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Published online by Cambridge University Press: 16 August 2021
Seit mehr als hundert Jahren haben sich Literarhistoriker, Amateure und—leider audi—Philosophen um die Erhellung der Faustenste-hungsgeschichte gemüht. Trotz unendlichen Fleißes, glücklicher Funde und archivalischer Mitteilungen ist das Ende des Rätselratens auch heute noch nicht in Sicht.
1 Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene war anonym 1764 erschienen. Eine Goethe zugängliche französische Übersetzung der dritten italienischen Auflage, Traité des délits et des peines, traduit de l'italien (À Philadelphie [?], 1766), behandelt das Kindsmörderinnenproblem im 36. Kapitel. Goethes frühe Bekanntschaft mit Beccaria scheint nur indirekt beweisbar, da die früheste Erwähnung am 5. März 1787 in der Italienischen Reise erfolgt. Jedoch erwähnt das Karlsbader Schema von 1810 auf die frühe Weimarer Zeit bezügliche “Einflüsse Beccaria's, und überhaupt aller Humanitätslehrer” (Weimar-Ausgabe Bd. liii, 384). Soweit Goethe an Reformen beteiligt war, weist seine Ideologie auf seine vor-weimarische Zeit zurück. Das 6. Kap. des ersten Buches der Wanderjahre, ein Brief an Mylius vom 11. Okt. 1829 und einer an Zelter vom 15. Febr. 1830 erweisen Beccaria als eine von Goethe als epochemachend anerkannte Gestalt. Der ganze Tatbestand beweist, daß Einflüsse, die für eine bestimmte Periode nicht direkt nachweisbar sind, deswegen nicht als nicht-vorhanden behandelt werden dürfen.
2 1766 hatte Voltaire anonym und ohne Ort (Genf) seinen Commentaire sur le livre des délits et des peines, par un avocat de province veröffentlicht. Wie für eine frühe Goethische Lektüre des Beccaria, so habe ich keinen Beleg für die des Voltaireschen Kommentars finden können. Selbst bei einem ganz flüchtigen “Anlesen” müßte Goethe jedoch auf Voltaires effektvolle Darstellung des Kindsmörderinnenproblems im Anfang des Buches gestoßen sein.
3 Gertrud Schubart-Fikentscher, Goethes Straßburger Thesen (Weimar, 1949), bietet in Bezug auf die 55. nichts, was über Jan Matthias Rameckers' Amsterdamer Dissertation, Der Kindesmord in der Literatur der Sturm- und Drang-Periode, Ein Beitrag zur Kultur-und Literatur-Geschichte des 18. Jahrhunderts (Rotterdam, 1927) hinausginge.
4 B. Seuffert, “Die älteste Scene im Faust,” Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte, iv (1891), 339 ff. G. Schuchardt, “Die ältesten Teile des Urfaust,” Zeitschrift für deutsche Philologie, li (1926), 465 ff., und lii (1927), 346 ff. Hermann Schneider, Urfaust? (Tübingen, 1949), S. 15 fL
5 s. Ernst Feise, “Zwei Goethestudien,” PMLA, lvii (March 1942), 169 ff.
6 s. Willy Krogmann, Goethes Urfaust (Germanische Studien, Heft 143) (Berlin, 1933), S. 33 ff.
7 “Urfaust oder Ururfaust? Zwei Studien zur Erforschung des Urfaust,” Monatshefte, xli, 329 ff., xlii, 166 ff. Siehe hier besonders xli, 341 f.
8 Wilhelm Scherer, Aus Goethes Frühzeit (Strassburg, 1879), p. 78. Gustav Roethe, Goethe, Gesammelte Vorträge und Aufsätze (Berlin, 1932), p. 65. Carl Enders, Die Katastrophe in Goethes Faust (Dortmund, 1905), pp. 55 ff. (Eine im Detail über Scherer hinausgehende Stilvergleichung der Prosaszenen mit der Geschichte Gottfriedens . . ., überzeugende Einzelbelege für die nahe Stilverwandtschaft erbringend.)
9 “Neue Beiträge zur Erklärung des Urfaust,” Germanisch-Romanische Monatsschrift, x (1922), 138-150, 203-213. Der zitierte Satz auf S. 146.
10 Das Faustbuch des Christlich Meynenden, herausgegeben von Siegfried Szamatólski (Stuttgart, 1891), S. 9.
11 Hermann Schneider, a.a.O., S. 72. Robert Petsch, “Die Geisterwelt in Goethes Faust,” Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1926), S. 153-154.
12 Goethes Faust: Die dramatische Einheit der Dichtung (Tübingen, 1932). Sechstes Kapitel IV. “Mephistopheles und der Erdgeist (Eine Abschweifung),” S. 239-252. Derselbe: “Der Erdgeist in Goethes Faust und die Erdgeisthypothese,” Jahrbuch des Freien Deutschen Eochstifts (1930), S. 91-130. Übrigens war Rickert nicht der erste, der den “erhabnen Geist” so deutete. Schon Günther Jacoby hatte es in seinem Buch Herder als Faust (Leipzig, 1911), S. 150 getan.
13 Kritik und Erläuterung des Goethe'schen Faust. Nebst einem Anhange zur sittlichen Beurtheilung Goethe's (Leipzig, 1837).
