Hostname: page-component-586b7cd67f-dsjbd Total loading time: 0 Render date: 2024-11-22T04:59:03.773Z Has data issue: false hasContentIssue false

Schillers Abhandlung “Über Naive und Sentimentalische Dichtung” Im Lichte Der Deutschen Popularphilosophie Des 18. Jahrhunderts

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Von Jost Hermand*
Affiliation:
University of Wisconsin Madison 6

Extract

Schillers Verhältnis zur Ästhetik ist bisher fast ausschließlich unter der Perspektive seiner Kant-Rezeption betrachtet worden. Was sich darüber hinaus an Hinweisen auf Vorkantisches, vor allem auf die sogenannte “Popularphilosophie” des 18. Jahrhunderts findet, erschöpft sich meist in bloßen Titelangaben oder übernommenen Zitaten. So tauchen Baumgarten, Mendelssohn, Garve oder Sulzer, um nur die wichtigsten Anreger zu nennen, lediglich in den Anmerkungen der historisch-kritischen Gesamtausgaben oder in kleinen, wenig beachteten Spezialuntersuchungen auf, während sie in zusammenfassenden Darstellungen häufig übergangen werden, um Schillers ästhetische Anschauungen nicht in den Bereich des “Obskuren” herabziehen zu müssen. Besonders in der Zeit um 1900, die im Zeichen eines blühenden Neukantianismus stand, herrschte fast durchweg die Meinung von Udo Gaede: “Von einem positiven Einfluß dieser Studien [gemeint sind die Popularphilosophen] auf Schillers Schriften wird man im allgemeinen kaum sprechen können. Ihre Theorien waren durch Kants Begründung der Ästhetik überwunden, und Schillers Ideen beruhten zu sehr auf Kant, als daß er sich anders als ablehnend gegen sie hätte verhalten können.”

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 79 , Issue 4-Part1 , September 1964 , pp. 428 - 441
Copyright
Copyright © 1964 by The Modern Language Association of America

Access options

Get access to the full version of this content by using one of the access options below. (Log in options will check for institutional or personal access. Content may require purchase if you do not have access.)

References

1 Vgl. Eugen Kühnemann, Kants und Schillers Begründung der Ästhetik (München, 1895); Willy Rosalewski, Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen, Beiträge zur Philosophie, Bd. i (Heidelberg, 1912); Abraham Tenenbaum, Kants Ästhetik und ihr Einfluß auf Schiller (Diss. Berlin, 1933).

2 Vgl. die Kommentare von Oskar Walzel in Säkular-Ausgabe (Stuttgart, 1905), Bde 11–12, und Karl Berger in Hesse-Ausgabe (Leipzig, 1909), Bde 16–17. Ein nachdrücklicher, wenn auch nicht konsequent zu Ende geführter Hinweis findet sich bei Hans Georg Peters, Die Ästhetik A. G. Baumgartens und ihre Beziehungen zum Ethischen, Neue deutsche Forschungen, Abt. Philosophie, Bd. i (Berlin, 1934), der davor warnt, in Schiller lediglich einen Schüler Kants zu sehen (S. 54). Ähnliches behauptet Robert Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller (Würzburg, 1892), beschränkt jedoch seine Bemerkungen weitgehend auf das Grenzgebiet zwischen Asthetik und Psychologie (S. 365).

3 Vgl. Bernhardt Carl Engel, Schiller als Denker (Berlin, 1908), S. 7.

4 Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung (Berlin, 1899), S. 26.

5 Schüler als Historiker und Philosoph, hrsg. von M. Brasch (Leipzig, 1884), S. 27–43.

6 So wurden Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755) jahrzehntelang als Schillers letzte Lektüre auf seinem Schreibtisch gezeigt.

7 Schillers Briefwechsel mit Körner, hrsg. von K. Goedeke, 2. Aufl. (Leipzig, 1878), ii, 3. 11. Januar 1793. Im Folgenden als KB zitiert.

8 Schillers Briefe, hrsg. von F. Jonas (Stuttgart, 1892), i, 85. 9. Dezember 1782.

9 Oft verwendeter Ausdruck nach dem Buch von Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik (Berlin, 1889), in dem jedoch auch die vorkantischen Ästhetiker der Reihe nach aufgezählt und interpretiert werden. Robert Zimmermann bezeichnet daher in seiner Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft (Wien, 1858) die Bemühungen Kants nur als eine “Reform” dieser Disziplin (S. 377).

