Eine kurze, allgemein verständliche Antwort auf die Frage ‚Was ist das Thomasevangelium?‘ könnte lauten: ‚Eine Sammlung von Aussprüchen, die Jesus zugeschrieben werden, wobei jede Einheit stereotyp beginnt mit „Jesus sagte: …“ oder „Die Jünger fragten: … Jesus sagte: …“‘ Die folgenden Ausführungen sind nun nicht als Anleitung zum small talk über das Thomasevangelium gedacht, aber sie möchten die scheinbar so stereotypen Redeeinleitungen etwas genauer unter die Lupe nehmen. Als Annäherung sei der Blick zunächst (1.) auf ähnliche Fragestellungen im Bereich der synoptischen Evangelien gerichtet. Dann werden (2.) diejenigen Fälle im Thomasevangelium (in der vollständig erhaltenen koptischen Version in NHC ii,2) betrachtet, in denen die Stereotypie der Redeeinleitungen aufgebrochen ist. Die Auswertung in Bezug auf die Kohäsion des Gesamttextes wird dann (3.) – wo möglich – durch den Vergleich zwischen der koptischen Version und den erhaltenen griechischen Fragmenten präzisiert. Abschließend (4.) werden die Ergebnisse gebündelt.
1. Redenstoff und Einleitungen
In der Erforschung der synoptischen Tradition hat sich schon seit Langem eine Beobachtung zu einer Regel verfestigt: Spruchgut wird relativ treu überliefert, bei Erzählgut nehmen sich die Träger der Überlieferung mehr Freiheit.Footnote 1 Das lässt sich auch auf die erzählenden Einleitungen zum Spruchgut anwenden. Zur Illustration sei auf die Seligpreisungen und ihre Einleitung in den beiden Versionen bei Matthäus und Lukas verwiesen (Tabelle 1). Die erste Seligpreisung ist ein Paradebeispiel dafür, wie man – sofern man die Zweiquellentheorie voraussetzt – aus den beiden Versionen Mt 5,3 und Lk 6,20b den Wortlaut der Seligpreisung in der gemeinsamen Quelle Q rekonstruieren kann.Footnote 2 Doch für die erzählende Redeeinleitung (Mt 5,1–2 par. Lk 6,20a) ist eben dies kaum möglich. Hier ist den beiden Versionen nur gemeinsam, dass ‚seine Jünger‘ irgendeine Rolle spielen, und dass, kenntlich durch das verbum dicendi λέγω, ein Redepart eingeleitet wird. Jede weitere Rekonstruktion ist notwendig spekulativ.Footnote 3
Eine Beobachtung ist für die folgenden Überlegungen wichtig: In den beiden Versionen wird nicht gesagt, wer der Sprecher ist. Eine eventuelle Rekonstruktion der Q-Vorlage hätte für die Identität des Sprechers keinen Anhaltspunkt. Innerhalb der durchkomponierten Großevangelien nach Matthäus und Lukas ist das aber kein Problem. Dort macht der Kontext hinreichend klar, dass Jesus der Sprecher der folgenden Rede ist, wenngleich die letzte ausdrückliche Nennung Jesu jeweils neun Verse bzw. mehr als eine Szene zurückliegt (Mt 4,17 und Lk 6,9.11). In beiden Evangelien wurde in den Szenen, die den Seligpreisungen vorausgehen,Footnote 4 Jesus als Protagonist nur durch Pronomina bezeichnet.
Das bedeutet aber, dass diese beiden Evangelien ein hohes Maß an erzählerischer Kohäsion aufweisen.Footnote 5 Die Information über den Sprecher, die in Mt 5,1–2 und Lk 6,20 fehlt, lässt sich ohne Schwierigkeit aus dem Vorhergehenden ergänzen, weil dazwischen kein Subjektwechsel angezeigt ist. Die Redeeinleitungen der ‚programmatischen Rede Jesu‘ im Matthäus- und Lukasevangelium (vielleicht auch schon in Q?) sind damit jeweils integraler Bestandteil eines größeren Erzählzusammenhangs; außerhalb eines erzählerischen Gefüges sind sie nicht gut zu überliefern.Footnote 6 Wenn man sich nun im Rahmen der Zweiquellentheorie bewegt, kann man diesen Befund auch auf Q übertragen: Von den Einleitungen der Reden in Q ist nicht viel zu rekonstruieren, und es könnte sein, dass diese Reden in Q tatsächlich nur sehr knappe Einleitungen hatten – vielleicht sogar ohne eine ausdrückliche Nennung des Sprechers. Das ist aber kein Mangel, sondern ein Zeichen für ausgeprägte Kohäsion: Die Reden und Redestücke werden nicht als separate Einheiten aufgefasst, sondern als Teile eines durchkomponierten (erzählerischen) Ganzen, in das sie sich einfügen.Footnote 7
2. Unvollständige Redeeinleitungen im Thomasevangelium
In dieser Studie soll keineswegs versucht werden, Q und das Thomasevangelium gattungskritisch über einen Kamm zu scheren. Insofern in den ersten Kapiteln von Q längere Redekompositionen (am deutlichsten Q 6,20–49; 7,18–35) begegnen, unterscheidet sich Q sogar fundamental vom Thomasevangelium mit seinen zumeist kurz gefassten Apophthegmen. Im Thomasevangelium sind die einzelnen Logien (zumeist als Apophthegmen zu bezeichnen) im Allgemeinen in sich geschlossene Einheiten, die – jedenfalls unter produktionsästhetischer Fragestellung – jeweils für sich zu analysieren sind.Footnote 8 Im Zuge der Überlieferung konnten sie sogar ihren Platz innerhalb der Sammlung ändern.Footnote 9 Für die locker arrangierte Sammlung,Footnote 10 die uns im Thomasevangelium begegnet, hat Uwe-Karsten Plisch die treffende Vorstellung einer ‚Box voller Ostraka‘ eingeführt.Footnote 11 Gerade die stereotypen Redeeinleitungen ‚Jesus sagte: …‘ (ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦) befördern die Vorstellung von einem Logion als in sich geschlossener Einheit, deren nunmehriger Platz im Gesamtarrangement der Sammlung nicht der einzig mögliche ist.Footnote 12
2.1 Kleine Logiencluster
Im Folgenden soll aber der Blick auf einige Logien im Thomasevangelium gelenkt werden, in denen die Stereotypie der Redeeinleitungen aufgebrochen wird; Textgrundlage ist in diesem Abschnitt die koptische Übersetzung in NHC ii,2.
