Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Der Vorgang, wie in Deutschland die neue Richtung in unserer Disziplin und in den anderen Geisteswissenschaften sich gegen den Positivismus durchgesetzt hat, ist zu bekannt, um hier noch einmal erzählt werden zu müssen. Er ist ein Stück der Geschichte des modernen Geisteslebens … ein, wie ich glaube, im Ganzen abgeschlossenes Stück. Ich darf nur daran erinnern, wie es begann. Im Kampf gegen die Vorherrschaft der Naturwissenschaften und ihre Methoden wurde der Begriff der Geisteswissenschaft bestimmter als zuvor herausgebildet. Seit Wilhelm Dilthey versteht man unter Geisteswissenschaften das Ensemble der Disziplinen, welche “die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben,” die Wissenschaften vom Menschen. Man kann diese Entwicklung als Teil eines neuen Idealismus begreifen, wie er allgemein um die Jahrhundertwende in den Künsten und Wissenschaften hervortrat. Aber man muß betonen, daß der “Geist,” von dem hier die Rede war, keine metaphysischen Qualitäten besaß und nichts zu tun hatte mit der objektiven Weltvernunft, dem absoluten Geist Hegels. Die Denkweise, die jetzt herrschte, war eine Philosophie des Lebens. Der Begriff des Lebens war hier der oberste, der fundamentale Begriff. Der Geist schafft kein Leben, er gestaltet und reflektiert, versteht es nur. “Aus dem, was gelebt, geschaut wird, stammen alle Auslegungen” (Dilthey, Schriften, viii, 229). Dichtung, lehrte Dilthey, ist ein Organ des Lebensverständnisses … eines Verstehens, das tiefer, der Unergründlichkeit des Lebens angemessener ist als rationales Forschen und Erklären. Den einzelnen Akt, in dem das geschieht, nannte Dilthey “Erlebnis”—ein konzentrierter Akt, der von der “Totalität des Seelenlebens,” vom “ganzen Gemüt” (v, 172) getragen wird. Diltheys Lehre war ein Protest gegen die Versuche einer neuen Aufklärung, das individuelle Leben und seine geistigen Schöpfungen als gesetzmäßigen Ablauf aufzufassen. Das menschliche Individuum erscheint als zu komplex und zu geheimnisvoll in seiner Totalität. Hier handelt es sich nicht um Gleichförmigkeit und regelmäßige Wiederkehr, sondern um konkrete Besonderheit, um ein unerschöpflich Neues. Eben darin hat das Individuum seinen eigentümlichen Wert. “Individuum est ineffabile.” Die Geisteswissenschaften, welche die Werke und Aeußerungen des Menschen zum Gegenstand haben, müssen andere Kategorien der Interpretation anwenden, als die Naturwissenschaften. Seelisch-geistige Zusammenhänge und Einheiten kann man nur verstehen, nicht kausal erklären und analytisch auseinanderlegen. Das gilt auch für die Phaenomene der Kunst. Das Interesse verschiebt sich nun vom psychologischen Prozess der Entstehung auf den weltanschaulichen Gehalt des Werkes und auf seinen Charakter als Ausdruck einer individuellen Erfahrung. Die alte Wahrheit trat wieder hervor, daß ein Dichtwerk kein Kompositum ist. Man sah, daß es sich nicht ableiten ließ aus einzelnen Eindrücken und Erinnerungen, aus der Bekanntschaft mit Büchern und fremden Dichtungen. An die Stelle des kausalen Zusammenhangs setzte Dilthey den Begriff der Struktur. Darunter verstand er die innere “Gliederung eines Ganzen,” eine im Wechsel der Gehalte “permanente Form.” Dieser unter der Wirkung der Erfahrungen “erworbene Zusammenhang” des inneren Lebens gibt der individuellen Seele und ihren künstlerischen Aeußerungen ihre charakteristische Einheit.