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Freuds Aesthetik

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Von Ludwig Marcuse*
Affiliation:
University of Southern California, Los Angeles 7

Extract

Freud, der Philosoph, lebte von früh auf in Hader mit den Philoso-phen. Die Religionen behandelte er wie irgendein Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts—doch subtiler, mit den Waffen einer Psychologie, die sie noch nicht ahnten. Mit den Kunsten lebte er in Frieden ... man könnte fast sagen: in sehnsuchtiger Bewunderung.

Type
Research Article
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1957

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References

Note 1 in page 446 Freud hat keine Ästhetik geschrieben. Hier wird der Versuch gemacht, sie aus seinen Werken zu konstruieren. Man findet Bruchstücke an sehr vielen Stellen, vor allem in einer Reihe von Essays, die sowohl Interpretationen von Kunstwerken und von Ereignissen im Leben der Künstler als auch Analysen ästhetischer Kategorien gewidmet sind. Es folgt eine Liste dieser Arbeiten, in chronologischer Reihenfolge: Der Wilz und seine Beziehung zum Unbewussten; Der Wahn und die Träume in Jensens “Gradiva”; Der Dichter und das Phanlasieren; Der Familienroman der Neurotiker; Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci; Marchenslojfe in Träumen; Das Motiv der Kästchenwahl; Der Moses des Michelangelo; Eine Kindheitserinnerung aus “Dichlung und Wahrheit”; Das Unheimliche; Nachlrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo; Der Humor; Dostojewski und die Vatertbtung; Goetkepreis 1930; An Romain Rolland; Thomas Mann zum 60. Geburtstag; Brief an Romain Rolland; Vorwort zu “Edgar Poe, étude psychoanalytique” par Marie Bonaparte.

Schon einige der ersten Schttler haben vor allem ästhetische Fragen aufzuhellen versucht; an erster Stelle sind zu nennen: Otto Rank, Hanns Sachs, Theodor Reik. Die analytische Literatur zu Fragen der Kunstwissenschaft ist dann von Jahr zu Jahr gewachsen. Man darf vielleicht sagen, dass der Umriss, den Freud gezogen hat, zwar mit wertvollem (vor allem anthropologischem) Material gefullt, aber nicht erweitert worden ist.

Note 2 in page 446 Freud, Gesammelte Werke (London, 1950), xv, 173: diese Ausgabe wird weiterhin lediglich nach Band und Seitenzahl zitiert. Es liesse sich leicht zeigen, dass Freud sehr wohl wusste, wo die Harmlosigkeit der Kunst ihre Grenze hat—dass Werke der Kunst das Leben entscheidend beeinflussen können. So verfasste er nach der Lekture des Romans Joseph und seine Briider einen (Fragment gebliebenen) “Entwurf zu einem Brief an Thomas Mann” (29 Nov. 1936), in dem er nachzuweisen begann, dass die Joseph Geschichte Napoleons Leben entscheidend beeinflusst hat. Sein ältester Brader hiess Josef, seine erste Frau Josefine und ein “mythisches Vorbild” bestimmte seinen Zug nach Ägypten. (Abgedruckt in Internationale Zeitschrifl für Psychoanalyse und Imago, 1941, Heft 3/4). Es muss also Freuds Bezeichnung der Kunst als “harmlos” und “Illusion” exakt qualifiziert werden.

Note 3 in page 447 Kuno Fischer, Über den Witz (Leipzig, 1889), p. 18. Freud zitiert diese Stelle (vi, 103). Er versucht zwar, K. Fischer so zu verstehen, dass sie beide einer Ansicht sind, zerstört aber dies Untemehmen sofort mit dem Satz: “Ich zweifle, ob wir irgendetwas zu unternehmen imstande sind, wobei eine Absicht nicht in Frage kommt.” Das könnte ebensogut gegen Kants “Kritik der Urteilskraft” geschrieben sein.