EvThom 6 ist noch relativ unproblematisch: Das Logion beginnt mit ‚Seine Jünger fragten ihn: …‘ Wer mit ‚ihn‘ gemeint ist, wird aber durch die Einleitung der Antwort mit ‚Jesus sagte: …‘ sofort klar, und auch das vorausgehende Logion 5 hat mit ‚Jesus sagte: …‘ begonnen.Footnote 13 Nachdem auch EvThom 7 mit einem unauffälligen ‚Jesus sagte: …‘ (ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦) eingeleitet wurde, schließt sich EvThom 8 aber mit einem knappen ‚Und er sagte: …‘ (ⲁⲩⲱ ⲡⲉϫⲁϥ) an. Die formale Verbindung der beiden Logien ist also sehr eng, aber inhaltlich haben das ‚Löwen-Logion‘ EvThom 7 und das Gleichnis vom klugen Fischer EvThom 8 wenig miteinander zu tun. Sollte hier, um bei Plischs Bild zu bleiben (s.o. Anm. 11), ein Exzerptor einmal zwei Logien auf ein Ostrakon geschrieben haben? Wenn es so gewesen sein sollte, dann hätte diese Unregelmäßigkeit bei der Kompilation der gesamten Sammlung nicht gestört.
Der nächste Fall ist die Folge von EvThom 23 und EvThom 24. Hier beginnt das kurze Logion 23 mit dem stereotypen ‚Jesus sagte: …‘ (ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦), während der anschließende Dialog EvThom 24 überhaupt keinen Sprecher nennt: ‚Seine Jünger sagten (ⲡⲉϫⲉ ⲛⲉϥⲙⲁⲑⲏⲧⲏⲥ): … Er sagte zu ihnen (ⲡⲉϫⲁϥ ⲛⲁⲩ): …‘ Eine sachliche Verbindung zwischen den beiden Logien ist nicht ersichtlich, falls nicht die Frage in EvThom 24 als völlig falsch gestellt erwiesen werden soll.Footnote 14 So könnte es sein, dass auch hier zwei verschiedene Exzerpte auf ein Ostrakon geschrieben wurden, oder dass die Tradenten diese Sammlung im Zuge von Abschriften und Übersetzung als immer kohärenter empfanden, so dass die Nennung des Sprechers wegfallen konnte.
Etwas anders liegt der Fall von EvThom 42–43. Logion 42 (‚Jesus sagte: Werdet Vorübergehende‘) hat eine gewisse Berühmtheit erlangt als der kürzeste Spruch im Thomasevangelium. Daran schließt sich der kleine Dialog EvThom 43 an, in dem die Fragesteller unbestimmt bleiben und die Antwort überhaupt keine Redeeinleitung besitzt.Footnote 15 Anders als bei den Logien 23 und 24, ist in diesem Fall durchaus ein Zusammenhang zwischen den beiden Logien zu sehen. Die Frage der Jünger am Anfang von EvThom 43 bezieht sich auf ‚diese Dinge‘ (ⲛ̄ⲛⲁⲓ̈), ohne dass aus dem Logion selbst ersichtlich wäre, worum es sich dabei handelt. Gewiss könnte man auch vermuten, dass die Bezugsgrße dieses Demonstrativpronomens bei der Erstellung des Exzerpts verloren gegangen sei. Nicht weniger plausibel erscheint aber die Annahme, dass sich das Demonstrativpronomen auf das vorausgehende Logion EvThom 42 bezieht.Footnote 16 Dann stellen sich die beiden Logien zusammen als ein kurzes Gespräch dar:Footnote 17 Jesus konfrontiert seine Jünger mit dem Appell zu einer asketisch-weltverneinenden Haltung; daraufhin stellen diese seine Autorität massiv in Frage, aber Jesu Replik geht darauf wiederum nicht ein. Dass Jesus und die Fragesteller aneinander vorbeireden, kommt in mehreren Logien des Thomasevangeliums vor. Ein Beispiel wäre das oben besprochene Logion 24 (die Jünger fragen nach dem Ort, an dem Jesus sich befindet, doch dieser doziert über das Licht im Inneren des Licht-Menschen). Ebenso könnte man auf EvThom 91 verweisen (s.u.: Die Jünger fragen Jesus nach seiner Identität, er spricht über ihre Unfähigkeit, das Nächstliegende zu erkennen). April DeConick hat diese kleinen Dialoge als Ergebnisse eines längeren Wachstumsprozesses gedeutet, in dem traditionelles Jesuswort mit einer Frage aus späterer Zeit (etwa um 100 n. Chr.) verknüpft wurde.Footnote 18 Im Ergebnis stellen die Jünger eine ‚moderne‘ Frage, die Jesus mit einer traditionellen Antwort abfertigt. Als ein Dialog von geringer Stringenz wäre der Komplex EvThom 42–43 also nicht einzigartig. Mit dieser Sichtweise lässt sich auch eine Erklärung dafür gewinnen, warum in EvThom 43 Jesus als Befragter und als Sprecher nicht explizit genannt wird. Wenn man also in dieser Nicht-Nennung Jesu ein Problem sehen will, dann löst sich dieses Problem dadurch, dass die Einbindung in einen größeren erzählerischen Kontext (den Dialog EvThom 42–43) diese Leerstelle auffüllt.
