Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Wie die anderen großen Klassiker seiner und früherer Zeiten, hat auch Goethe nie Deutschunterricht im heutigen Sinne genossen. Es mag dahingestellt bleiben, ob er trotzdem oder deswegen ein—Goethe geworden ist. Tatsache ist jedoch, daß er seit etwa einem Jahrhundert im Deutschunterricht gelesen wird und daß es trotzdem noch keine größere, das Thema auch nur annähernd erschöpfende Arbeit gibt über die Behandlung, die sein Werk und seine Persönlichkeit auf der deutschen Schule erfahren haben. Eine seltsame Unterlassung in Anbetracht der sonst schon längst ins Unermeßliche angewachsenen Goetheliteratur ! War und ist die Schule denn nicht der Ort auf dem Goethes großen Nachfolgern, seinen Widersachern, und auch uns, seinem Publikum im allgemeinen, eine erste Kenntnis seiner Art und Eigenart vermittelt wurde? Mogen die Umstânde dieser ersten Bekanntschaft nicht oft genug fürs ganze Leben ausschlaggebend gewesen sein? Und hat Goethe selber die Wichtigkeit gerade des dichterischen Schulerlebnisses nicht hoch genug angesetzt als er in den Wahlverwandtschaften schrieb, daß “ein Lehrer, der das Gefühl… an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann,” mehr leistet als einer, “der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert?”—Diesen Worten können freilich andere entgegengesetzt werden, etwa diejenigen, mit denen der um den Deutschunterricht besonders verdiente Rudolf Hildebrand in seinem Buche Vom deutschen Sprachunterricht (1867) den damaligen Schulbetrieb charakterisierte: “Der Unterricht im Deutschen gilt den Lehrern… nicht als der leichteste und angenehmste, ja vielen wohl als der schwerste und lästigste, und lästig, nicht selten geradezu langweilig, selbst sterbenslangweilig, nicht den Lehrern bloß, auch den Schülern, und nicht an Volks- und Bürgerschulen bloß, ebensogut, ja besonders an Gymnasien.”
1 Selbst das Goethe-Jakrbuch und seine Nachfolgeorgane weisen unter mehr als 600 seit 1880 verôffentlichten Beitrâgen nur einen auf, der sich mit dieser Frage befafit (Wilhelm Munch, Goelhe in der deutschen Schule, G.-J., xxi, 1900). Auf die Literatur, die sich mit der Deutschlekture an Schulen allgemein beschâftigt, wird im Laufe dieser Arbeit an gegebener Stelle eingegangen.
2 Das im Folgenden untersuchte Material befindet sich in der Hauptstelle fur Erziehungs- und Schulwesen (Berlin-Schôneberg), in der Landesanstalt fur Erziehung und Unterricht (Stuttgart), in der Bibliothek der Stândigen Konferenz der Kultusminister der Lander (Bonn), an Oberschulamtern und Lehrerseminaren in verschiedenen Làndern, z.T. auch in Privatbesitz. Fiir die dem Verfasser gewâhrte Moglichkeit, an diesen Stellen zu arbeiten, sei der American Philosophical Society und der Alexander v. Humboldt-Stiftung auch hier gedankt, wie auch den Herren Kultusminister Dr. Storz und Oberstudiendirektor Dr. Schradi (Stuttgart), Prof. Spranger (Tubingen), Prof. Baumann (Freiburg), Prof. Wolf (Waib-lingen), sowie Herrn Dr. Buchwald und Frau Dr. Engelbert (Berlin).
3 Prof. J. M. Gesner, zitiert bei A. Matthias, dessen Geschichte des Deutschen Unterrichts (Miinchen, 1907) ich bei diesem kurzen Uberblick fiber die vorgoethesche Phase der Schullektiire in gro fien Ziigen folge.
4 Siehe auch SchiUers Lob der “schônen Ordnung,” die Moritz in die Sprache einffihrte, im Brief an Goethe vom 23. August 1794.
5 Matthias, S. 129.
6 Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jiinglingen (Suphanausgabe, xxx, 222).
7 Matthias, S. 195.
8 Deutsche Grammatik, i, xi.
9 Zitiert bei Matthias, S. 242, wo Hanslicks Vorname irrtumlich als “F.” angefuhrt wird. 10 Matthias, S. 217.
11 Es ist heute nicht mehr mit Sicherheit festzustellen, warm und wo Faust II zuerst auf dem Gymnasium gelesen wurde. Hôchstwahrsckeinlich geht dièse Lekture auf die Jahre unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg zuruck, obwohl der Zweite Teil in keinem der untersuchten Lehrplâne der Zeit erscheint. Einer der ersten Lehrer, die dies unternahmen, war wohl Franz Hilker, der als junger Assistent den Zweiten Teil mit der Abiturientenklasse des Jahres 1914 las, auf Drângen der Schuler, privât und aufierhalb der regulâren Klassenstunden—urigens zum entschiedenen Mififallen der Kollegen, die befürchteten, ihre Freizeit ebenfalls auf dièse zwar lobenswerte, im Schuletat aber nicht vorgesehene Weise opfern zu miissen. (Mitteilung Prof. Hilkers [Bonn].)
12 Lesestucke und Schrifiwcrke im deutschen Unlerricht (Munchen, 1906), S. 155.
13 Wie zu alien anderen Problemen, hatte Wilhelm II auch zu dem des Abituraufsatzes einige kernige (und in diesem Fall durchaus nicht unverniinftige) Worte beizusteuern: “Wenn Einer im Abiturientenexamen einen tadellosen deutschen Aufsatz liefert, so kann man daraus das Mafi der Geistesbildung des jungen Mannes erkennen und beurteilen, ob er etwas taugt oder nicht” (bei Eroffnung der Schul-konferenz zu Berlin am 4. Dezember 1890).