Note 4 in page 448 Felix Mayer nennt in seinem Buch Dynamische Tiefenpsychologie (Bern-Stuttgart: Verlag Haupt, 1953), Freuds Ableitung der Phantasie eine “seltsame Meinung”. Sie ist z. B. sehr anschaulich dargestellt in folgenden Sätzen (xi, 389): “Die Schbpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ein voiles Gegenstuck in der Einrichtung von ‘Schonungen’, ‘Naturschutzparks’ dort, wo die Anforderungen des Ackerbaus, des Verkehrs und der Industrie das urspriingliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand, welchen man sonst überall mit Bedauern der Notwendigkeit geopfert hat. Ailes darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schadliche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich.” Hier setzt Mayer ein. Er möchte für Freuds “Phantasie” eher die Metapher des “Wilderers” gebrauchen, “der von seiner Jagd nichts heimbringt. Erstens hat er nichts erlegt und dann kein Heim, wo er die erhoffte Beute bergen kann” (p. 106). Ein sehr unglückliches Gegenbild gegen Freuds hervorragend präzise Illustration. Einmal ist zu sagen, dass “Wilderer” oft sehr vielund zugelassene Jager garnichts heimbringen. Und dann braucht Mayers “Wilderer” gar kein Heim, um seine Beute zu bergen, da er sowieso nichts heimbringt. Abgesehen von der Unzulänglichkeit dieses Bildes sagt Mayer nicht mehr, als dass er eine theologisch-idealistische Metaphysik vermisst.

Note 5 in page 449 Lionel Trilling, The Liberal Imagination, Doubleday Anchor Book (New York, 1953). Trilling verficht in seinem vorzuglichen Essay “Art and Neurosis” die These, dass Künstler gerade Menschen sind, die besser als Nicht-Künstler mit ihrer Neurose fertig werden. Problematisch ist hingegen sein Urteil über Freuds Psychologie des Künstlers: “Indeed, it is possible to say of Freud that he ultimately did more for our understanding of art than any other writer since Aristotle; and this being so, it can only be surprising that in his early work he should have made the error of treating the artist as a neurotic who escapes from reality by means of ‘substitute gratifications’ ” (p. 160). Während die erste Hälfte des Satzes den Ästhetiker Freud überschätzt, wird die zweite ihm nicht gerecht. Trilling gibt nicht einen einzigen Beleg dafür, dass Freud Neurotiker und Künstler identifizierte. Dagegen gibt es viele Belege dafür, dass Freud ganz Trillings Meinung war, der im künstlerischen Schaffen eher eine Art von Gesundungsprozess sieht. Trillings Theorie ist nicht ein Gegensatz zu Freud, sondern durchaus mit ihm vereinbar.

Übrigens hat auch der deutsche Dichter und Arzt Gottfried Benn in einer Rede, die er kürzlich in Deutschland gehalten hat, gesagt (wir zitieren nach der Übersetzung, “Artists and Old Age,” in der Partisan Rev., 1955): “regarded from one point of view art is after all, a phenomenon of liberation and relaxation, a cathartic phenomenon, and such phenomena are closely associated with the physical organism itself.”

Note 6 in page 451 Lionel Trilling sagt (“Freud and Literature,” op. cit., p. 54) : “Freud's assumption of the almost exclusively hedonistic nature and purpose of art bars him from the perception” (und im folgenden zitiert er Jacques Barzun) “that the work of art leads us back to the outer reality by taking account of it.” Auch hier übersieht Trilling wohl, dass Freud immer wieder die nur partikulare Leistung der analytischen Methode fur das Erfassen des Kunst-werks betonte.

Note 7 in page 451 Ernst Kries (“Probleme der Ästhetik,” Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, 1940/1, pp. 153–154) sagt: “Wir besitzen keine wissenschaftlichen Methoden, um die Richtigkeit dieser ‘Phantasie’ nachzuprüfen.” Man sollte solch eine Konjektur nicht “Phantasie”, sondern Hypothèse nennen. Hypothesen dieser Art werden in alien Wissenschaften nur so verifiziert, dass sich mehr und mehr Material ihnen fügt.