10 Friedrich Schiller (Stuttgart, 1959), S. 76. Seine Anmerkungen zu Naive und sentimentalische Dichtung im 21. Band der Schiller-Nationalausgabe (Weimar, 1963) konnten leider nicht mehr berücksichtigt werden.

11 Geschichte der deutschen Poetik (Berlin, 1937–59), iii, 112.

12 Vgl. Wilhelm Iffert, Der junge Schiller und das geistige Ringen seiner Zeit (Halle, 1926). Die gewonnenen Erkenntnisse werden hier jedoch auf die Anthologie auf das Jahr 1782 beschränkt.

13 Immanuel Kant, Sämtliche Werke, hrsg. von K. Vorländer, 5. Aufl. (Leipzig, 1922), “Kritik der Urteilskraft”, ii, 40. Im Folgenden als “KU” zitiert.

14 Säkular-Ausgabe, hrsg. von E. v. d. Hellen (Stuttgart, 1905), xii, 4. Im Folgenden als SA zitiert.

15 Vgl. Körner am 29. Juni 1793: “Vielleicht fehlt es ihm [Kant] an Gefühl für moralische Schönheit” (KB, ii, 70).

16 Schillers Briefe, iv, 200, 29. Juni 1795.

17 Z.B. bei Robert Sommer, Robert Zimmermann u.a. Anders Herbert Cysarz, “Naive und sentimentalische Dichtung,” Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (Berlin, 1926–28), der in dieser Schrift die “edelste Hervorbringung der deutschen Ästhetik überhaupt” sieht (ii, 442).

18 Schiller (München, 1905), S. 351.

19 Daher Karl Berger, “Schiller als Philosoph und Kritiker”, in Hesse-Ausgabe, wohl in Ablehnung der Behauptungen Kühnemanns: “Schiller ist Dichter gewesen, nichts anderes” (xvii, 5).

20 Schiller (Bern, 1950), S.313.

21 Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, hrsg. von A. Leitzmann, 3. Aufl. (Stuttgart, 1900), S. 251. Im Folgenden als HB zitiert.

22 Gedenk-Ausgabe, hrsg. von E. Beutler (Zürich, 1948), xxiv, 405.

23 Über Schillers Enttäuschung vgl. seinen Brief an Körner vom 2. Februar 1789: “Er ist ein Egoist in ungewöhnlichem Grade” (KB, i, 270). Am 1. November 1790 schreibt er: “Seine Philosophie mag ich auch nicht ganz: sie holt mir zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. Überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet zu viel” (KB, i, 384).

24 Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. von H. G. Gräf und A. Leitzmann (Leipzig, 1955), i, 48. Im Folgenden als GSB zitiert. Wie sehr sich Schiller später von der Philosophie entfernte, beweist eine Äußerung Humboldt gegenüber: “Die spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohlen Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefild keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich gefunden” (HB, S. 321), 2. April 1805.

25 So schreibt er am 2. Februar 1789 an Körner: “Eine ganz sonderbare Mischung von Haß und Liebe ist es, die er in mir erweckt hat” (KB, i, 270).

26 Herbert Cysarz, a.a.O., S. 442.

27 Über die Einflüsse Mendelssohns auf Schillers Frühwerke vgl. Wilhelm Iffert, a.a.O., S. 49 und Oskar Walzel, SA, xi, 303–322.

28 Vgl. Victor Basch, La Poétique de Schiller, 2. Aufl. (Paris, 1911), S. 3–5.

29 Schillers Leben, 5. Aufl. (Leipzig, 1876), S. 13.

30 Vgl. Wilhelm Iffert, a.a.O., S. 50.

31 Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste (Leipzig, 1779), S. 165.

32 Kleine Schriften (Leipzig, 1925), i, 60.

33 Garve, a.a.O., S. 119. Vgl. auch Humboldt: “Bei den Griechen fällt es zuerst ins Auge, daß sie ganz und unaufhörlich den Eindrücken der äußeren Natur auf sie offen waren” (HB, S. 194).

34 Garve, a.a.O., S. 171.

35 Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch (Leipzig, 1854 f.), vii, 321. Schillers Begriff der “Naivheit” ist von niemandem aufgegriffen worden. Kant gebraucht wie Mendelssohn das Wort “Naivetät” (“KU,” S. 193).

36 “Abhandlung über den Ursprung und über den Grund der Ungleichheit unter den Menschen,” in Auserlesene Werke (Leipzig, 1833), xxii, 18.

37 Vgl. M. Lederer, Die Gestalt der Naturkinder im 18. Jahrhundert (Bielitz, 1908); Hoxie N. Fairchild, The Noble Savage (New York, 1928).