14 In der Abhandlung Der deutsche Aufsatz in Prima (1856); zitiert bei Matthias, S. 213.
15 P. Goldscheider, Lesestucke, u.s.w., S. 61.
16 Diesem Tatbestand entspricht auch die große Anzahl damaliger Schulausgaben besagter Werke, z. B. die des Gotz von G. Wustmann und J. Naumann (1871 bzw. 1877), U. Burmans Faust-Schulausgabe (1905, sogar schon mit dem Zweiten Teil), sowie die Bearbeitungen goethescher Lyrik von Thomas Achelis, Gustav v. Loeper, Otto Harnack. Auch die grofien Sammelwerke wie Cottas Schulausgaben deutscher Klassiker, O. Lyons Deutsche Dichter des neunzehnten Jahr-hunderts (“Aesthetische Erlàuterungen fur Schule und Haus”), und J. Kurschners Deutsche National-Literatur fallen in diesen Zeitraum.
17 Im Vorwort, “Zum Geleit,” der ersten Nummer der Zeilschrift fur deutsche Bildung (Juni 1925).
18 Gedichte naturwissenschaftlichen Inhalts sind in die Rubrik “Naturwissenschaftliches” aufgenommen worden.
19 Jetzt natilrlich auch der Zweite Teil. Wo jedoch weitere Einzelheiten angegeben werden, heifit es meist “Akt I und V,” viel seltener “Akt III.”
20 Dieser Gesichtspunkt wurde am deutlichsten von Otto von Greyerz in seinem Werk Der Deuischunterricht ah Weg zur nationalen Erziehung (schon 1914) vertreten, gewann aber erst in der nationalsozialistischen Zeit eine ailes andere iiberschattende Wichtigkeit.
21 Damais “Oberschule fiir Jungen.”
22 Wo zwei Nummern angegeben werden, bezieht sich die erste auf den sprachlichen, die zweite auf den naturwissenschaftlichen Zweig der betreffenden Klasse.
23 Zeitschrift fiir Deutschkunde, 1930 (Nachfolgeorgan der von Otto Lyon und Rudolf Hildebrand begriindeten Zeitschrift fiir den Deuischunterricht), bzw. Zeitschrift fiir Deutsche Bildung, 1929.
24 S. 26. Havenstein verneint die Frage, bei Goethe besonders in Bezug auf Die Wahlverwandtschaften und auf Wilhelm Meister, die ihm als “lebensgeschichtlich zu unjugendlich” erscheinen.
25 “Wie kann der Deutschunterricht das Goethe-Jahr 1932 vorbereiten?” von Wilhelm Zemke (Zt. f. Deutschkunde, 1931).
26 Das eherene Berz (“Reden und Aufsâtze aus den Jahren 1941–42”), (Munchen, 1943), S. 233.
27 “Goethe in der neuen Schule” (Zt. f. Deutschkunde, 1934). Dennoch konnte Gunther Rosendahl in derselben Zeitschrift noch 1941 einen “Plan einer Goethebetrachtung im Unterricht” entwerfen, in dem von “Gleichschaltung” nichts zu verspuren ist. Was Heinz Kindermann in Das Goethebild des XX. Jahrhunderts in Bezug auf die akade-mischen Goetheforscher uberzeugend nachwies—nâmlich dafi sich damais viele bewufit an Goethe anklammerten eben um der Gegenwart zu entrinnen—trifft zweifellos auch auf viele Deutschlehrer zu.
28 Lehrplanrichtlinien fiir die Gymnasien Schleswig-Holsteins (1955), S. 48.
29 “Die deutsche Klassik und die nationalpolitische Bildung” von Eduard Schulze, Zeitschrift fiir dt. Bildung, 1934.
30 P. Goldscheider, Lesestiicke u.s.w., S. 155.
31 Der Deutschunterricht, Heft 2/3, 1948–49, bzw. Heft 7, 1949.
32 Lehrplanrichtlinienfur die Gymnasien Schleswig-Holsteins (1955), S. 54–55.
33 Kürzlich Z.B. durch G. v. Lukâcs' Uberarbeitung, in Beîtràgezur Geschichteder Aesthetik (1956), der Mehring'schen Auffassung von deutscher Literaturgeschichte. Auch der Fall Alfred Kantorowicz hat naturlich eine große Erschutterung im Osten hervorgerufen.
34 “Hinweise zur Arbeit mit Lehrplânen und Direktiven im Schuljahr 1958/59 vom 21. August 1958” (Verftigungen und Milteilungen des Ministeriums fur Volksbildung, Nr. 15/18, 76).
35 In den neusprachlichen und mathematisch-naturwissen-schaftlichen Zweigen (A und B) werden die zweite und dritte Fremdsprache “auf Vorschlag der Abteilungen Volksbildung der Rate der Bezirke” durch das Ministerium fiir Volksbildung gewàhlt (Englisch, Franzôsisch, Polnisch, oder Tschechisch). Im altsprachlichen Zweige (C) sind Latein und Griechisch die erste bzw. zweite Fremdsprache.
36 Lileraturfibel (“Eine erste Anleitung zur Beschâftigung mit Théorie und Praxis der Dichtung”), von Joachim G. Boeckh. (Berlin, 1952), S. 62.
37 Goethe und seine Zeit (Berlin, 1950), S. 346.