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Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Franz H. Mautner*
Affiliation:
Ohio Wesleyan University

Extract

“Die Form ist doch in ihrer tiefsten Bedeutung unzertrennlich vom Gehalt, ja in ihrem Ursprung fast eins mit demselben …”

Mörike.

Mozart auf der Reise nach Prag ist Mörikes letzte Novelle und seine letzte vollgültige Dichtung überhaupt. Die künstlerische Eigenart des reifen Mörike hat sich hier zum Standbild verdichtet, zu seinem in jedem Sinn “vollendetsten” Prosawerk, bezaubernd durch die innere Ausgewogenheit von Heiterkeit und Ernst.

Type
Research Article
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1945

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References

1 In einer Anzahl lesenswerter Aufsätze und Untersuchungen ist die eine oder andere dieser Aufgaben bereits in Angriff genommen worden, aber stets summarisch oder fragmentarisch: Erich Hof ackers Studie in The Germanic Review, 6, 106–113 (1933) behandelt hauptsächlich “Mörikes Mozartnovelle in ihrem Künstlerischen Aufbau,” Gertrud Lenhardt, “Mörikes Märchen und Novellen,” Zeitschrift für deutsche Bildung, x (1934), 354–360, versteht unsere Novelle (359 f.) als “Vision, ‘inneres Konzept,‘ wie Mörike selbst sagte, geboren aus Mozarts Musik,” Hans Hering in “Mörikes Mozartdichtung,” ibid. 360–366, spürt als Musiker der Mozartschen Musik in spezifisch sprachklanglicher und satzarchitektonischer Vergegenwärtigung nach; Vera Sandomirskys feinfühlige, wenn auch schülerhaft überspannte Dissertation Eduard Mörike, Sein Verhältnis zum Biedermeier (1935), setzt sich weitere Ziele, als der Untertitel anzeigt, steht aber doch zu sehr unter seinem Bann, um ein unbefangenes Bild geben zu können; Hermann Pongs behandelt in den unserer Novelle gewidmeten Seiten 251 ff. seiner Studie “Ein Beitrag zum Dämonischen im Biedermeier,” Dichtung und Volkstum, xxxvi (1935), 241-261 vor allem ein Element, das “Dämonische,” entstellt aber durch Uebertreibung im Inhalt und Ausdruck die Gestalt der Novelle ins Pathetische. — Wir dürfen die Leser dieses Artikels zur Ergänzung auf die obigen Schriften verweisen; mit Polemik ist er nur selten belastet.

2 Was immer man über die Einführung dieser Bezeichnung in die Stilgeschichte der deutschen Literatur denken möge, als umschreibender Hilfsbegriff leistet sie gute Dienste, gerade infolge ihres Reichtums an Anschauung, ob man ihre Grenzen nun sachlich und chronologisch ein weiteres oder engeres Gebiet umspannen läßt. — Zur Diskussion dieser Fragen vgl. A. von Grolmann, “‘Biedermeier‘-Forschung,” Dichtung und Volkstum, xxxvi (1935), 311–325, P. Kluckhohn, “Biedermeier als literarische Gattungsbezeichnung,” Deutsche Vierteljahsschrift für Litw. und Geislesg., xiii (1935), 1–43 und “Zur Biedermeier-Diskussion,” ibid., xiv (1936), 495–504, ferner F. J. Schneider, “Biedermeier und Literaturwissenschaft,” Preussische Jahrbücher, cxl (1935), 207–223. — Unsere Auffassung stebt der, von Bietak beeinflußten, Kluckhohns am nächsten, um der Betonung der beherrschenden humanistischen Ethik willen.