Ein auffälliges Cluster ist EvThom 50–53. In dieser Reihe von Logien wird Jesus nur ganz am Anfang von EvThom 50 genannt; die folgenden Logien beschränken sich auf pronominale Wendungen:
EvThom 50: ‚Jesus sagte (ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦): …‘
EvThom 51: ‚Seine Jünger sagten zu ihm (ⲡⲉϫⲁⲩ ⲛⲁϥ ⲛ̄ϭⲓ ⲛⲉϥⲙⲁⲑⲏⲧⲏⲥ): … Er sagte zu ihnen (ⲡⲉϫⲁϥ ⲛⲁⲩ): …‘
EvThom 52: ‚Seine Jünger sagten zu ihm (ⲡⲉϫⲁⲩ ⲛⲁϥ ⲛ̄ϭⲓ ⲛⲉϥⲙⲁⲑⲏⲧⲏⲥ): … Er sagte zu ihnen (ⲡⲉϫⲁϥ ⲛⲁⲩ): …‘
EvThom 53: ‚Seine Jünger sagten zu ihm (ⲡⲉϫⲁⲩ ⲛⲁϥ ⲛ̄ϭⲓ ⲛⲉϥⲙⲁⲑⲏⲧⲏⲥ): … Er sagte zu ihnen (ⲡⲉϫⲁϥ ⲛⲁⲩ): …‘
Stephen Patterson vermutete, dass diese vier Logien schon vor der Aufnahme in das Thomasevangelium einen zusammenhängenden Dialog gebildet haben könnten.Footnote 19 Das wäre formal möglich, stößt jedoch auf die inhaltliche Schwierigkeit, dass dieser Dialog kein durchgehendes Thema hat.Footnote 20 Während EvThom 50 die Herkunft der Jünger Jesu aus dem göttlichen Bereich zum Gegenstand hat (und damit sehr gut an EvThom 49 anschließt), handelt der kurze Dialog EvThom 51 von der Frage nach der ‚Ruhe‘ (ⲁⲛⲁⲡⲁⲩⲥⲓⲥ)Footnote 21 der Toten und von präsentischer Eschatologie. Dagegen drehen sich EvThom 52–53 um Fragen der Kontinuität mit dem Judentum: EvThom 52 problematisiert die (‚christliche‘) Rezeption der (‚alttestamentlichen‘) Prophetie, während EvThom 53 mit einem ziemlich platten Topos Sinn und Nutzen der Beschneidung in Frage stellt. Trotz der inhaltlichen Heterogenität wurde diese Reihe von Logien aber spätestens in der koptischen Version, die heute in NHC ii,2 vorliegt, als einigermaßen zusammenhängend wahrgenommen. Vermutlich erweckte die formale Parallelität dieser dialogisch aufgebauten Logien zunehmend den Eindruck von Kohärenz, so dass die Abschreiber und/oder Übersetzer es nicht mehr nötig fanden, in jedem Logion Jesus als Sprecher zu nennen. Erst in EvThom 54, einem einzelnen Aphorismus ohne Dialogelemente, wird Jesus wieder explizit genannt. Für die einzelnen Logien des Clusters EvThom 50–53 scheint also die strukturelle Parallelität ein hinreichendes Kohärenzsignal gewesen zu sein. Die daraus (vermutlich) folgende Auslassung des Sprechers gibt der Sammlung, die wir Thomasevangelium nennen, in diesem Bereich wiederum stärkere Kohäsion. Das Thomasevangelium ist an dieser Stelle nicht (mehr) nur eine Liste von isolierten Einzellogien, sondern stellt sich als ein zusammenhängendes Ganzes dar.Footnote 22
EvThom 60 ist, für sich genommen, mangelhaft eingeleitet: Die Exposition setzt völlig unvermittelt ein. Nach dem handschriftlichen Befund in NHC ii 43,12–13 muss man per Konjektur ein Verb der Wahrnehmung ergänzen,Footnote 23 wobei offen bleibt, ob dies im Singular (ⲁϥⲛⲁⲩ – nur Jesus sieht den Samaritaner mit seinem Lamm)Footnote 24 oder im Plural (ⲁⲩⲛⲁⲩ – Jesus und die Jünger sehen den Samaritaner mit seinem Lamm)Footnote 25 vorzustellen ist. Dass es sich um Jesus handelt, geht aber aus dem Logion selbst überhaupt nicht hervor. Nur durch das vorausgehende Logion 59 (Jesus spricht zu einer Mehrzahl von Hörern) bzw. durch den Charakter des Thomasevangeliums im Ganzen erschließt sich, dass Jesus der Sprecher ist. Auch dieses Logion, das eine – für die Verhältnisse des Thomasevangeliums – relativ elaborierte Erzählung bietet, ist weist also in seiner erhaltenen Gestalt Lücken auf, die sich nur durch die Einbindung in den Kontext der Sammlung auffüllen lassen. Es wäre aber auch denkbar, dass das weggefallene Prädikat des Einleitungssatzes mehr umfasste als nur ein Verb der Wahrnehmung, dann wäre die Kohäsion des Logions mit dem Kontext anders zu bestimmen. Diese Überlegung führt aber in das Reich der Spekulation, die vom handschriftlichen Textbefund nicht gedeckt ist.