14 Goethe, Faust und Urfaust, erläutert von Ernst Beutler, zweite erweiterte Auflage. 9.-16. Tausend (Wiesbaden, 1948). Beutler scheint sich bei seiner Mephisto-Deutung stark an den ersten der zwei Mephisto-Aufsátze von Max Morris (Goethe-Jahrbuch XXII, [Frankfurt a. M., 1901], S. 150-191) angelehnt zu haben. Unglücklicher Weise zeigte sich der sonst so geistig selbstandige und hochverdiente Morris dort vollig im Banne der orthodoxen Erdgeisthypothese, und seine Darstellung ist zusammen mit derjenigen Fischers schon längst als zu einseitig erkannt und abgelehnt worden (s. Anm. 15). Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß der Gedanke von Reiz und Steigerung nicht von Morris, sondern von Chr. Sarauw, Die Entstehungsgeschichte des Goethischen Faust (K⊘benhavn, 1918), S. 103 stammt.
15 z.B. Albert Bielschowsky, Goethe (München, 1904), ii, 602 und Anm. S. 709 f. Ernst Traumann, Goethes Faust (München, 1924), i, 347 und Anm. S. 431. Auf Minors massive Polemik gegen Fischer berufen wir uns hier nicht, da seine eigne Einheitsthese gleichfalls unhaltbar ist.
16 Doctor Johannes Faust, Puppenspiel in vier Aufzilgen, hergestellt von Karl Simrock (Frankfurt am Main, 1846), S. 6-8, 27-29.
17 s. Bruno Wachsmuth, “Goethe und die Magie,” Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellchaft, viii (Weimar, 1943), 98 ff. und 215 ff.
18 J. Minor, Goethes Faust (Stuttgart, 1901), i, 316. Max Morris auf S. 188 seines in Anm. 14 genannten Mephisto-Aufsatzes. Erich Schmidt, Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt, Sechster Abdruck (Weimar 1905), S. lviii.
19 Ernst Beutler, Essays um Goethe (Wiesbaden, 1948), i, 116.
20 Der Druck einer Schrift von Elisabeth Mentzel, Zwei Frankfurter Kindesmörderinnen aus Goethes Zeit (Frankfurter Stadtarchiv) ist bekanntlich verhindert worden.
21 In der späteren, von antikatholischen Ausfällen gereinigten Ausgabe des Christlich-Meynenden ohne Jahreszahl und mit dem Faustportrait im Rokokorahmen, das die Speck-Collection besitzt, heißt der Gothaer Wirt “Hohenmeyer” (S. 28). Da Goethe muden Vornamen übernahm, ist dieser Unterschied für die Faustforschung bedeutungslos.
22 “Motiv, Konzeption, Idee—das Kräftespiel in der Entwicklung von Goethes Faust,” Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Halle a. S., 1942), xx, 18.
23 Faust und Urfaust (s. Anm. 14), S. xliv: “Valentin—der Name ist aus Hamlet—stirbt wie Laertes, im Zweikampf die Schwester zu râchen.” Wôrtlich wiederholt auf S. 710 von: Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke und Gespräche, 5. Bd. Die Faustdichtungen (Zurich, 1950). Faust und Urfaust (s. Anm. 14), S. 553: “Der Name Valentin aus Hamlet, Akt 4 Sz. 5, wo es in dem Lied der irren Ophelia, das Goethe frei übersetzt eben in dieser Szene Mephisto in den Mund legt, heißt: To morrow is Saint Valentine's day ... to be your Valentine.” Diese Anmerkung der Hochstiftausgabe ist in den bedeutend kürzeren Worterklärungen der Gedenkausgabe nicht wiederholt.
24 s. Willy Krogmann, Das Friederikenmotiv in den Dichtungen Goethes (Germanische Studien, Heft 113) (Berlin, 1932), S. 138.
25 Der junge Goethe, ii, 121.
26 Merck an seine Gattin, 14. Februar 1774: “Je crois que Mr. Herder et Mme ont senti quelque chose de l'incrédulité de Goethe et de moi par rapport à la félicité, qui attendoit la pauvre compagne d'un homme aussi singulier que Mr. Herder ...” Der junge Goethe, iv, 76.
27 R. Haym, Herder (Berlin, 1880), i, 374 f.
28 Bernhard Suphan, “Goethe und Herder,” Deutsche Rundschau, lii (Juli-Sept. 1887), 63-76 (s. besonders S. 70).
29 “Der junge Goethe und Herders Schriften,” Goethe, Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft, vii (Weimar, 1942), 145-159.
30 Günter Jacoby, Herder als Faust (Leipzig, 1911). Konrad Burdach, “Faust und Moses,” Sitzungsberichte der königlich preußichen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1912, S. 358-403, 627-659, 736-789 (s. hier S. 651, Anm. 1).
31 Ferdinand Josef Schneider, Goethes Satyros und der Urfaust (Halle [Saale], 1949) (Hallische Monographien Nr. 12) schlägt A. S. von Goué als Satyros-Modell vor. Hans M. Wolf (“Satyros,” GR, xxiv [1949], 168 ff.) will kein individuelles Modell gelten lassen, sondern nimmt an, Goethe habe im Satyros Pseudo-Stürmer und -Dränger, die nur auf eigenen Vorteil bedacht waren, geißeln wollen. Keine der beiden letztgenannten neueren Arbeiten scheint überzeugender als die bekannten älterene Schriften über die Satyros-Frage.
32 Die hier vorgelegte Untersuchung hätte ohne die Bücherschätze der Yale-Bibliothek und der Speck-Collection nicht durchgeführt werden können. Auch sei hier den dortigen Professoren für freundliche Teilnahme und Mrs. Taylor für unermüdliche Hilfe bei der Materialbeschaffung gedankt.