3 Uns erscheint diese Beschreibung keineswegs so “ungenau.” Die am Biedermeier oft hervorgehobene realistische Sach-Freudigkeit — Sachfreudigkeit im Kunstgewerblichen besonders— verbündet sich mit dem Blick des Liebhabers des Rokoko-Geistes, dem das stilgeschichtlich Charakteristische sogleich auffällt: “Der gelbrote Wagen ist… am Schlage mit Blumenbuketts, in ihren natürlichen Farben gemalt, die Ränder mit schmalen Goldleisten verziert, der Anstrich aber noch keineswegs von jenem spiegelglatten Lack der heutigen Wiener Werkstätten glänzend, der Kasten auch nicht völlig ausgebaucht, obwohl nach unten zu kokett mit einer kühnen Schweifung eingezogen; dazu kommt ein hohes Gedeck mit starrenden Ledervorhängen …” (S 213. Zitate nach Harry Mayncs Ausgabe von Mörikes Werken [1909], Bd. iii).

4 Kursivdruck besonders charakteristischer Einzelheiten hier und später von uns.

5 Wenn Mozart durch gesellige “Vergnügungen, bald bunt und ausgelassen, bald einer ruhigeren Stimmung zusagend,” durch “Berufsarbeiten, Akademien, Proben und dergleichen abgemüdet, nach frischem Atem schmachtete, war den erschlafften Nerven häufig nur in neuer Aufregung eine scheinbare Stärkung vergönnt. Seine Gesundheit wurde heimlich angegriffen, ein je und je wiederkehrender Zustand von Schwermut wurde, wo nicht erzeugt, doch sicherlich genährt an eben diesem Punkt” (S. 218 f.). Vgl. auch S. 217.

6 “Er blickte, wie aus einer stillen Träumerei ermuntert, helle zu ihr auf, besann sich schnell und sagte … (Hier sah er zwei Sekunden lang zu Boden, und sein Ton verriet … eine kaum merkbare Bewegung)” (S. 271) und “Als beide in dem Wagen saßen … fing unser Meister, nachdem er eine Zeitlang still gewesen, wieder an” (S. 216) sind noch die stärksten Äußerungen dieser Art.

7 Wir wissen aus Dutzenden von Quellen, wie sehr sie auch Mörike eigen war.

8 Vgl. auch S. 236 f. und: “Eugenie trat mit dem Baron und Max herbei, die Unterhaltung hob sich unversehens auf ein Neues, ward nochmals ernsthaft und bedeutend, so daß der Komponist, eh die Gesellschaft auseinander ging, sich noch gar mancher schönen, bezeichnenden Äußerung erfreute …” (S. 273).

9 Dieses grundsätzliche Verhalten paart sich mit dem Spielerischen zur Kostümfreudigkeit, dem Hang zum bedeutsamen Nachahmen und Verkleiden, stilgetreuen Wiederbeleben vergangener Zeiten. In der Literatur über das Biedermeier als charakteristischer Zug festgestellt, spielt sie auch in Mozarts Reise ihre liebenswürdige Rolle. Die Verserzählung des Leutnants ist in ihren klassizistischen Motiven durchaus der Hofatmosphäre Ludwigs XIV., aus der das Orangenbäumchen stammt, und zugleich deutscher Rokoko-Anakreontik angeglichen. Sie ist in Prosa wiedergegeben, aber das antike Milieu klingt in der stark daktylischen Kadenz und in der mehrmaligen Wiederkehr der charakteristischen deutschen Hexameter-Klausel × × ×, am Satzende nach: “Glück winken ihr Sträucher und Bäume … Er kennt und sieht seine Pflegerin nimmer. Wie weint sie, wie strömt ihre zärtliche Klage; Apollo von weitem vernimmt die Stimme der Tochter … mit der Farbe des Goldes verlauschend” (S. 250).

Franziskas Mutterwitz heißt sie, die Gesellschaft mit einem mythologischen Kupferstich in ähnlichem Stil zu erheitern, und Max zitiert die Ramlersche Übersetzung der Horaz-Strophe, die als Titel des Bildes dient. Um die Täuschung noch lebhafter zu gestalten, schrieb Mörike hierfür Antiqua-Lettern vor. Ding, Worte, Bild und Schrift vereinigen sich so auf engstem Raum zum heiteren Kostüm. Konversation und Musik folgen dicht darauf. —Andrerseits hat für Mörike und die Leser seiner Zeit, die vom klassischen Humanismus Goethes und Schillers und seinen Auswirkungen geformt sind, die anakreontische Behandlung der Antike etwas leise Amüsierendes an sich; das spricht sich in den wohlwollend parodierenden Scherzen über eben diese Ramler-Uebersetzung aus (S. 251).