EvThom 65 ist das dritte Logion in einer Reihe von drei Parabeln, die jeweils Parallelen in den synoptischen Evangelien haben. Nach dem Gleichnis vom törichten Reichen (EvThom 63 par. Lk 12,16–21) und dem Gleichnis vom Gastmahl (EvThom 64 parr. Mt 22,1–14; Lk 14,15–24) findet man in EvThom 65 das Gleichnis von den bösen Winzern (parr. Mk 12,1–9; Mt 21,33–41; Lk 20,9–16). Anders als die beiden vorausgehenden Logien, beginnt es nicht mit ‚Jesus sagte‘ (ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦), sondern mit einem einfachen ‚Er sagte‘ (ⲡⲉϫⲁϥ). Auch dieses Logion hätte, wenn es für sich allein umlaufen würde, einen erheblichen Mangel, da aus ihm selbst nicht hervorgeht, wer der Gleichniserzähler ist. So wie EvThom 65 heute steht, ist das Logion also auf den umgebenden Kontext, näherhin auf das vorausgehende Logion 64, angewiesen, um als ein Gleichnis Jesu erkennbar zu sein. Die Verbindung mit dem vorausgehenden Logion bzw. mit den vorausgehenden Logien ist auch inhaltlich stark ausgeprägt, da es sich bei EvThom 63–65 um drei längere Gleichnisse handeln die jeweils mit ‚Ein Mensch hatte…‘ (ⲛⲉⲩⲛ̄ ⲟⲩⲣⲱⲙⲉ bzw. ⲟⲩⲣⲱⲙⲉ (…) ⲛⲉⲩⲛ̄ⲧⲁϥ) beginnen. Allerdings fällt auch auf, dass dieses Logion auch keine Anzeichen zu enger Verflechtung mit EvThom 64 zeigt: Die Inquit-Formel beginnt nicht mit einer Konjunktion wie ⲁⲩⲱ, wie etwa in EvThom 8 (s.o.). Wir haben also ein durchaus eigenständiges Logion vor uns, das aber in seiner jetzigen Gestalt als Teil eines größeren (erzählerischen) Zusammenhangs gestaltet ist.
EvThom 72 ist wieder eine kleine Szene, die aber durchweg ohne eine ausdrückliche Nennung Jesu auskommt. Am Anfang des Logions ist der Papyrus zwar beschädigt, aber das beeinträchtigt nicht den Befund, der für diese Untersuchung von Interesse ist: ‚[Ein Mann sagte] zu ihm:Footnote 26 … Er sagte zu ihm: … Er wandte sich zu seinen Jüngern, er sagte zu ihnen: …‘ Wieder ist nur aus dem vorhergehenden Logion 71 zu erschließen, wer ‚Er‘ ist. Eine inhaltliche Verbindung zu EvThom 71, der ‚thomanischen‘ Version des ‚Tempellogions‘ (Mt 26,61; 14,57–8; Joh 2,19; Apg 6,13–14) ist indes nicht ersichtlich. Es geht also nicht gut an, EvThom 71–72 als einen zusammenhängenden Dialog aufzufassen (wie im Falle von EvThom 42–43, s.o.). Eher wird man an ein narratives Setting wie den Aufenthalt Jesu im Tempel nach Mk 11,27–12,44 (parr. Mt 21,23–22,46; Lk 20,1–21,4) denken, oder an ein literarisches Gefüge wie den lukanischen ‚Reisebericht‘ (Lk 9,51–19,27, s.u. 3.1), in dem vielfältiges Spruchgut und auch kleine Dialoge Platz finden. Formal gesehen, bilden die Logien 71 und 72 zusammen eine kleine Erzählung. Die Leerstelle in EvThom 72 schafft Kohäsion.
EvThom 74 ist hingegen das zweite Glied in einer Reihe von drei Aphorismen. Anders als die beiden umgebenden Logien, die mit ⲡⲉϫⲉ ⲓⲥ︦ (‚Jesus sagte‘) beginnen, steht am Anfang dieses Logions nur die pronominale Inquit-Formel ⲡⲉϫⲁϥ (‚Er sagte’). Diese Aneinanderreihung lässt sich nicht so leicht als Erzählung verstehen. Eher wird man die unterschiedlichen Inquit-Formeln in der Reihe als gewollte Variation verstehen, oder vielleicht als Ermüdungserscheinung eines Tradenten. Dass dies ohne Schaden geschehen konnte, zeigt aber, dass EvThom 74, zumindest auf der Ebene von NHC ii,2, schon fest in die Sammlung eingebunden war.
EvThom 79 ist ein kleiner Dialog, der dadurch erzählerische Konkretheit gewinnt, dass er ‚in der Menge‘ situiert ist.Footnote 27 Wiederum sind aber die Gesprächspartner anonym: ‚Eine Frau sagte zu ihm in der Menge (ⲡⲉϫⲉ ⲟⲩⲥϩⲓⲙ[ⲉ] ⲛⲁϥ ϩⲙ̄ ⲡⲙⲏϣⲉ): … Er sagte zu ihr (ⲡⲉϫⲁϥ ⲛⲁ[ⲥ]): …‘ Eine erzählerische Verbindung zum vorausgehenden Logion 78 (Kommentar über Johannes den Täufer) ist denkbar, da sich EvThom 78 an eine Mehrzahl von Hörern richtet, die man in der Rezeption des Thomasevangeliums im Ganzen mit der ‚Menge‘ von EvThom 79 identifizieren könnte. Die inhaltliche Verbindung ist indes nicht sonderlich stringent. Die Leerstelle in EvThom 79 schafft aber auch in diesem Fall Kohäsion und gibt dem Logion eine erzählerische Situation, die es aus sich selbst heraus nicht hätte.
Der Dialog EvThom 91 weist formal eine große Ähnlichkeit mit EvThom 24 auf (s.o.):Footnote 28 ‚Sie sagten zu ihm: … Er sagte zu ihnen: …‘ Dass der Befragte Jesus ist, muss man wieder aus dem vorausgehenden Logion 90 erschließen, wer ‚sie‘ sind, bleibt im Dunkeln. Auch inhaltlich erinnert dieser Dialog an EvThom 24: ‚Sie‘ fragen Jesus in einer Weise, die an das Johannesevangelium erinnert, nach seiner Identität, Jesus geht auf die Frage nicht ein, sondern wirft ihnen vor, das Nächstliegende (bzw. den Nächstliegenden) nicht erkennen zu können. Allerdings ist in diesem Fall die inhaltliche Verbindung zum vorausgehenden Logion 90 nicht ganz unplausibel. Als ein zusammenhängender Dialog gelesen, wäre EvThom 90–91 vergleichbar mit EvThom 42–43. Wieder zeigt sich, dass die heute etablierte Abgrenzung der Logien nicht die einzig mögliche ist. Die Leerstelle in EvThom 91 lässt sich gut als Kohäsionssignal für eine sinnvolle Einheit EvThom 90–91 verstehen.