Übrigens kommt Géza Roheim in dem sehr lehrreichen Artikel “Die psychoanalytische Bedeutung des Kulturbegriffs” (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, 1941, Heft 1) zu dem Resultat: “Der My thus berichtet uns von Schauspielen der Urväter, nicht von krasser Wirklichkeit.” Das ist eine heilsame Warming gegen die Überschätzung der “historischen” Elemente in den frühen Dichtungen.

Note 8 in page 452 Géza Roheim (loc. cit.) : “Neue Forschungen auf dem Gebiet der Tierpsychologie haben gezeigt, dass immer, wenn die Befriedigung der Bedurfnisspannung ungewiss wird, eine Störung im Verhalten des Tieres eine Folge ist, d.h. das Prototyp einer Neurose oder Psychose.” Er zitiert Material, aus dem hervorgeht, dass man bei Pavianhorden nicht nur wirkliche Schlachten, sondern auch Schein-Schlachten der Tiere findet, die wohl nicht anders als von Tieren gedichtete Mythen bezeichnet werden können.

Note 9 in page 453 Jubiläums-Ausgabe, xxxv, 317.

Note 10 in page 453 Jonas, F., Schiller-Briefe (Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt, 1892–96), v, 44.

Note 11 in page 453 Trilling weist in seinem Essay “Freud and Literature” (p. 47) darauf hin, dass Tieck und Schopenhauer bereits auf den sexuellen Ursprung der Kunst hingewiesen hätten. Das ist für Schopenhauer nicht zutreffend; dagegen hätte Trilling auf die ästhetischen Schriften Richard Wagners und Nietzsches hinweisen können. Da für Schopenhauer Wille zum Leben und Sexualität fast identisch waren, und da die Kunst in seinem System neben Philosophie und Askese die Gegenkraft repräsentiert, kann man hier keinen Zusammenhang zwischen Sexualität und Kunst herstellen—ausser dem der Gegensätzlichkeit.

Wie Thomas Mann in den wichtigeren, aber unbekannteren seiner zwei Freud-Arbeiten (“Die Stellung Freuds in der Geistesgeschichte”) weist auch Trilling auf Freuds Beziehungen zur deutschen Romantik hin. Aber er missversteht Thomas Mann mit dem Satz: “He gives us a Freud who is committed to the ‘night side’ of life” (p. 49). Im Gegenteil! Freud wird in diesem Aufsatz, der im Jahre 1929 erschien, als die nazistischen Mythen blühten, gerade als Aufklärer dargestellt, der das Dunkle aufhellte, nicht anbetete. Thomas Mann ging allerdings damais (in bester politischer Absicht) zu weit; er unterschàtzte Freuds ambivalente Haltung zum “Es”.

Note 12 in page 454 Seine Distanzierung zu dem, was er Ästhetik nennt, drückt sich auch in einer Wendung aus wie: “Ich verstehe zu wenig von der Asthetik” (vi, 104).

Note 13 in page 456 Er ging bisweilen in seiner Skepsis so weit, das er in der Rede, die er als Danksagung für den Goethepreis der Stadt Frankfurt (1930) niederschrieb, behauptete: “Auch die beste und vollständigste” Biographie “könnte uns nicht helfen”, den Wert und die Wirkung der “Werke besser zu erfassen”. Kann er aber in Frage stellen, was er selbst z. B. für ein Bild wie Die Heilige Anna selbdritt geleistet hat?