10 Auf eine Lampe.

11 Außer den edlen Perlen hier vgl. Möbeln von edlerer Herkunft (S. 227), edles Getränk (S. 237) “das edle Sah, … ein Symbol der Häuslichkeit und Gastlichkeit” (S. 266).—Der alte Goethe hätte beifällig bemerken können, daß “man die schicklich ausgeteilten Plätze einnahm” (S. 237), daß das edle Getränk von “gelblichem Weiß, dessen lustiger Schaum herkömmlich erst die zweite Hälfte eines Festes krönt” nicht vergessen, daß Mozarts Notenblatt reinlichst geschrieben war (S. 245) und daß die Diener “den verhängnisvollen Pomeranzenbaum anständig, ohne Geräusch in den Saal hereintrugen” (ebenda).

12 Vgl. die scherzhafte Tirade in diesem Zusammenhang über die ehrsamen Bürger im Gespräch, “wie eine jede ihrer Tugenden, ihr Fleiß und Ordnungsgeist, gelaßner Mut, Zufriedenheit, sich auf die wackern Stöcke gleichsam als eine gute Stütze lehnt und stemmt” (S. 255).

12a “[Auf der Tafel] erhoben sich mitten zwei mächtig große Porzellanaufsätze mit gemalten Figuren, breite Schalen, gehäuft voll natürlicher Früchte und Blumen, über sich haltend. An den Wänden des Saals hingen reiche Festons” (S. 237).

13 So wenig Mörike — im Gegensatz zu den Behauptungen der Kommentatoren — das Oesterreichische im einzelnen getroffen hat, die Absicht, dem Gespräch einen herzlich-“gemütlichen” Klang zu verleihen, ist erreicht.—Der Ruf der Bescheidenheit und reifen Stille, einer Abneigung gegen alles Pathetische, der österreichischem Wesen nachgeht, kommt so, unausgesprochen auch von anderer Seite der Erscheinung Mozarts in der Novelle zugute.

14 Der Erörterung seiner Zukunftsaussichten begegnet er in einer Weise, die ihm ein “Hanswurst” von Madame Mozart einträgt (S. 224). Erinnerungen an lustige Kapriolen in seiner Musik tauchen hier beim Leser auf.

15 Dem ersten Abdruck der Novelle im Stuttgarter Morgenblatt 1855, Nr. 30 (Juli) hatte Mörike als Motto ein Zitat aus Oulibicheffs Mozartbiographie vorangesetzt, das die Notwendigkeit solcher Aufgeschlossenheit für Mozarts Schöpfertum klar machen sollte (Text in den “Lesarten” der Werke, iii, 525). Es war ein künstlerisch glücklicher Entschluß Mörikes, es in der Buchausgabe 1855 (“1856”) wegzulassen und die “Moral” den Leser selbst finden zu lassen.

15a Die Szene künstlerischer Inspiration—selbst hier als nicht viel mehr denn sonderbares Betragen geschildert: “… auf deren unbestimmter Spur er sich ein Weilchen träumerisch erging. Jetzt glänzen seine Blicke, sie irren da und dort umher … ”—wird einige Zeilen später mit nüchternem Realismus noch weiter-reduziert, zu einem sinnesphysiologischen Vorfall: “Es mochte ihn dabei ein dunkles Durstgefühl geleitet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne mit Einatmung des köstlichen Geruchs” (S. 228).

16 In Pongs' Darstellung, die auf der Jagd nach dem “Dämonischen” den Ton des Ganzen überhört und die feine, für Mörike so charakteristische Schattierung vom Dunklen zum Hellen in einen Gegensatz strahlender Festlichkeit und schwarzer Dämonie vergröbert — und Melancholie zu Pathos — sieht diese Stelle so aus: “Ein Schatten fällt in die sonnige Heiterkeit. ‘Tannendunkel,’ ‘bald bis zur Finsternis verdichtet,’ nimmt den Schöpfer des Don Juan [!] auf und vertieft ihm den Blick ins Wesen des Daseins: ‘Ein ganzes Volk von Bäumen’ wird er gewahr.” [l. c. 251].