In EvThom 93 fehlt die Redeeinleitung ganz. Das kann einfach ein Lapsus in der Textüberlieferung sein (anders als bei EvThom 27 fehlt hier die griechische Version als Kontrollinstanz), aber es kann auch ein Kohäsionssignal für ein Cluster von Logien sein, vergleichbar mit Lk 12,33–4.58–9; 16,18.19–31; 17,3–4.7–10; auch dort stehen inhaltlich selbständige Logien ohne Redeeinleitungen. Eine inhaltliche Verbindung mit dem vorausgehenden Logion 92 ist jedenfalls nicht ersichtlich.
EvThom 99 hängt formal von EvThom 98 ab, aber wieder ergeben die beiden Logien zusammen keinen stringenten Dialog, und sie waren wohl nicht ursprünglich aufeinander bezogen. Dennoch lassen sich die beiden Logien auf der Rezeptionsebene des Thomasevangeliums im Ganzen als eine kleine Erzählung verstehen:Footnote 29 Der Hinweis der Jünger am Anfang von EvThom 99 bricht dann das Gleichnis vom Meuchelmörder (EvThom 98) ab und bringt Jesus zu einem Themenwechsel: Nun geht es um die wahren Verwandten Jesu. Hier schafft die Leerstelle in EvThom 99 sogar eine Art von zusammenhängender Erzählung.
In EvThom 101 fehlt wiederum die Redeeinleitung völlig. Auch hier gilt, was oben zu EvThom 93 gesagt wurde.
Schließlich sei noch EvThom 113 besprochen, ein kleiner Dialog, in dem die narrative Einleitung der Jüngerfrage den Befragten nur mit Pronomina bezeichnet und die Antwort ohne Redeeinleitung unvermittelt einsetzt. Dass es Jesus ist, der hier eine Frage beantwortet, muss man aus dem vorausgehenden Logion EvThom 112 erschließen.Footnote 30 Von der Frage nach dem inhaltlichen Zusammenhang der beiden Logien abgesehen, bilden sie formal einen durchgehenden Gesprächsgang von ähnlicher Struktur wie EvThom 42–43 (s.o.). EvThom 113 könnte aber sogar einen Schlussstein der Sammlung darstellen: Nach Plisch bildet das Logion zusammen mit EvThom 3 eine thematische Klammer um das ganze Thomasevangelium;Footnote 31 das könnte dafür sprechen, dass es erst spät in die Sammlung kam oder vielleicht sogar erst für seine jetzige Position im Thomasevangelium formuliert wurde. Sollte das zutreffen, wäre die ausgeprägte Kohäsion mit dem vorausgehenden Logion 112 nicht verwunderlich.
2.2 Erzähltheoretische Folgerungen
Dadurch, dass in einigen Logien Jesus als Sprecher nicht genannt wird, entstehen also Zusammenhänge, die über das einzelne Logion hinausreichen und möglicherweise sogar neue Sinnpotenziale erschließen. Die so entstehenden Cluster von Logien lassen sich dann sogar formal als kleine Erzählungen auffassen. Dieser Gedanke mag zunächst etwas exzentrisch wirken, doch auf den zweiten Blick zeigt sich seine Berechtigung. Dabei sind, wie im Falle von Q,Footnote 32 auch im Thomasevangelium drei Ebenen zu unterscheiden. (1) Auf der Mikroebene: Erzählungen innerhalb der wörtlichen Rede. Das betrifft vor allem die Parabeln (EvThom 8; 9; 57; 63; 64; 65; 76; 96; 97; 98; 107; 109),Footnote 33 aber auch die Ich-Erzählung in EvThom 28 fällt in diese Kategorie. (2) Auf der Meso-Ebene: Logien als Erzählungen. Das offensichtlichste Beispiel ist EvThom 13, wo nicht nur Dialog, sondern auch Bewegung erzählt wird; auch EvThom 22; 60; 72; 100 sind hier zu nennen.Footnote 34 Daneben sind aber alle Inquit-Formeln kleine Erzählungen, auch wenn die erzählte Handlung ‚nur‘ in einem Sprechakt oder allenfalls einem kurzen Dialog besteht (s.u.).Footnote 35 (3) Angesichts des Befundes auf der Meso-Ebene ist auch auf der Makro-Ebene zu fragen, ob sich möglicherweise das Thomasevangelium im Ganzen für eine narratologische Betrachtung eignen könnte. Das wäre dann der Fall, wenn sich für die Sammlung als ganze eine die einzelnen Logien übergreifende story namhaft machen ließe, also eine erzählerische Linie, die den Platz, den die einzelnen Logien einnehmen, als notwendig erweist (im Unterschied zu einem zufälligen Arrangement, als welches das Thomasevangelium auf den ersten Blick erscheint). Es sei bereits vorweggenommen, dass dies für das Thomasevangelium in seiner uns heute zugänglichen Gestalt nicht gut zu erweisen ist. Wohl aber könnten einzelne Gruppen von Logien ein erzählerisches Gefüge bilden, insofern sie den Anspruch haben, einen längeren Dialog wiederzugeben. Man denke etwa an EvThom 50–53 oder EvThom 98–99.
