No CrossRef data available.
Article contents
Brockes Religion
Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
Extract
Das Problem der religiösen Anschauungen, die dem Irdischen Vergnügen von Barthold Heinrich Brockes zugrunde liegen, hat in der Forschung keineswegs die Beachtung gefunden, die es in Anbetracht der Tatsache verdient, daß dieses Werk vom ersten bis zum letzten Gedicht religiöse Bedeutung hat und ohne eine genaue Kenntnis der Religion seines Verfassers schlechthin unverständlich bleibt. Die bedeutsamste Spezialuntersuchung, die diesem Problem gewidmet ist, ist der bekannte Aufsatz von David Friedrich Strauß (1861),1 und die Schlußfolgerungen zu denen dieser große Streiter für religiose Aufklärung gelangte, werden auch heute noch häufig ohne weitere Untersuchung angenommen.2 Strauß sieht in Brockes einen entscheidenden Wegbereiter des Deismus und charakterisiert ihn als einen Denker, in dessen Werk sich der Sturm vorbereitete, “der das Gebäude des positiv christlichen Religionssystems so schonungslos wegzufegen Anstalt machte.” Daß dieses Resultat einigermaßen überraschend ist und jedenfalls nicht dem ersten Eindruck des Werkes entspricht, dessen ist sich Strauß sehr wohl bewußt, doch fühlt er sich seiner Sache auf Grund der folgenden fünf Beweise sicher. “Die ganze Brockes'sche Naturpoesie ist ein gereimter physico-theologischer Beweis,”3 und wenn auch Brockes die Offenbarung nicht völlig aufgibt, so ist sie doch tatsächlich überwunden, denn “wer die gesamte Natur als Offenbarung Gottes begreift, der braucht nur den Muth zu haben, sich zu gestehen was er denkt, um jede besondere Offenbarung als überflüßig zu erkennen … ”4 Als zweiten Grund führt Strauß die Toleranz des Dichters an, die ihn selbst gegenüber Atheïsten nicht verläßt;6 seine scharfe Kritik an Christen und ihrem Wandel6 wie seine Charakterisierung Gottes als “Weltgeistes”7 stellen zwei weitere Bekräftigungen seiner These dar, und die Tatsache, daß Reimarus den Dichter in seine sonst so ängstlich gehüteten theologischen Geheimnisse einweihte,8 setzt dem Ganzen gewißermaßen die Krone auf.
- Type
- Research Article
- Information
- Copyright
- Copyright © Modern Language Association of America, 1947
References
1 David Friedrich Strauß, Gesammelte Schriften (Bonn, 1876), ii, 1 ff.
2 Vgl. Hermann Hettner, Geschichte der deutscken Literatur im 18. Jh. (Leipzig, 1928), i, 204.
3 Strauß, l. c., ii, 4.
4 Ibid., 16.
5 Ibid., 9.
6 Ibid., 11 f.
7 Ibid., 12.
8 Ibid., 8.
9 Dieses Paradox führt zuweilen zu einer völligen Verkennung der wahren Bedeutung von Brockes. Man vergleiche Hettners Ausführungen (l. c., 201 ff.) der nur die wenigen, der Aufklärung entsprechenden Motive zu würdigen weiß, die sonstigen Elemente aber außer Acht läßt und daher Brockes verständnislos gegenüber steht.
10 Fritz von Manikowsky, Die Welt- und Lebensanschauung in dem “Irdischen Vergnügen in Gott” von Brockes, Diss. (Greifswald, 1914).
11 ii, 560.—Verweisungen ohne nähere Angaben beziehen sich auf das Iridische Vergnügen in Gott. Der erste Band ist nach der vierten Auflage, Hamburg, 1728, der zweite ebenfalls nach der vierten Auflage, Hamburg, 1739, zitiert. Die folgenden Ausführungen beschränken sich mit wenigen Ausnahmen auf die ersten beiden Bände, denn die Anschauungen, die Brockes hier zum Ausdruck bringt, mussen vom Standpunkte der weiteren Entwicklung als die Anschauungen von Brockes schlechthin gelten, da die späteren Bände nur geringe Verbreitung fanden und schon bei ihrem Erscheinen überholt waren. Die weltanschaulichen Abweichungen der späteren Bände sind im großen und ganzen unbedeutend und stammen im Wesentlichen aus einer zunehmenden Verbitterung des alternden Dichters, der sich zu Unrecht vernachlässigt glaubte. Der Einfluß von James Thomson, der in den späteren Band klar zutage tritt, beschränkt sich auf die Form und wirkt sich nicht auf Brockes' Weltanschauung aus.
12 i, 29, 38, 42, 43, etc.
13 iv, 145.