17 Der Ernst dieses Satzes, durch das hypothetisch eingeleitete und dazu mundartliche mächt gedämpft, wird bei Pongs zum “Schreckruf” [l. c. 251].

17a Obwohl er stets als ein Gipfel Mörikescher Prosa betrachtet wurde, ist er seltsam mißverstanden oder nur halb verstanden worden. Pongs überhört die sprachliche Neuschöpfung der Musik aus der geschilderten Don Juan-Szene und versteht die Worte lediglich symbolisch: “Jenes Schöpferisch-Dämonische aber, vor dem Eugenie erschauert, faßt der Dichter in das einzige, große kosmische Bild der Novelle zusammen: ‘Er löschte … blaue Nacht’ ”… Die ganze Fülle des romantischen Gefühls für die Weltweite solcher Kunst ist in dies erhabene Bild gefaßt“ (l.c. 255). Mörike, der sogar weniger bekannte Mozart-Musik aufs genaueste kannte, und immer gegenwärtig hatte, wollte hier nicht das ”Schöpferisch-Dämonische“ in ein Bild fassen, sondern zumindest ebensosehr die großartige Musik gerade dieser Stelle mit Worten wiedergeben. Hat Pongs' eindringliches Bohren nach dem Sinn ihn auch hier — der Eigenart Mörikes unangemessen — die künstlerische Erscheinung selbst, die Sprachgestalt, übersehen lassen?

Hering (l.c. 365), Musiker und Germanist zugleich, immer methodisch vorsichtig in seinem Bemühen, Wort-, Satz- und Kompositionsformen aufs Musikalische zu beziehen, sagt mit Entschiedenheit, unter Heranziehung technischer Einzelheiten, was in gröberer Weise auch der Laie merkt: Mörike habe hier bewußt das Klangerlebnis Mozartscher Kunst dichterisch gestaltet. Eine Stütze für Herings musikalische Analyse im einzelnen—“nicht überhört werden darf … der seltsame Akzent auf den ‘silbernen’ Posaunen”—ist ein ihm anscheinend unbekannter Brief Mörikes von 1852: auf der Spur einer Novelle sei er stark in Mozartsche Phantasien hineingeraten, “wovon ich Klärchen einiges mitteilte, das Ihr künftig an den ‘silbernen Posaunen’ erkennen … sollt” (An Gretchen Mörike, Mörikes Briefe, hgg. Fischer-Krauß, ii, 230).

Dagegen scheint auch Vera Sandomirsky (l.c. 75 f.) die spezifische Beziehung nicht zu merken; auch sie faßt die erwähnten Sätze symbolisch auf. Der Künstler sei ein Mittler zwischen “dem übergeordneten Bereich des Außermenschlichen” und dem Menschlichen. “Deutlich spürbar enstehen jetzt die Grenzen zwischen dem Künstler und der außer ihm hegenden Welt, der er dient. ‘Wie von entlegenen Sternenkreisen … blaue Nacht.‘ Die Töne sind in den entlegenen Sternenkreisen zu Hause. An dieser silbernen eiskalten Welt ist nichts Menschliches, … Mozarts Kunst, die zu den Sternenkreisen sich aufschwingt und von ihnen kommt, ist unsterblich ….” Die Objektivität und das Eigendasein der Musik versöhne mit der leiblichen Vergänglichkeit des Künstlers.

In Wirklichkeit ist der fragliche Satz weder Musik als Selbstzweck, noch bloß symbolisches Bild. Zuvörderst Nachschaffung konkreter Musik mit sprachlichen Mitteln, haben zweitens diese Worte die Kraft, den Leser alle die transzendenten Wirkungen miterleben zu lassen, welche jener Stelle in der Originalmusik eigentümlich sind. Er fühlt, daß jene Töne “von den Sternen kommen,” akustisch und symbolisch, aber symbolisch für die göttliche Gerechtigkeit in Mozarts Oper, nicht symbolisch für seine Kunst.