Note 14 in page 456 Den ublichen Vorwurf eines “bisweilen ans Zynische streifenden Rationalismus” machte der psychoanalytischen Ästhetik z. B. Walter Muschg in seiner Antritts-Vorlesung, gehalten an der Universität Zurich, Psychoanalyse und Literalurwissenschafl (Berlin, 1930). Da heisst es: “Die grösste Distanz, welche heute den Psychoanalytiker vom Literatur-historiker trennt” sei in der “Missachtung der integralen schöpferischen Personlichkeit.” Die Unrichtigkeit dieses Urteils liegt in dem Wort “Missachtung.” Im übrigen hat man nur irgendeine Literaturgeschichte aufzuschlagen, um zu sehen, dass am Beginn jeder wissenschaftlichen Erfassung die Zersetzung der “integralen schöpferischen Persönlichkeit” steht. Das gilt sogar für die Biographien der George-Schule, wo man die Zerstückelung nur mit frommen Worten überblendet. “Das Gestaltete löst er auf,” sagt Muschg vom Psychoanalytiker, als ob nicht jeder Wissenschaftler “Das Gestaltete” auflöst. “Die Ausnahme, auch die geniale, wird da überall relativiert”; Freud hasste die Vokabel “Genie,” auch wo sie auf ihn angewendet wurde—als das Symptom fur ein Tabu des Forschers. Muschg empfiehlt hingegen “die Scheu vor der genialen Formgebung”. “Scheu” ist aber nicht gerade eine Qualität des Gelehrten, der immer in ein Geheimnis einzudringen sucht. “Scheu” vor dem Individuum als “Widerspiel der psychoanalytischen Persönlichkeitszer-storung” ist die Haltung des Priesters im Gegensatz zur Haltung des Forschers. Wenn Muschg mit Abscheu auf “die Bestandteile der zerpflückten Kunstwerke” hinweist, so fragt man sich, wie man Kunstwerke wissenschaftlich untersuchen soli, ohne sie zu zerpnücken. Muschgs zelebrierende Haltung zur Literatur fand dann den gemässen Ausdruck in dem feierlichen Buch “Tragische Literaturgeschichte”. Die Kehrseite der hier niedergelegten Feierlichkeiten hat man in seinen ebenso unfeierlichen wie unwissen-schaftlichen Beschimpfungen—z. B. Heinrich Heines und Thomas Manns. (Diese Literatur-wissenschaft hat ihre Herkunft vor allem in den Arbeiten C. G. Jungs. Sein Aufsatz “Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk” erschien in dem Band Seelenprobleme der Gegenwarl, Zürich, 1931.)

Note 15 in page 457 Vgl. auch vu, 209; viii, 417; xiv, 401.

Note 16 in page 457 Frederick J. Hacker, “On Artistic Production,” schreibt (im Sammelband Explorations in Psychoanalysis, ed. Robert Lindner, New York, 1953) : “In short, our science has clarified everything concerning art but art itself” (p. 129). Diese harte Antithese wird Freud nicht gerecht. Er hat in übergrosser Bescheidenheit diese Kritik herausgefordert, indem er immer wieder auf die Grenzen seiner Methode hinwies.

Im übrigen sagt Gregory Zilboorg, “science cannot solve the problem of beauty or goodness scientifically” (Sigmund Freud: His Exploration of the Mind of Man, New York, 1951, p. 81).

Note 17 in page 458 Platon, Republik: “Poeten aüssern grosse und weise Dinge, die sie nicht verstehen.”

Note 18 in page 460 Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fliess (London, 1950), p. 343.

Note 19 in page 461 Ibid., p. 286.

Note 20 in page 462 Franz Alexander, “The Psychoanalyst Looks at Contemporary Art” (veröffentlicht im Sammelband Explorations, vgl. Anm., 16). Alexander beginnt seinen Aufsatz: “Products of art can be looked upon from two different points of view: the aesthetic and the psychologic.” Freud wurde diese Unterscheidung nicht anerkannt haben. Für ihn gab es nur zwei Wissenschaften: die Psychologie und die Naturwissenschaften. Das Ziel aller seiner ästhetischen Bemühungen war die psychologische Interpretation.

Note 21 in page 463 Gregory Zilboorg (loc. cit.) zitiert einen Brief Thomas Manns an Frederick J. Hoffman (27 Jan. 1944) : “One could be influenced in this sphere without any direct contact with [Freud's] work, because for a long time the air had been filled with the thoughts and results of the psychoanalytical school.” (Frederick J. Hoffman, Freudianism and the Literary Mind, Baton Rouge, 1945). Während Zilboorg darauf hinweist, dass Proust nie den Namen Freuds erwähnt, behauptet Bernard de Voto (“Freud's Influence on Literature,” SRL, 7 Oct. 1939), dass Freud Proust beeinflusste; er wiirde nicht geschrieben haben, was er schrieb “without the instruments that Freud fitted to their [Proust und Joyce] hands.” Aber wie kann das bewiesen werden?