Für diese Untersuchung ist vor allem die Meso-Ebene, also die erzählerische Rahmung der einzelnen Logien, von Interesse. Hier wird zwar an Handlung nur erzählt, dass Jesus etwas sagt und manchmal die Jünger reagieren oder Fragen stellen, doch auch diese Sprechakte sind, technisch gesehen, Veränderungen von Zuständen innerhalb einer vom Erzähler konstruierten Welt und erfüllen damit ein wichtiges Kriterium von Narrativität.Footnote 36 Bedeutsamer ist aber ein anderer Aspekt in der Bestimmung eines Textes als Erzählung. In den Inquit-Formeln meldet sich ein Erzähler zu Wort, und dadurch schafft eine (literarische) Erzählung Mittelbarkeit:Footnote 37 Der Erzähler platziert sich zwischen den Rezipienten und dem erzählten Ereignis, schafft damit Distanz zwischen beiden und macht es so möglich, das erzählte Ereignis als ein zeitlich oder räumlich entferntes Geschehen einzuordnen – z.B. als ein Ereignis der Vergangenheit. Im Blick auf die einleitenden Inquit-Formeln des Thomasevangeliums lässt sich das noch präziser fassen: Diese knappen Erzählstücke kontextualisieren die Logien mit Bezug auf Jesus als die maßgebliche Bezugsgestalt, also in einem grundlegenden Vergangenheitsbezug. Das geschieht bereits programmatisch im Prolog des Thomasevangeliums, der (im Griechischen wie im Koptischen) in einem Relativsatz die Logien als in der Vergangenheit von Jesus gesprochene einführt.Footnote 38 Auch die Redeeinleitungen der einzelnen Logien (insofern sie innerhalb des Thomasevangeliums unter dem hermeneutischen Vorzeichen des Prologs stehen) stellen auf diese Weise zeitliche und hermeneutische Distanz her.Footnote 39 Die Rezeption der Logien wird damit zu einem Akt des Erinnerns.Footnote 40 Die so hergestellte Distanz gibt den Logien aber auch hermeneutischen Mehrwert: Wenn eine Redeeinleitung behauptet, dass Jesus einen bestimmten Ausspruch getätigt haben soll, dann situiert sie diesen Ausspruch in Raum und Zeit und bestimmt zugleich die Rezeptionshaltung. Umgekehrt tragen die Jesus zugeschriebenen Aussprüche zu einem bestimmten Bild von Jesus bei. Wenn aber eine ganze Reihe von Logien mit diesem Vergangenheitsbezug versehen wird und durch die nur einmalige Nennung des Sprechers ein höheres Maß an innerer Kohäsion erhält, wird aus der Aneinanderreihung von Sprüchen eine veritable Erzählung über ein längeres Gespräch. Ob dieses Gespräch auf der inhaltlichen Ebene sinnvoll und zielführend ist, bleibt bei diesen formalen Überlegungen zunächst außer Betracht.
2.3 Zwischenergebnis
Auch wenn es zunächst sonderbar erscheint, das Thomasevangelium mit narratologischem Instrumentarium zu betrachten, eröffnet diese Betrachtungsweise doch neue Horizonte. Allgemein gilt, dass die Redeeinleitungen der Logien formal jeweils kleine Erzählstücke über einen Sprechakt sind. Als solche stellen sie erzählerische Mittelbarkeit her und schaffen damit Distanz zwischen dem jeweiligen Logion und den Rezipienten. Das Logion wird damit zu einem Ereignis der Vergangenheit, die Rezeption zu einem Akt des Erinnerns. Das gilt aber nicht nur für die Ebene der einzelnen Logien, sondern auch für die Cluster von Logien, die im Thomasevangelium dadurch entstanden sind, dass in einigen Logien Jesus als Sprecher nicht genannt ist und diese Information aus dem Kontext eingetragen werden muss. Hier bildet nicht nur das einzelne Logion eine Erzähleinheit, sondern das ganze Cluster hat durch die Nicht-Nennung Jesu in einem oder mehreren Logien an Kohäsion gewonnen und präsentiert sich formal als eine mehrere Logien umfassende Erzählung, vergleichbar mit einzelnen Passagen im ‚Reisebericht‘ des Lukasevangeliums (s.u. 3.1).
3. Kleine Unterschiede zwischen den griechischen Fragmenten und der koptischen Übersetzung
In den bislang angestellten Überlegungen klang schon verschiedentlich die Vorstellung einer Entwicklung an, so dass die Logien bzw. das Thomasevangelium als Ganzes im Lauf der Zeit ein höheres Maß an Kohäsion erlangt hätte. Das ist zunächst nur ein plausibles Denkmodell, doch es stellt sich die Frage, ob dafür auch harte textliche Belege namhaft zu machen sind. In der Tat sind einige Logien des Thomasevangeliums nicht nur in der koptischen Übersetzung von NHC ii,2 überliefert, sondern auch in drei griechischen Papyrusfragmenten (P.Oxy. 1; 654; 655). In den meisten Fällen sind zwar die Einleitungsformeln, was die Nennung des Sprechers angeht, im Griechischen und im Koptischen gleich formuliert, doch in zwei Fällen gibt es Abweichungen.
3.1 EvThom 27
EvThom 27 hat in der griechischen Version (P.Oxy. 1,4–11) eine Redeeinleitung, in der Jesus als Sprecher genannt wird: λέγɛι Ἰ(ησου)ς⋅ ἐὰν μὴ νηστɛύσηται τὸν κόσμον, … Die koptische Version des Logions (NHC ii 38,17–20) hat hingegen überhaupt keine Redeeinleitung (Tabelle 2). Man könnte nun das Zustandekommen der griechischen Version als eine Standardisierung erklären: In P.Oxy. 1 hat das Logion eine Gestalt, die man für das Thomasevangelium als ‚normal‘ bezeichnen kann. Dieser Erklärungsansatz gewinnt noch an Plausibilität, wenn man sich, wie von Plisch vorgeschlagen (s.o. Anm. 11), die Sammlung der Logien zunächst als eine Zusammenstellung von Ostraka vorstellt. Nicht minder plausibel ist aber die Vorstellung, dass die Redeeinleitung von EvThom 27 im Zuge der Abschreib- und Übersetzungsvorgänge, die zur Niederschrift in NHC ii,2 geführt haben, weggefallen ist. Auszuschließen ist, dass EvThom 27 in NHC ii,2 einfach als Fortsetzung von EvThom 26 aufgefasst wurde,Footnote 41 denn EvThom 26 richtet sich – im Griechischen wie im Koptischen – an einen Adressaten im Singular, während EvThom 27 an Adressaten im Plural gesprochen ist. EvThom 27 ist mithin als eine distinkte Einheit zu betrachten, die eben, im Unterschied zu den meisten anderen Logien des Thomasevangeliums, keine Einleitung hat.Footnote 42 Dass es aber in der frühchristlichen Evangelienliteratur akzeptabel war, einzelne Elemente einer Spruchsammlung ohne situierende Redeeinleitung zu überliefern, zeigt der ‚Reisebericht‘ des Lukasevangeliums (Lk 9,51–19,27), der über weite Strecken formal dem Thomasevangelium ähnelt. Wie im Thomasevangelium haben hier die meisten Einheiten eine – mehr oder weniger ausgeführte – Redeeinleitung, aber einzelne Einheiten schließen abrupt an die vorhergehende Einheit an: Lk 12,33–4.58–9; 16,18.19–31; 17,3–4.7–10. Trotz dieser Abruptheit dürften die genannten Logien im Lukasevangelium als Teile eines größeren Ganzen, etwa einer Lehrrede, aufgefasst sein, wenngleich der formale Zusammenhang sich eher holprig darstellt. Für EvThom 27 (wie auch die anderen in Anm. 41 besprochenen Logien) bedeutet das: Eine Redeeinleitung ist nicht notwendig, wenn der narrative Zusammenhang genügend Anhaltspunkte bietet, um Kohärenz zu erkennen.
