No CrossRef data available.
Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Am 1. oktober 1786 folgt Wilhelm Heinse, damals vierzig Jahre alt, dem Ruf an den erzbischöflichen Hof in Mainz und wird Vorleser des Kurfürsten und Erzbischofs Friedrich Karl Joseph Freiherr von Erthal. Daß Heinse in die Dienste eines katholischen Kirchenfürsten tritt, dürfte zu seinen Lebzeiten Verwunderung hervorgerufen haben und hat neuerdings zu Vermutungen über einen Wechsel in der religiös-kirchlichen Einstellung des Dichters geführt. Bis dahin hatte Heinse nie aus seinem Haß gegen Kirche, Religion und Gesellschaftsmoral einen Hehl gemacht. Gegen die kirchliche Métropole Mainz zeigte er sogar eine besondere Abneigung. Am 5. Februar 1772 schrieb er aus Erlangen an seinen Freund Joseph Schwarz entrüstet iiber Wielands Wunsch, ihn zu einem Abbé des päpstlichen Nuntius zu machen, “daß alle Götter der Freuden mich davor behüten möchten, daß ich ein Diener eines Dieners des Nachfolgers der Ungeheuer würde”. Lieber wollte er des Hungers sterben, als einen solchen Schritt tun. Sich in den Pfaffenorten Wien oder Mainz niederzulassen, bedeutete ihm in einem Brief an Gleim vom 17. April desselben Jahres soviel, wie in die Holle reisen zu müssen. Von der Landschaft und der Lage von Mainz ist er immer entzückt gewesen. Mit dem breiten Strom vor dem herrlichen Rund des Gebirges, so schreibt er auf der Ruckreise von Italien 1783 in sein Tagebuch, sind ihm Stadt und Fluß ein prächtiges Amphitheater der Natur; und noch 1789 preist er die Gegend als die erste und herrlichste am ganzen Rhein (VII, 290 u. 321). Aber so sehr er von dem Naturparadies des Mainzer Landes begeistert ist, so abfàllig äußert er sich gegen Kirche, Religion und Gesetze dieser Gegend, wo die Menschen niemals fröhlich werden sollen und “durch Trübsal und ganze Sumpfe voll Ungemach in's Reich Gottes wandern müßten”.
1 Wilhelm IIeinse, Sammtliche Werke, hrsg. von Carl Schtiddekopf, 10 Bande, Leipzig, 1902–25. Bd. vn, Tagebiicher von 1780 bis 1800. Die laufenden Hinweise im Text beziehen sich auf diese einzige bisherige Gesamtausgabe der Werke Heinses.
2 Vgl. diesen und die folgenden Briefe iiber Heinse bei Albert Leitzmann, Wilhelm Heinse in Zeugnissen seiner Zeit-genossen, Jenaer Germanistische Forschungen, Bd. 31, Jena, 1938. Uber Heinses Aufenthalt in Mainz und seine dortigen Beziehungen zur Politik vgl. auch Erich Hock, “Wilhelm Heinse und der Mainzer Kurstaat”, im Aschajjenburger Jahr ouch, hrsg. vom Geschichts- und Kunstverein Aschaf-fenburg e.V., Aschaffenburg, 1952, S. 160–187.
3 Ardinghello und die gliickseeligen Inseln. Eine Italiiinische Geschichte aus detn sechszehnten Jahrhundert ist der voile Titel dieser zweibândigen Ausgabe. Die Ausgabe letzter Hand erschien unter dem Titel Ardinghello, und die gliickseeligen Inseln. Zweyle, rechtmaBige, verbesserte Auflage in zwei Bànden ebenfalls zu “Lemgo, im Verlage der Meyer-schen Buchhandlung 1794 (iv, 422).” Die im folgenden zitierten Wilhelm Kosch und Richard Benz geben mit “Ardinghello oder die gliickseligen Inseln” den falschen Titel (Hinweis von Prof. Ernst Rose).
4 Uber Heinses Grabstâtte wurde bisher nur ungenau und z.T. widerspruchsvoll berichtet. Nach Johann Schober (Johann Jakob Wilhelm Heinse, sein Leben und seine Werke, Leipzig, 1882, S. 153–155.), nachAuszugen aus den Aschaf-fenburger Geschichtsblattern (Jahrg. 1936/37, Nr. 1) und aus Wilhelm Kohl, Aschaffenburg, S. 35, 149, sowie nach Aus-kunft der Friedhofsverwaltung in Aschaffenburg vom 9.3.1962 ergibt sich folgender Tatbestand: Heinse wurde ursprunglich auf dem Friedhof von St. Agatha, nicht weit vom Haupteingang des heute abgerissenen und wieder auf-gebauten Amtsgerichtes, an einem unwiirdigen Platz begra-ben (“unter das iibrige Gesindel”, wie Sommering am 4. April 1805 uber Heinses Grab in sein Tagebuch schrieb, als der Schâdel des Dichters ausgegraben und ihm ubergeben wurde). 1826 liefi der Kronprinz und spâtere Kônig Ludwig I. von Bayern Heinses Gebeine zwischen dem lin ken Seiten-schiff und dem Glockenturm der Kirche bestatten und ihm ein Grabmal setzen, zu dem Maler Millier in Rom die Zeich-nung entwarf. Die Buste des Dichters liefi Ludwig in der Walhalla zwischen Klopstock und Herder aufstellen. Wegen baulicher Verânderungen an der Kirche wurden Heinses Gebeine am 29. 10. 1880 zum dritten Mai ausgegraben und auf dem damais neuen Stadtfriedhof beigesetzt. Dr. Ludwig Herrmann (Verfasser des Aufsatzes “Heinses Grabstâtte in Aschaffenburg”, Weslermanns Illustrierte Monatshefte, 33, S.651 ff.), dessen Vater als kurfurstlicher Beamter mit Heinse bekannt oder befreundet war, stiftete ein neues Denkmal, das noch heute das Grab ziert. Die Aufschrift unter einem Lorbeerkranz lautet: “Hier ruhen die Gebeine Wilhelm Heinse's, Verfassers des Ardinghello. Geb. zu Lan-genwiesen im Thiiringischen 16. Febr. 1746, gest. zu Aschaffenburg 22. Juni 1803.” Spâter wurden die Gebeine wegen eines Mauerdurchbruchs zu einer Friedhofserweiterung zum vierten Mai umgebettet. Heute finden sich Grab und Grab-denkmal auf dem Altstadtfriedhof, Teil in, Nr. 58, an der Friedhofsmauer.
