine grössere, es ist ein Frevel, die Wahrheit einem Individuum gegenüber, das kein Organ für sie hat, preiszugeben. Es heisst, die Rose mit einer Hundsnase in Berührung bringen; das Bild ist schwach.“ (Tagebücher, ii, 381; 31. Januar 1844).
„Dass ihr euch selbst nicht erkennt, das scheint euch so sehr zu bekümmern; Menschen, ihr lebt nur dadurch, dass ihr nicht wisst, was ihr seid!“
„Die Erde ist ein Wrack im Schiffbruch, auf dem die Leute sich um den Zwieback schlagen.“ (Tagebücher, iii, 124; 15. November 1846).
16 Hebbel war viel zu klug, um diese Gefahr nicht selbst zu sehen; aber er war auch zu willensgewaltig, zu dickköpfig wenn man will, um ihr aus dem Wege zu gehen: „Ich muss mich hüten, bei meinen Dramen in einen Fehler zu fallen, den ich kaum vermeiden kann, wenn ich fortfahre, meine Ideen so consequent durchzuführen, wie bisher. Es ist sicher, dass ich mich im Hauptpunkt nicht irre, dass jedes Drama ein festes, unverrückbares Fundament haben muss. Muss es darum aber auch jeder Charakter haben und jede Leidenschaft, die in einem Charakter entsteht? Dennoch kann ich mich nicht ohne Ekel auf blosse Relativitäten einlassen.“ (Tagebücher iii, 145 f.; 26. Dezember 1846).—Weil Hebbel an der Konsequenz seiner Charakterzeichnung nichts ändern wollte, musste er schliesslich eine ebenso schwere Konzession machen: in der Bühnenfassung der Agnes Bernauer sind die Ereignisse nach Agnes' Tod fast völlig gestrichen. Er opferte also die Verdeutlichung der höheren Notwendigkeit. Er verzichtete auf die Belehrung seiner Zuschauer und liess ihnen etwas von ihrer Erregung.
17 Es ist interessant zu vergleichen, wie gering Goethe von der Freiheit dachte, mit welch geringer physischer Freiheit er zufrieden war, und dass er Schillers Begriff der ideellen Freiheit geradezu die Schuld an dessen vorzeitigem Tode zuschob (zu Eckermann, 18. Januar 1827). Man darf Eckermanns Bericht wohl nicht allzu wörtlich nehmen, auf jeden Fall spricht aber aus Goethes Worten eine fast erschreckende Gleichgültigkeit, ja Abneigung gegen Schillers Grundproblem.
18 Man könnte vielleicht auch folgendermassen argumentieren: Der kategorische Imperativ verbietet eine Handlung, deren Maxime nicht zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden könnte. Johanna verstösst dagegen, indem sie nicht nur die Fahne, sondern auch das Schwert führt. Freund wie Feind empfinden dies als unerträglich (Zeile 1506–15; 2504; 2640–43). Weil sie sich Sonderrechte anmasst, muss Johanna auch grössere Bindungen und Beschränkungen auf sich nehmen. Weil sie Montgomery getötet, Lionel aber verschont hat, muss sie selbst fallen.—Aber das heisst wohl, Schillers Drama allzusehr nach Bernard Shaw lesen, dessen Saint Joan wegen derselben Taten zugrundegeht, wenn sie auch soziologisch und nicht moralisch interpretiert sind.—In Bezug auf den oben im Text folgenden Absatz mag man die Stelle aus Agnes Bernauer iv, 3 danebenstellen, in der es heisst, dass man der Agnes höchstens vorwerfen könne: „sie trug keinen Schleier und schnitt sich die Haare nicht ab.“ Johannas Tod wird durch eine Übertretung der weiblichen Rechte gefordert, Agnes könnte sich höchstens dadurch retten, dass sie sich ihrer weiblichen Rechte begibt.
19 Darauf deutet auch die begeisterte Ehrung Schillers bei der Leipziger Uraufführung im September 1801. Einen solch unmittelbaren Publikumserfolg hatte Schiller seit der Aufführung der Räuber zwanzig Jahre zuvor nicht erlebt, und es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ehe andere Dramatiker ähnliche Huldigungen in deutschen Theatern empfingen.
20 Auch bei Shakespeare, jedoch mit folgenden Unterschieden: In der griechischen Tragödie wird das Dämonische als ständig wirksame Macht dargestellt, die das ganze Leben beherrscht. Shakespeare dagegen zeigt den Einbruch des Dämonischen als aussergewöhnlichen, unerhörten Fall. Deshalb sind die Shakespeareschen Gestalten unvorbereitet, während die Griechen sich stets vor dem Dämon fürchten und hüten, wenn auch vergebens. In der griechischen Tragödie herrscht der Dämon in der Aussenwelt, bei Shakespeare verkörpert er sich als Besessenheit des Charakters. Die Griechen zeigen vernünftige Menschen in einer dämonischen Welt, Shakespeare dämonische Menschen in einer vernünftigen, gerechten Welt. Diese Gerechtigkeit erweist sich vor allem in der Bestrafung der Bösen (Iago, Lady Macbeth, die älteren Töchter des Lear). Ihr Ende ist Strafe, und deshalb nicht tragisch: „This judgment of the heavens that makes us tremble / Touches us not with pity“ (King Lear v, 9). Die Gerechtigkeit der Weltordnung wird jedoch durchbrochen durch das Opfer der Guten (Cordelia, Ophelia, Desdemona) und ihre Vernunft durch die Dämonie der Besessenen (Lear, Othello, Macbeth). Letzteres ist der eigentlich tragische Fall, der der griechischen Tragik entspricht.
21 Dies bezieht sich nur auf den Schillerischen Helden, den Idealisten. Sein Realist hat einen gewissen Spürsinn für die zu erwartende Entwicklung der Dinge. Aber das ist kein Verdienst, eher ein Makel.