Bislang stehen sich also zwei Erklärungsmodelle des Befundes von EvThom 27 gegenüber, und die Kommentatoren neigen zur Zurückhaltung im Urteil.Footnote 43 Ein Lösungsansatz könnte aber in dem καί liegen, das in der griechischen Version zwischen den beiden Hälften des Logions steht, aber im Koptischen kein Äquivalent hat. Wie in EvThom 3 lässt sich diese Konjunktion in der griechischen Version als Verknüpfung zweier ursprünglich eigenständiger Sprüche verstehen.Footnote 44 Demnach müsste man EvThom 27 nach P.Oxy. 1,4–11 folgendermaßen wiedergeben:
Jesus sagt: ‚Wenn ihr nicht die Welt fastet, werdet ihr gewiss nicht das Königtum Gottes finden‘ und: ‚Wenn ihr nicht den Sabbat als Sabbat haltet, werdet ihr nicht den Vater sehen.‘Footnote 45
Wenn diese Interpretation des καί stichhaltig ist, dann ist es wahrscheinlicher, dass die beiden ursprünglich eigenständigen Sprüche des griechischen Logions in der koptischen Übersetzung zu einem zusammenhängenden Ganzen gemacht wurden. Die umgekehrte Annahme, wonach ein Tradent aus dem ursprünglich kohärenten Logion 27 zwei durch καί verbundene Einzelsprüche gemacht hätte, erscheint dem gegenüber deutlich komplizierter und unwahrscheinlich.
Also: Ausweislich von EvThom 27 lässt sich feststellen, dass das griechische Fragment P.Oxy. 1 gegenüber der koptischen Version in NHC ii,2 eine weniger kohärente Form des Thomasevangeliums bietet. Das einzelne Logion ist in P.Oxy. 1 (noch) stärker als eigenständige Einheit profiliert. Im Zuge der weiteren Textüberlieferung und Übersetzung wurde der übergreifende Zusammenhang stärker.
3.2 EvThom 37
Etwas weniger kompliziert ist der andere Fall, EvThom 37 (Tabelle 3). Hier ist zwar das griechische Papyrusfragment (P.Oxy. 655, col. i 17–col. ii 1) so beschädigt, dass die zweite Hälfte des Logions fast völlig fehlt,Footnote 46 für die hier interessierenden Passagen sind jedoch beide Versionen des Logions erhalten, und der erhaltene Textbestand erlaubt allemal, die beiden handschriftlichen Passagen ein und demselben Text zuzuordnen.
P.Oxy. 655 kann aber als Textzeuge für das Thomasevangelium problematisiert werden:Footnote 47 Die dort in col. i,1–17 gebotene Parallele zu EvThom 36 (koptisch NHC ii 39,24–7) enthält zusätzlich das Wort von den Raben und den Lilien und ist damit erheblich länger. Der Schluss ‚Er wird euch euer Gewand geben‘ greift den (im Griechischen und im Koptischen enthaltenen) Spruch vom Sorgen am Anfang des Logions auf und erweist so die Version in P.Oxy. 655 als sekundär gestaltet. Zudem nennt die Redeeinleitung der griechischen Version von EvThom 37 nicht Jesus als Sprecher (s.u.). Diese Befunde können die Möglichkeit erwägenswert erscheinen lassen, dass P.Oxy. 655 vielleicht ‚das Fragment eines eigenständigen, unbekannten Evangeliums‘Footnote 48 ist. Das ist im Prinzip möglich; ist es auch wahrscheinlich? Die Differenzen sind in der Tat beachtlich, aber sie sind nicht unerhört, denn auch im Fall von EvThom 30 ist die griechische Version (P.Oxy. 1,23–30) deutlich umfangreicher als die koptische Version (NHC ii 39,2–5), wo der zweite Teil des Logions (P.Oxy. 1,27–30) seine Entsprechung in EvThom 77,2–3 hat. In diesem Fall spricht allerdings die Stichwortverbindung über das mehrdeutige koptische Verb ⲡⲱϩ (‚erreichen‘ und ‚spalten‘) dafür, dass die das Wort vom Holz und vom Stein erst auf der Ebene der koptischen Übersetzung an EvThom 77,1 angeschlossen wurde.Footnote 49 In der Textüberlieferung des Thomasevangeliums ist also in mehrfacher Hinsicht mit großer Varianz zu rechnen. Gewiss mag sich auch hier die Frage aufwerfen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Variante eines Werkes als eigenständige literarische Einheit gelten kann. Im Fall von P.Oxy. 655 sprechen die immer noch weitgehenden Übereinstimmungen (etwa bei EvThom 37) sowie die Reihenfolge der Logien (soweit das Papyrusfragment in col. ii einen plausiblen Befund ermöglicht) dafür, dass es sich noch um zwei Varianten derselben literarischen Einheit handelt. P.Oxy. 655 einem anderen, anderweitig unbekannten Werk zuzuschreiben, hieße, praeter necessitatem eine zusätzliche Unbekannte einzuführen.