18 Synaesthesie aus Klang, Geschmack, Geruch und Motorischem ist zur Darstellung der geistigen Wirkung von Musik meisterhaft gehandhabt auch im Bericht über den Vortrag der Arie Susannas “in jener Gartenszene …, wo wir den Geist der süßen Leidenschaft stromweise, wie die gewürzte sommerliche Abendluft einatmen” (S. 235). Die Anwendung sinnespsychologischer Terminologie in unserer Feststellung zerstört notgedrungen den Eindruck völliger Einheit, in dem gerade der dichterische Wert besteht.

18a Nur E. Hofacker sieht die innere Harmonie des Aufbaus, wenn auch der Eindruck strenger Symmetrie in seiner Tabelle “Szenenfolge” uns etwas gezwungen herbeigeführt scheint (l.c. 113).

19 Erst erhebt sich lustiges Anekdoten-Erzählen zu gebildeter Geselligkeit voll jovialer Wärme, und von da zu gemeinsamem Musizieren. Hier hält Mörike inne, um den Leser auf das Kommende vorzubereiten, von der “süßen Bangigkeit” zu sprechen, mit der wir großer Musik entgegensehen (S. 266), jenem Gefühl, das beispielhaft sei für den Schauer ewiger Schönheit, der auf der Schwelle jedes erhabenen tragischen Kunstwerkes schwebe.

So vorbereitet, wohnen wir Mozarts Klaviervortrag einiger Nummern aus Von Giovanni bei, darunter des “überschwenglich schönen” Sextetts, aber noch nicht des erschütternden Finale. Eugenie sitzt tief im Grunde des Zimmers, “regungslos wie eine Bildsäule, und in die Sache aufgelöst auf einen solchen Grad, daß sie die … Worte … nur ungenügend zu erwidern vermochte” (S. 268).

Aber nun ist die Neugierde der Gesellschaft auf die Kirchhofszene geweckt und Mozart schickt sich an, mit ein paar Worten über ihre Entstehungsgeschichte zu ihr selbst hinzuführen. Dieses Intermezzo — das Gespräch zwischen den Eheleuten Mozart und Mozarts Bericht — hat wieder den Charakter neckender Konversation. Alltägliche Motive und Wendungen—der Schlafrock; verwünschte, ganz unzeitige Geschäftigkeit der Weiber; ich suchte, brummte, schalt; die greuliche Handschrift — überdecken Mozarts Bewegtheit in der Erinnerung an jene seltsamen Stunden der Inspiration bis in die Wiedergabe ihrer selbst hinein. Die Drohung, die vom Grabe des Erschlagenen her urplötzlich das Gelächter des Nachtwächters haarsträubend unterbricht, war mir bereits in die Krone gefahren…. Einstweilen hören Sie's, so gut es sich hier machen läßt“ (S. 269).

Es wird dunkel, und in der Erzählung folgt jene unvergleichlich ernste, vom Klanglichen zum Aesthetischen und Metaphysischen schweifende Vergegenwärtigung Mozartscher Musik, die wir oben zitiert haben (S. 210). Sie geht über ins alltäglich Biographische des Privatmannes Mozart. Von hier ist leicht ein Weg gefunden zum Hinwegscherzen persönlicher Bewegtheit (S. 208) im Bericht über die Einzelheiten der Entstehungsgeschichte: “… denn es ging stark auf viere. ‘Natürlich!’ versetzte Konstanze. ”Nur bilde sich der schlaue Mann nicht ein, man sei so dumm gewesen, nichts zu merken'“ (S. 272).

Damit hat sich der Ton der Erzählung wieder völlig hinabbegeben auf die Ebene nonchalant-heiterer Behandlung des Großen, eine Ebene, auf der auch die Austragung praktischer Alltagsgeschäfte ihren Platz hat. Balance mit dem Ernsten wird inmitten all der Späße immer gewahrt (vgl. Anm. 8). Zu jenen Geschäften gehört auch das Geschenk der neuen Reisekutsche.