5 Richard Benz, Wilhelm Heinse, Vom groûen Leben, Munchen, 1943, S. 46.
6 Franz Joseph Molitor, ein Freund von Clemens Bren-tano, wird von Bettina in Brief en an Achim von Arnim und Goethe als ein guter und naiv rechtglâubiger Jude von un-schuldigem Gemut, starkem Gottvertrauen und Glauben an die Schwarzkunst geschildert, der sich in seiner Bravheit und Gute uberhaupt nicht um die Welt kûmmert. Es ist daher leicht verstândlich, daß er die Mefidiener, in den ubh'chen schwarzen und weifien Chorrocken kaum von dem Pfarrer zu unterscheiden, ebenfalls als Geistliche angesehen hat. Vgl. diese Briefe bei Leitzmann, S. 40–41.
7 Vgl. meinen Aufsatz “Wilhelm Heinse und Nietzsche, ein Beitrag zum dionysischen Phânomen in der Literatur,” der im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, hrsg. von Fritz Martini u.a., Stuttgart, 1964, erscheint.
8 Heinse und der aslhetische Immoralismus, zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutschland, nebst Mit-teilungen aus Heinses Nachlafi, Berlin, 1911.
9 Nach Arthur Schurig (Der junge Heinse und seine Ent-wicklung bis 1773, Miinchen und Leipzig, 1910, S. 40.) soil Heinse sich als Student in Jena und Erfurt mit dem Essai sur la peinture (1770) beschâftigt haben. In den frûhen “Musikalischen Dialogen” erwahnt Heinse neben seinem oft zitierten Lehrmeister Rousseau auch Diderot. Die obige Berufung in seiner Naturauffassung lâfit auf eine Kenntnis der Pensées sur l'interprétation de la nature (1753) schliefien. Zur allgemeinen Bedeutung Diderots fur Heinse und seine Zeit vgl. Roland Mortier, Diderot en Allemagne, 1750–1850, Paris, 1954.
10 Die persônlichen Beziehungen zwischen Heinse und Holderlin sowie die direkten literarischen Einwirkungen Heinses auf den ihn verehrenden Jiinger sind bekannt (siehe hierzu Theodor Reufi, Heinse und Holderlin, Diss., Stuttgart, 1906, und vor allem Erich Hock, “Wilhelm Heinses Urteil iiber Hôlderlins ‘Hyperion’,” im Holderlin-J'ahrbuch, Tubingen, 1950, S. 108–119; hier in Anm. weitere Literatur). Die tiefere geistige Gemeinschaft in ihrem dionysischen Lebens-gefuhl und ihrer religiosen Naturaufiassung ist bisher noch nicht nâher untersucht worden. Das Motto aus dem Ardinghello (iv, 283), das Holderlin 1790 seiner “Hymne an die Gôttin der Harmonie” (zuerst “An die Wahrheit” und spâter “Geist der Natur” iiberschrieben) gibt, ist nicht nur das Thema dieser Hymne, sondern zugleich eine Art Zusammen-fassung von Hôlderlins neuer pantheistischer Naturan-schauung: “Und die Liebe ward gebohren, der sure Genufi aller Naturen fur einander, der schonste, âlteste und jiingste der Gotter, von Uranien der glànzenden Jungfrau, deren Zaubergurtel das Weltall in tobendem Entzucken zusam-menhalt.” Dieses Motto und sein ganzer Zusammenhang im Gesprach zwischen Demetri und Ardinghello haben Holderlin nachhaltig beeinflufit. Es ist Heinses Elementenlehre, die er wôrtlich aus seinen Tagebiichern in den Ardinghello iiber-nommen hat und die in der Anschauung von der AU-Einheit der Natur gipfelt: “Eins ist Ailes, und Ailes Eins… . Das Eins ist Gott (295).” In einem spâteren Brief aus Hauptwil 1801 an seinen Bruder nennt Holderlin jenes “Einige und Einigende” Gott. In der besagten ‘Hymne an die Gottin der Harmonie’ ist Gott “die Liebe”, in der wie bei Heinse “die wilden Elemente Liebend” (25) sich vereinen und “Die [der Liebe Freuden] den Endlichen zum Gott entzucken” (69). Vgl. hierzu auch Wolfgang Schadewaldt, “Holderlin und Homer”, im Holderlin-Jahrbuch, 1950, S. 2–27.
11 Die vielseitigen literarisch-weltanschaulichen Beziehun-gen Heinses zu den beiden Jacobis, zu Mendelssohn, Leibniz, Spinoza, Rousseau, Voltaire, Kant, Winckelmann u.a. sind bisher noch nicht erforscht worden. Die Tagebucher Heinses —und wahrscheinlich auch der leider noch nicht vollstândig veroffentlichte Nachlafi—bieten wichtiges Material fur solche Untersuchungen.