Anders als bei EvThom 27, hat hier die koptische Version eine einigermaßen konventionelle Form, wenngleich der Name Jesu nicht in der Einleitung zur Frage, sondern erst in der Antwort genannt wird (so wie in EvThom 6). In der griechischen Version wird hingegen Jesus überhaupt nicht genannt, dafür wird die Einleitung der Jüngerfrage dahingehend präzisiert, dass sie an ‚ihn‘ (αὐτῷ) gerichtet ist. Dass es Jesus ist, an den die Jünger eine Frage richten und der diese Frage auch beantwortet, kann man nur aus dem weiteren Kontext, also aus den EvThom 37 umgebenden Logien, erschließen. Damit hat die griechische Version von EvThom 37 (P.Oxy. 655, col. i 17–col. ii 1) nur Sinn als Teil eines größeren Ganzen, das zumindest die Information über Jesus als Sprecher bereitstellt. Dieses größere Ganze ist vermutlich das Thomasevangelium, das auf dieser Ebene schon mehr (narrative) Kohäsion aufweist als eine bloße Liste oder Sammlung.
Wenn die oben angestellten Überlegungen stichhaltig sind, ist nun die griechische Version von EvThom 37 besser mit dem umgebenden Kontext verzahnt, weist also ein höheres Maß an Kohäsion mit dem Kontext auf als die koptische Version in NHC ii,2.Footnote 50 Diese Einschätzung fußt auf zwei Indizien: dem pronominalen Dativobjekt αὐτῷ in der Einleitung zur Jüngerfrage und dem Verzicht auf die Nennung Jesu als Sprecher in der Einleitung zur Antwort. Diese bessere Einbindung in den umgebenden Kontext spricht dafür, dass im Falle von EvThom 37 die griechische Fassung, die in P.Oxy. 655 erhalten ist, ein späteres Stadium der Entwicklung darstellt, während die koptische Version in NHC ii,2 noch ein eigenständiges Logion bezeugt, das prinzipiell auch für sich allein – etwa auf einem Ostrakon – umlaufen konnte.
3.3 Zwischenergebnis
In den Details der Redeeinleitungen fallen Unterschiede zwischen den griechischen Fragmenten des Thomasevangeliums (P.Oxy. 1; 654; 655) und der koptischen Version (NHC ii 2) auf. Diese Differenzen wirken sich auf die Kohäsion im Umfeld der fraglichen Logien aus: Wenn in einem Logion Jesus nicht eigens als Sprecher genannt wird, ist dieses Logion enger mit seinem Kontext verzahnt und nicht (mehr) allein überlieferungsfähig. Wenn in der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Thomasevangeliums eine Tendenz hin zu größerer Kohäsion anzunehmen ist, ergibt sich anhand der wenigen möglichen Testfälle im Ansatz eine Entwicklungslinie: Die relativ langen, gut erhaltenen griechischen Fragmente P.Oxy. 1; 654 zeigen in den untersuchten Testfällen EvThom 3; 27 noch stärker den Charakter einer Logiensammlung. Im Text von NHC ii,2 (bzw. dessen griechischer Vorlage) zeigt sich schon mehr Kohäsion, und ausweislich des narrativen Rahmens von EvThom 37 weist P.Oxy. 655 noch größere Kohäsion bzw. Einbindung der Logien in den Kontext auf. Freilich stehen diesen untersuchten Fällen die vielen Logien gegenüber, in denen die narrativen Rahmenstücke identisch sind. Doch man wird allemal eine fallweise Tendenz feststellen dürfen. Anscheinend fanden also die Tradenten des Thomasevangeliums eine Sammlung von isolierten ‚verborgene(n) Worte(n), die der lebendige Jesus gesprochen hat‘ (EvThomProl. nach NHC ii 32,10–11; auch P.Oxy. 654,1–2) als solche unbefriedigend und machten daraus – zumindest im Ansatz – ein zusammenhängendes ‚Evangelium nach Thomas‘ (NHC ii 51,27–8), wie es im zweiten Viertel des 3. Jahrhunderts in der Refutatio omnium haeresium (Ref. 5.7.20) und bei Origenes (Hom. Luc. 1) bezeugt ist.Footnote 51
4. Ergebnis
Das Thomasevangelium ist prinzipiell als eine Sammlung von Einzellogien zu betrachten. Für die Auslegung bedeutet das, dass zunächst, insofern unter produktionsästhetischem Aspekt die Genese der Logien interessiert, jedes Logion für sich allein zu behandeln ist; die Sammlung, die wir als Thomasevangelium bezeichnen, stellt in dieser Hinsicht nicht a priori einen privilegierten Interpretationskontext dar. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich aber, dass innerhalb der Sammlung mehrfach Logien einen auffälligen Zusammenhang aufweisen, und zwar nicht nur auf der inhaltlichen Ebene (etwa durch Stichwortverbindungen), sondern auch formal durch die Ausgestaltung ihrer Redeeinleitungen. Wenn man diesen Befund diachron auswertet, zeigt sich, dass sich das Thomasevangelium im Zuge der Überlieferung und Übersetzung weiterentwickelte: Was zunächst eine bloße Sammlung war, gewann an Kohäsion und wurde passagenweise zu einem zusammenhängenden Erzähltext. In der Rezeption der Logien wurde also aus ‚Worten Jesu‘ das ‚Evangelium nach Thomas‘.
Acknowlegements
Dieser Aufsatz ist aus mehreren Tagungsbeiträgen erwachsen, seine nunmehr vorliegende Gestalt erhielt er im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts ‚Memoria Apostolorum: Apostolische Gestalten in der christlichen Erinnerungskultur des 1.–3. Jahrhunderts‘ (DFG-Gz. WI 3620/8-1). Danken möchte ich an dieser Stelle Florian Rösch für seinen Rat in koptologischen Fragen.
Competing interests
The author declares none.