14 Vgl, Fritz von Manikowsky, l. c., S. 41.
15 i, 42 f.
16 i, 73.
17 i, 2.
18 i, 7.
19 v, 289.
20 i, 279, auch anderwärts wiederholt.
21 WA 21, 509.
22 WA 48, 201. Vgl. hierzu Franz Xaver Arnold, Zur Frage des Naturrechts bei Luther (München, 1937).
23 ii, Vorrede b 3.
24 ii, 50.
25 iii, 51.
26 i, 77.
27 Ibid.
28 Ibid.
29 ii, 46.
30 i, 295.
31 i, 3.
32 ii, 399.
33 ii, 547.
34 ii, 160.
35 ii, 487.
36 i, 428.
37 Vgl. Werner Elert, Morphologie des Luthertums (München, 1931), Bd. i, erstes Kapitel.
38 I, 411 f.
39 i, 42.
40 i, 183.
41 i, 173.
42 i, 78.
43 Ibid.
44 ii, Vorrede b3.
45 Zitiert nach der Ausgabe Leipzig, 1743. Weichmann zitiert nach der Ausgabe Leipzig, 1709, daher der Unterschied in der Paginierung.
46 Vom wakren Christenthum, S. 651 f.
47 Ibid., 652.
48 Ibid., 671.
49 ii, Vorrede b3.
50 Oben S. 8.
51 Wahres Christent, S. 672.
52 Ibid., S. 654 ff., 686 ff.
53 i, 118 ff.
54 W. Christ. S. 674.
55 i, 278.
56 W. Christ. S. 678.
57 i, 231.
58 W. Chr., S. 709.
59 i, 295 ff.
60 W. Chr., S. 758 auf der Rückseite des dort eingefügten Bildes.
61 Ibid., 761.
62 ii, 561.
63 Christian Scrivers Werk war mir nur in einem amerikanischem Auszug aus der englischen Uebersetzung zugänglich; Gotthold's Emblems (Boston, 1860). Aus diesem Grunde sind Verweisungen auf das Werk ausgelassen worden.
64 ii, Vorrede b3.
65 i, 19 f.
66 i, 510.
67 Vgl. hierzu Max Webers bekannten Aufsatz “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus” (Archiv. für Sozialwissenschaft, xx, 1 ff. und xxi, 1 ff.), und die ausgedehnte Literatur, die sich an seine Gedanken, sei es zur Förderung, sei es zur Widerlegung, anschließt, vor allem Ernst Troeltsch, Soziallehren im ersten Bande seiner Schriften.
68 i, 163 (Sperrung nicht im Original).
69 i, 225.
70 i, 166.
71 Eine Andeutung auf die Zeit vor dem Fall findet sich schon in ii, 166. Dann iii, 704; IV, 350, etc. Brockes blieb diesem Mythos bis in seine letzten Jahre treu; vgl. viii, 323.
72 Das 13. Stück des ersten Bandes. Für Brockes Autorschaft liegt kein äußerer Beweis vor, doch dürfte die weltanschauliche Uebereinstimmung hinreichen.
73 Vgl. das erste Buch Vom Wakren Chrislenthum, S. 106 bis 147. Siehe auch Karl Dunkmann, Die Lehre vom Beruf (Berlin, 1921), S. 97, der zu demselben Resultat kommt.
74 Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus (Bonn, 1884), ii, 39.
75 Ibid., ii, 262 f.
76 Vgl. insbesondere das Gedicht betitelt “Die Zufriedenheit,” ii, 260 ff., doch handelt es sich hier um Gedanken, die das ganze Werk durchziehen.
77 ii, 260, 261.
78 I, 406.
79 ii, 60.
80 Johannes Binkowski, Die Wertlehre des Duns Skotus (Berlin, 1936), S. 68. Duns Scotus ist mir nicht im Original bekannt, sodaß ich mich ganz auf die Angaben anderer verlassen mufite. Von den hier zitierten abgesehen wurden noch benutzt: C. R. Harris, Duns Scotus (Oxford, 1927), und Bernard Landry, Duns Scot (Paris, 1922).
81 Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus (Leipzig, 1900), S. 224.
82 Vgl. dazu P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie in Deutschland (Leipzig, 1921), S. 340 ff.
83 Im Vergleich mit dem 18. Jahrhundert besteht diese Behauptung zu Recht, trotz der verschiedenen neuscholastischen Bewegungen der Gegenwart.
84 Vgl. seine Rede “De Secta Nominalium” in seinen Orationes Selectae, Leipzig, 1737, S. 241 ff. Jakob Thomasius war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch wohl bekannt; Wolff erwähnt ihn häufig und das Universal Lexicon (Bd. 43, S. 1603-1608) wirdigt ihn ausführlich.
