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Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Von allen Gebilden dichterischer Phantasie, denen wir in Kleists Werken begegnen, ist wohl Penthesileas Amazonenstaat das sonderbarste. Ein eingeschlechtlicher Staat, mit künstlich geregelter Fortpflanzung, Frauen, die von Jugend auf für das Kriegshandwerk erzogen werden und ihr ganzes Leben lang Kriegerinnen bleiben—dies alles ist so phantastisch, so unglaublich, so von der Wirklichkeit entfernt, dass es fast unerklärlich scheint, wie der Dichter seinen Zuschauern ein solches Staatsgebilde mit dem Anspruch auf dichterische Wahrscheinlichkeit vorsetzen konnte. Tatsächlich ist aber der Amazonenstaat in keiner Weise so phantastisch-bizarr, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint, denn trotz aller seiner Eigenarten ist er im Grunde nichts als ein getreues, wenn auch zum Extrem getriebenes Abbild führender rechtlicher, sozialer und pädagogischer Ideen des 18. Jahrhunderts, und insbesondere eine genaue Ausführung der Ideen Rousseaus.
1 Contrat Social, Livre iv, Chapitre 2; Œuvres, v, 194. Die Verweisungen auf Rousseaus Werke beziehen sich auf die Ausgabe von Musset-Pathay (Paris 1823).
2 Dass die Idee des Staatsvertrages auch anderen Werken Kleists zu Grunde liegt, zeigen Meyer-Benfeys Ausführungen in Bezug auf den Kohlhaas, cf. Kleistjahrbuch 1931/1932, S.25 und S.33, ebenso Josef Körner (Recht und Pflicht, S.9 ff.).
3 Elemente ier Staatskunst (Berlin, 1809), i, 52 ff.
4 Contrat Social, Livre i, Chapitre vi, Œuvres, v, 79.
5 Ibid., S.77.
6 Ibid., chap, viii, S.84.
7 Ibid., chap, vi, S.78.—Der Vertrag beginnt wörtlich: “Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale …”
8 La Pensée de Jean-Jacques Rousseau (Paris, 1929), S.393.
9 Contrat Social i, 5: “Avant donc que d'examiner l'acte par lequel un peuple élit un roi, il seroit bon d'examiner l'acte par lequel un peuple est un peuple; car cet acte, étant nécessairement antérieur à l'autre, est le vrai fondement de la société.” Œuvres, v, 76.
10 Contrat Social, iii, 17, S.185.
11 Ibid., iii, 1, S.129 f.
12 Entsprechend Rousseau, ibid., S. 135.
13 Rom und der Senat können nur um Befolgung des Gesetzes bitten, cf. Bérénice, ii, 2 Zeile 415 bis 418.
14 Contrat Social, iii, 10, S.171.
15 Ibid., iv, 7, S.221.
16 Ibid., iii, 18, S.187.
17 Ibid., iii, 18, S.188.
18 Ibid., iv, 8, S.224 ff.
19 Auf die vielen Probleme, die mit der Einführung der Religion in Rousseaus Naturrechtsstaat verbunden sind, kann und braucht hier nicht eingegangen zu werden.
20 Contrat Social, iv, 8, S.230 f.
21 Roger Ayrault (H. v. Kleist, S.286 ff.) weist Kleists Kenntnisse des Philosophen ausführlich nach, insbesondere für die Confessions und Emile.
22 Leviathan, ii, 17 und 18.
23 An Essay concerning the true original, extent and end of civil government, Kap. 8 & 9.
24 Histoire de la Litt. Fr., S.780 ff.
25 La Pensée J.-J. Rousseau, S.506 ff.
26 Emile, livre ii, Œuvres, iii, S.98.
27 Ibid.
28 Nach Lanson (Annales J.-J. Rousseau, viii, 22) enthält Emile die Erziehung des Menschen zum Staate des Contrat Social. Man darf wohl sagen, dass Lanson dabei die vorwiegend individualistische Tendenz des Werkes nicht genügend berücksichtigt. Der Gedanke des Verzichts ist jedoch im Emile derselbe wie im Contrat Social.
29 Selbstverständlich hätte sich Rousseau mit diesem Frauenstaat niemals einverstanden erklärt, ist er doch gerade der grösste Antifeminist. Die Lehren des Emile scheinen sich aber, wenn man von dem 5. Buch absieht, auf den Menschen im allgemeinen und nicht auf ein bestimmtes Geschlecht zu beziehen, sodass ihre Anwendung auf das weibliche Geschlecht ohne weiteres möglich ist.
30 Emile, iii. Œuvres, iii, 314.
31 Emile, iv, Bd. iii, S.382.
32 Ibid., S.387.
33 Ibid., S.388.
34 Ibid., S.387.
35 Œuvres, iii, 381.
36 Ibid., iv, 208.
37 Emile, iii, Œuvres, iii, 347.
38 Œuvres, iii, 283.
39 Emile, IV, Œuvres, iii, 426.
40 Emile, iii, Œuvres, iii, 285.
41 Ibid., S.283.
42 Emile, i, Œuvres, iii, 13.
43 Ibid., S.12.
44 Julius Hart, Das Kleistbuch, S.473 f.
45 Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, (1895), S.47.
46 Näheres über dieses Missverständnis und seine Bedeutung für das Drama in Verfassers “Der Bruch in Penthesilea,” MLN (1937), S. 330.
47 Die Entwicklung der tragischen Idee, Kleistjahrbuch, 1925/26, S.40.
48 Seit der Niederschrift dieser Arbeit ist ein Buch über Heinrich von Kleist und J. J. Rousseau von Oskar Ritter von Xylander (Berlin 1937) erschienen. Die Beziehungen der Staatsidee Kleists zu der Rousseaus werden darin nur wenig, in Bezug auf die Penthesilea garnicht behandelt. Xylander fasst die Rousseauelemente in dem Drama folgendermassen zusammen: “Die Kraft des Gefühls, in der allein das unmittelbare Verhältnis zum Leben gegeben ist, aber in der Masslosigkeit der Leidenschaft Rousseau übersteigernd, dann der Wahrheitstrieb des Selbstbekenntnisses und schliesslich die Antithese Natur-Unnatur, aber in metaphysischer Vertiefung” (S.303). Die oben durchgeführten Untersuchungen werden also durch das neue Buch in keiner Weise berührt.