20 Vgl. z.B. die heiter-übermütigen Gespräche, SS. 216, 223–227.

21 Mörike begnügt sich aber nur scheinbar mit dem Glauben an jene oberflächlichen Motive. Seine reservatio mentalis ist im vermutlich und besonders im zunächst des folgenden Satzes ausgedrückt: “Wer die Ursachen dieser Erscheinung nicht etwa tiefer suchen will, als sie vermutlich hegen, wird sie zunächst einfach in jenen…. Schwächen finden” (S. 217).

22 Kompositionen äußert sie sich beispielsweise in der dichten Aufeinanderfolge und Verstrickung der Eröterungen über Erwerb und künstlerische Schöpfung SS. 220–223.

23 Mörike hat dieses Ineinander von Assoziation und Inspiration ungemein reizvoll geschildert, es weit und sachkundig zurückverfolgend. Wir haben Belege die Fülle, die zeigen, daß er Mozart hier die eigene Schaffensweise angedichtet hat.

24 Ob dieser nicht eine Reminiszenz an den Schloßgärtner in Eichendorfls Taugenichts ist, der gleichfalls als Verkörperung philisterhafter, amusischer Alltagsgesinnung dem schweifenden Musikantengemüt gegenübertritt? Der galonnierte furchteinflößende Schloßpförtner ist ihm dort zugesellt.

25 “Die feine Röte auf Eugeniens Wangen wich zwei Atemzüge lang der äußersten Blässe” (S. 235); “die Drohung, die vom Grabe des Erschlagenen her urplötzlich das Gelächter des Nachtschwärmers haarsträubend unterbricht” (S. 269); “von leiser Furcht für ihn, an dessen liebenswertem Bild sie sich ergötzte” (S. 274); “hinter allem unsäglichen Reiz, durch alle das geheimnisvolle Grauen der Musik hindurch” (S. 274 f.). Zur Kontrast schaffenden Wirkung der silbernen Posaunen (S. 270) vgl. die sprachlich und musikalisch gleich einsichtigen detaillierten Bemerkungen Herings (l.c. 365).

28 Hier ein paar dieser Motive und Wendungen: Und jetzt begann ein entzückendes Schauspiel…. Eine der Jungfrauen … schickte … ein paar Pomeranzen aus leichter Hand hinüber, die, dort mit gleicher Leichtigkeit aufgefangen, alsbald zurückkehrten; … so flog's … in immer schnellerem Tempo hin und wieder…. Wir konnten die Geschicklichkeit auf beiden Seiten nicht genug bewundern … es waren gegen vierundzwanzig Bälle unaufhörlich in der Luft…. So angenehm … das Auge beschäftigt wurde, so lieblich gingen … die Melodien nebenher; … Tänze, Saltarelli, Canzoni a ballo, ein ganzes Quodlibet, auf Girlandenart leicht aneinander gehängt: Die jüngere Prinzeß, ein holdes, unbefangenes Geschöpf … begleitete den Takt gar artig mit Kopfnicken; ihr Lächeln…. Man kann sich nicht leicht etwas Hübscheres denken … das Scharmützel … wie spielenderweis … auf den Wellen gaukelte …“ (S. 240 f.).

27 “Ihre unnütze Wut, das Angstgeschrei der Mädchen, der gewaltsame Widerstand einiger von ihnen, ihr Bitten und Flehen, fast erstickt vom übrigen Alarm, des Wassers, der Musik, die plötzlich einen andern Charakter angenommen hatte—es war schön über alle Beschreibung” (S. 241).