85 ii, Vorrede b3.
86 ii, 74.
87 i, 2.
88 ii, 263.
89 Oben S. 10; i, 411.
90 ii, 124 ff.
91 i, 479.
92 Ibid.
93 i, 425 ff., 463 ff., etc.
94 i, 292.
95 ii, 189.
96 i, 505.
97 Am deutlichsten kommt diese Tendenz im Patrioten zum Ausdruck; vgl. insbesondere die scharfe Formulierung im 58. Stück (ii, 45-56).
98 Diese Lehre bildet, wie gesagt, das Hauptthema der moralischen Wochenschriftendocb finden sich die entscheidenden Grundzüge dieser Weltanschauung schon bei Thoma, sius. Erübernimmt von Luther den Gedanken des servumarbitrium wie den Sündenpessimismus; vgl. die Ausübung de Sittenlehre (Halel, 1717), S. 464, wo es heißt: “alle Besserung / das ist, alle Vermeidung der Laster und Strebung nach Tugend ist vergebens.” In den Wochenschriften läßt sich dieser Sündenpessimismus ebenfalls nachweisen, doch ist die Verbindung mit den Reformatoren gelockert. Statt Sündhaftigkeit und Schuld gegenüber Gott heißt es hier einfach“ das Verderben der Menschen.”
99 Vgl. den Bericht, den Feordor Wohl, Hamburgs Lileraturhben (Leipzig, 1856), S. 18 ff. abdruckt.
100 Oben S. 2; ii, 560.
101 Man vergleiche hierzu: Otto Janssen, Nalurempfindung und Naturgefühl bei Brockes, Diss. (Bonn, 1907), der gerade “die Verwandlung der die Natur lediglich kopierenden Empfindung in das künsterlische Moment des Naturgefühles” bei Brockes nachweist (93). Janssen kommt zu dem Ergebnis: “Dieses (sc. Naturgefühl) aber sehen wir bei Brockes, wohl zagend noch, und durch manche Irrtümer verdunkelt, anheben, auf Grund einer neuen die Tradition durchbrechenden naiven Lust an der Erscheinung” (93 f.).
102 Wolff hat selber die innige Verbindung seiner Philosophie mit dem Realismus des Mittelalters, insbesondere mit Thomas von Aquino wiederholt betont; vgl. seine Nachricht von seinen eigenen Schriften (Frankfurt, 1726), S. 212-224, S. 583 ff.
103 Diese Verbindung zwischen Brockes und Leibniz ist im allgemeinen vorbehaltlos anerkannt worden, doch wird sie von Manikowsky (l. c., 41 ff. und 65 ff. bestritten. Manikowsky hat zweifellos recht, wenn er sich gegen Adalbert Schroeters Behauptung wendet, daß das Irdische Vergnügen einen “gereimten Kommentar zu Leibnizschen Theodizee” darstelle, aber er geht zu weit, wenn er Brockes Weltanschauung einseitig auf Shaftesbury zurückführen will. Für die prästabilierte Harmonie hatte Brockes nichts übrig, wie sein Gedicht vi, 679, beweist, aber manche getreue Leibnizianer war in dieser Hinsicht mit Brockes einer Meinung. Christian Wolff hatte sie noch mühselig auf recht erhalten; Gottsched hatte sich dagegen wieder zum influxus physicus bekannt. Brockes übernahm die Philosophie von Leibniz natürlich nicht in Bausch und Bogen und weicht besonders in religiösen Fragen deutlich von dem Philosophen ab, aber daß seine Anschauungen von Natur und Mensch durch Leibniz beeinflußt sind, scheint so evident, daß Manikowskys Gegengründe nicht genügende Beweiskraft besitzen. Eine andere Frage ist es, wie sich Brockes Nominalismus mit Leibniz verbinden läßt, denn hier liegt ein innerer Wilderspruch vor, den Brockes nor notdürftig dadurch ausgleicht, daß Leibnizsche Ideen meistens nur als Konjekturen vorgetragen werden; vgl. i, 417:
Es ist der Geister Thun und Stand
Uns allen gänzlich unbekannt.
Wer weiß, wie manche Geister-Schar,
Wie viele tausend um uns schweben …
104 Diese Formulierung deckt sich im Endergebnis mit den Ausführungen von Gervinus. Gegen den Ausdruck “Naturreligion” habe ich zwar Bedenken, aber daß das Irdische Vergnügen “wie ein feinster Anstoß zu den Anfechtungen der positiven Religionen in Deutschland” wirkte, entspricht den Ausführungen im obigen Text; vgl. G. G. Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur (Leipzig, 1842), iii, 553.