38 Vgl. Lawrence M. Price, Incle and Yarico Album (Berkeley, Calif., 1937); Heinz Schlüchterer, Der Typus des Naiven im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts (Berlin, 1910).

39 Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 2. Aufl. (Leipzig, 1792 f.), iii, 499–507.

40 Ebd., iii, 504, 500, 499.

41 Als Beispiel dienen ihm Gellerts Fabeln (ebd., iii, 506), die auch Mendelssohn als “naiv” bezeichnet, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. B. Mendelssohn (Leipzig, 1843–45), i, 342.

42 “Über das Erhabene und Naive in den schonen Wissenschaften,” in Gesammelte Schriften, i, 343. Auch Lessing unterscheidet zwischen diesen beiden Arten der “Naivetät”: “Zum Naiven wird erfordert, daß die Natur den Sieg davon trage, es geschehe nun wider Wissen und Willen der Person, oder mit völligem Bewußtsein derselben.” Zitiert bei Grimm, a.a.O., vii, 321.

43 SA, xii, 167. Ähnlich schon seine Unterscheidung von Grazie als “persönlichem Verdienst” (xi, 195) und als Zeichen für “unwillkürliche” Natur (xi, 200).

44 Mendelssohn, a.a.O., i, 114, 341.

45 Von den zahlreichen Details, die Schiller aus Mendelssohns Abhandlung “Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften” übernommen hat, seien nur folgende erwähnt: “Unwissenheit des Weltgebrauchs” (i, 340), das “Naive in dem Charakter des Kindes” (i, 340) und das Naive in der “Sprache des schönen Genies” (i, 343).

46 Schon von Schiller beeinflußt ist Humboldts Aufsatz “Über die männliche und weibliche Form” (1795).

47 Vgl. Robert Zimmermann, a.a.O., S. 178; siehe auch Heinrich von Stein, Die Entstehung der neueren Ästhetik (Stuttgart, 1886), S. 143.

48 Sulzer, a.a.O., iv, 88.

49 Ebd., i, 114–126.

50 Garve, a.a.O., S. 177, 133, 168, 172, 195, 196.

51 SA, xii, 231. Hier mag Kants Definition vom Genie als einem “Günstling der Natur” mitgesprochen haben (“KU,” S. 173).

52 “Sentimentalisch,” im 18. Jahrhundert für und neben “sentimental” gebraucht, wird erst bei Schiller “Kunstausdruck der Ästhetik.” Vgl. Grimm, a.a.O., x, 615. Trotz seiner wirkungsgeschichtlichen Bedeutsamkeit ist er als Terminus nicht in dem Maße aufgegriffen worden wie der Begriff des “Naiven.” Selbst Goethe und Hebbel verwechseln ihn ständig mit dem “Sentimentalen.” Heute wird er meist in Anführungsstrichen verwendet, das heißt, nicht mehr poetisch-universal, sondern als eine spezifisch Schillersche Eigenart. Vgl. Martin Havenstein, “Wahrheit und Irrtum in Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung,” Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, xxxii (1938), 239.

53 Historische Vergleichung der Sitten und Verfassungen ... des Mittelalters mit denen unseres Jahrhunderts in Rücksicht auf die Vorteile und Nachteile der Aufklärung (Hannover, 1793–94), i, 87. Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Helmut Rehder. Näheres zu Iselin bei H. Girgensohn, Das Problem des geschichtlichen Fortschritts bei Iselin und Herder (Diss. Erlangen, 1913).

54 Ähnlich nicht nur Kant in seiner Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), sondern auch Mendelssohn in seinem “Sendschreiben an Herrn Magister Lessing in Leipzig,” wo er gegen Rousseau behauptet: “Jeder Fortgang in der Geselligkeit [ist] ein Schritt näher zu unserer Glückseligkeit” (k, 374).

55 Schiller, S. 310, 309.

56 Gedenk-Ausgabe, xxiv, 72.

57 Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke, hrsg. von R. M. Werner (Berlin, 1901) 2, i, 194.

58 Martin Havenstein, a.a.O., S. 242, 246.

59 Schillers Briefe, iv, 189. 18. Juni 1795.

60 Vgl. Garve, a.a.O., der die neueren Dichter “eine Art Metaphysiker” nennt, während die “Alten” sich lediglich an die Natur gehalten hätten (S. 170).

61 Vgl. Schillers Äußerung: “Das Ideal schöner Menschlichkeit” besteht “aus der innigen Verbindung beider” (SA xii, 249).