28 Die dreigliedrige Entwicklung—Satz: Gegensatz: harmonische Auflösung — hat vielleicht ihre Beziehung zu Mörikes Weltauffassung im allgemeinen, zur Resignation im Idyll nach der Bedrohung des Glücks durch finstere Mächte. Hering erkennt Aehnliches hier in den “Themen” der beiden Barken, ihres Kampfes und der Versöhnung am Ende. Diese Dreiteilung ist unserer nicht kongruent, sondern überlagert, aber sinnvoll analog, da der Ernst in Beziehung zum Kampf steht, die Freude in Beziehung zur Versöhnung: Dem Bericht des Seefestes “liegt, wenn man ihn als Musiker auf sich wirken läßt, ganz zweifellos ein musikalisches Bauprinzip zugrunde, das der Sonatenform…. Dieser ganz der musikalischen Klassik ureigene Formtypus baut sich aus drei deutlich von einander getrennten Teilen auf. Stellt der erste Teil als Exposition … die beiden Themen neben einander, so bringt der zweite … die eigentliche Durchführung, das heißt, die beiden Themen werden — oft nur spielerisch, später … mit stärkerer Betonung des Konfliktes — zu einander in nähere Beziehung gebracht, um schließlich in der dritten Phase wieder nebeneinander zu stehen, bloß mit dem … Unterschied, daß … das zweite Thema nun auch in die gleiche Tonart gerückt wird. Es wird also ideell durch eine aus dem Charakter der Themen bestimmte Entwicklung ein gewisser Ausgleich herbeigeführt. So ließen sich dann die beiden Barken als die beiden Themen dieser ‘Sonatenerzählung’ bezeichnen, die sich ergebenden Konflikte, vom Spiel der Pomeranzen bis zum offenen Kampf um die geraubten Mädchen, vertreten die Stelle der Durchführung, und schließlich wäre der Ausgleich in Frieden die Reprise.” Die genaue Entsprechung — bis in die Metaphorik dieser musiktheoretischen Definition hinein—ist in der Tat verblüffend.

29 Wieder mißversteht Pongs dieses Wort, als beziehe es sich auf den geistigen Prozeß, der sich mit Mozart abspielt, auf das Erinnern dieser südlichen Szenen im Banne des Orangenduftes, nicht auf den Inhalt dieser Erinnerungen: “Ein Wesenswort im geistigen Raum der Novelle…. So erscheint er gerade wie die bildende Urkraft selbst. Und ist es nicht, als wenn alles, was Mozart eben jetzt vor unseren Augen durchlebt, das ganze Begebnis mit dem Pomeranzenbaum, selber zum vollkommenen Gleichnis seines Geistes würde (S. 253).”

30 Um so weniger, als der Leserkreis, für den Mörike schrieb, wußte, daß Mozart in jungen Jahren starb. In künstlerischer Zurückhaltung verzichtete Mörike aber darauf, die Sentimentalität des Lesers anzurufen und verwandelte den geplanten Titel “Mozart auf seiner letzten Reise nach Prag” in den jetzigen (Vgl. Unveröffentlichte Briefe, hgg. von F. Seebaß [Stuttgart, 1941], S. 230, An Hermann Hauff, 24. xii. 1852).

31 Das Moritz von Schwindsche Biedermeiser-Interieur steht in vollkommenem Einklang mit der Stimmung dieser Szene: “Einige Augenblicke später, als sie durchs große Zimmer oben ging, das eben gereinigt und in Ordnung gebracht worden war, und dessen vorgezogene gründamastne Fenstergardinen nur ein sanftes Dämmerlicht zuließen, stand sie wehmütig vor dem Klaviere still. Durchaus war es ihr wie ein Traum zu denken, wer noch vor wenigen Stunden davorgesessen habe” (S. 275).

31a Vgl. das schweigende Todessymbol im monologischen Bericht der Todesfurcht im Dunkel der Nacht: “Ich sagte zu mir selbst: Wenn du noch diese Nacht wegstürbest und müßtest deine Partitur an diesem Punkt verlassen: ob dir's auch Ruh' im Grabe ließ'? — Mein Auge hing am Docht des Lichts in meiner Sand und auf den Bergen von abgetropftem Wachs. Ein Schmerz bei dieser Vorstellung durchzückte mich einen Moment” (S. 271).

32 Wehmut, aber nicht “tiefe Erschütterung,” von der Pongs spricht (S. 256). Das Gedicht ist elegisch, nicht tragisch.

33 In discursiver Prosa entspricht diesem lyrischen Bild innerer Spannung zwischen Wehmut und Lust Mörikes Nachsatz zur Schilderung von Mozarts Gram und Todesahnung (S. 203): “Doch wissen wir, auch diese Schmerzen rannen, abgeklärt und rein, in jenem tiefen Quell zusammen, der, aus hundert goldenen Röhren springend, im Wechsel seiner Melodien unerschöpflich, alle Qual und alle Seligkeit der Menschenbrust ausströmte” (S. 219 f.).

34 Unhaltbar ist angesichts der letzten Zeile sowohl wie des ganzen Gedichtes die Behauptung, daß die Novelle “in einem düsteren Ahnen ausklinge (Sandomirsky, S. 57),” daß der “Ausgang der Novelle so düster” sei (S. 60), daß das Gedicht düster klinge (S. 72). Dies steht im Widerspruch zur dichterischen Wirklichkeit des Gedichts, das — im Sinne der Gattung — mehr ist als ein innerhalb des Gedichtes ausdrücklich vorgebrachter Gedanke, und zur Wirklichkeit des Gedichtes als konzentrierte symbolische Rückschau auf die ganze Novelle. Bedrohte Heiterkeit ist ihr Charakter, und Rührung deshalb ihre Wirkung — eine Wirkung, die von Düsterkeit nie ausgehen könnte.—

Wir haben es im Laufe dieser Untersuchung grundsätzlich vermieden, Form und Gehalt der Novelle aus anderen Quellen zu erschließen als aus dem Text selbst, können aber hier, am Schlusse, doch nicht der Versuchung widerstehen, ein Äußerung Mörikes zu zitieren, die das aus dem Text gefundene Ergebnis als seine Absicht bestätigt. Nach einer Vorlesung des Manuskripts berichtet er, er sei “der gewünschten Aufnahme im größeren Publikum beinahe gewiß. Gestern las ich die Novelle … einer ganz guten Gesellschaft … Sie hatten große Freude daran. Auch die Äußerungen Wolffs … taten mir besonders wohl. Er sei, sagte er, ungeachtet der vorherrschenden Heiterkeit, oder vielmehr durch die Art derselben, aus einer wehmütigen Rührung gar nicht heraus gekommen. Das ist es aber, was ich eigentlich bezweckte.” (An Hartlaub [Frühjahr 1855], in Eduard Mörikes Briefe, ausgew. von K. Fischer und R. Krausz, 1903-04.)

Balance aus Wehmut und Heiterkeit, die immer wieder Mörikes Werken einen einzigartigen Klang gibt, findet sich als zärtlich gehütete Stimmung schon 1824, beschrieben in einem Brief an Waiblinger. Dieser kenne wohl das Gefühl, “daß es zuweilen höchst angenehm ist, wenn so der Tag … naß und melancholisch angerückt kommt. Dieser, und dadurch unser eigenes Wesen scheint dann einen bestimmten, geruhigen Charakter zu bekommen, das Leben selber scheint, wie das Grün von Bergen und Bäumen, auf diesem sanften, aschgrauen Grund erst recht betrachtenswert und innig. Unser Innerliches fühlt sich sonderbar geborgen und guckt wie ein Kind, das sich mit verhaltenem Jauchzen vor dem nassen Ungestüm draußen versteckt, mit hellen Augen durchs Vorhängel… [Und darauf das Gegenstück zum Epilog, einschließlich des Gedichts:] O lieber Wilhelm … wenn Du jetzt hier bei mir auf dem Sopha … säßest und sähest die freundliche Dämmerung … die leeren Stühle so etwas geistermäßig umherstehen und den Regen draußen … —überall Ruhe und fast Wehmut! Dann denke ich, müßt es Dir auch so sein wie mir, wohl[!] nämlich, halb weinerlich und lustig.” (Eduard Mörike, Briefe, hgg. von Friedrich Seebaß, Wunderlich Verlag, S. 26 f.)