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Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments im Gespräch mit Régis Burnet

Published online by Cambridge University Press:  18 August 2023

Christina Hoegen-Rohls*
Affiliation:
Evangelisch-Theologische Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität (WWU), Münster, Germany; Department of Old and New Testament Studies, University of the Free State, Bloemfontein, South Africa.
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Abstract

The present article first presents and explains the theses that emerge from Régis Burnet's monograph ‘Exegesis and History of Reception’ (Tübingen 2021) and from his SNTS Main Paper published in NTS 2023, ‘Why “Reception History” Is Not Just Another Exegetical Method: The Case of Mark's Ending’ (Leuven 2022). It then develops questions and perspectives that result from the dialogue between Burnet's approach and my own approach and continue this productive, unfinished discussion. It should be postulated that the history of interpretation and the reception history belong to the field of theological encyclopaedia and have the potential to lead to an ‘aesthetic theology’.

German abstract

German Abstract

Der vorliegende Artikel stellt zunächst die Thesen, die sich aus Régis Burnets Monographie Exegesis and History of Reception (Tübingen 2021) und aus seinem in NTS 2023 publizierten SNTS Main Paper „Why ‚Reception History‘ Is Not Just Another Exegetical Method: The Case of Mark's Ending“ (Leuven 2022) ergeben, vor und erläutert sie. Sodann entwickelt er Fragen und Perspektiven, die sich aus dem Gespräch unserer Ansätze ergeben und dieses noch unabgeschlossene, produktive Gespräch weiterführen. Es soll postuliert werden, dass Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte Arbeitsfelder theologischer Enzyklopädie darstellen und das Potential bergen, zu einer ‚ästhetischen Theologie‘ zu führen.

Type
Articles
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Copyright
Copyright © The Author(s), 2023. Published by Cambridge University Press

Den Vorschlag von Simon Gathercole, die beiden Vorträge zur Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments, die bei dem 76. Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) im Sommer 2022 in Leuven gehalten wurden, gemeinsam in den New Testament Studies (NTS) zu veröffentlichen und miteinander ins Gespräch zu bringen, greife ich gerne auf.

Im ersten Teil meiner Antwort auf Régis Burnet werde ich in Erinnerung rufen und aus meiner Sicht näher erläutern, welche grundlegenden Thesen seinen Ansatz der Reception History prägen. Im zweiten Teil werde ich skizzieren, welche Fragen und Perspektiven sich für mich aus dem Gespräch mit Régis Burnet im Hinblick sowohl auf seinen Ansatz als auch auf meinen eigenen Ansatz einer Rezeptionskritik und Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments ergeben.

1. Régis Burnets Thesen zu Theorie und Praxis der History of Reception und ihrer Bedeutung für die neutestamentliche Exegese

Zwei markante Thesen sind es, die Régis Burnet in den Reception History-Diskurs einbringt:

Erstens: Die Wirkungsgeschichte ist keine Methode!

Zweitens: Die Auslegungsgeschichte ist eine nützliche Methode für die Exegese, denn sie bietet die Möglichkeit, unsere eigene Lektüre biblischer Texte kritisch zu prüfen und zu bewerten und uns dabei der Begrenztheit und Bedingtheit der eigenen Auslegung bewusst zu werden. Angewandte Auslegungsgeschichte dient der Kontextualisierung und Relativierung unserer Textlektüren.

Burnet unterscheidet also zwischen Wirkungsgeschichte und Auslegungsgeschichte. Für den Ausdruck ‚Wirkungsgeschichte‘ hält er fest, dass der im Deutschen nachgestellte Wortbestandteil „-geschichte“ bzw. das im Französischen gebildete Genitivsyntagma histoire des effets ganz irreführend seien: Es gehe nicht darum, einen neuen Teil der akademischen Geschichtsdisziplin zu begründen, in der eine Geschichte der Wirkungen, der Effekte, des Einflusses bestimmter Ideen konstruiert werde (so wie das die Ideengeschichte tatsächlich zur Aufgabe hat). Vielmehr gehe es um die Wirkungen der Geschichte selbst. Unter Rückgriff auf Jerome Veith, Gadamer and the Transmission of History (2015), der zwischen ‚effect in history‘ und ‚effect of history‘ unterscheidet, stellt Burnet der ‚Geschichte der Wirkungen‘ (histoire des effets / history of effects) die ‚Wirkungen der Geschichte‘ gegenüber (effets de l‘histoire / effects of history). Die Geschichte ist das treibende Agens, das Wirkungen erzeugt – und eben dieser geschichtlichen Wirkungen, dieser Auswirkungen müssen sich Ausleger*innen biblischer Texte bewusst sein: Sie dürfen und können nicht meinen, objektive, unbedingte Einsichten in biblische Texte zu gewinnen, als begegne man diesen jenseits des eigenen Eingebettetseins in historische Kontexte und Bedingungen. Eine solche – naive – Haltung bewertet Burnet als ‚tabula-rasa-Illusion‘. Sie komme in zweifacher Ausprägung vor: als „illusion about the newness of accepted ideas“ und als „illusion about the antiquity of rejected ideas“.Footnote 1 Auslegung, Exegese, so schärft Burnet ein, könne keine objektive Wissenschaft sein. Sondern Exeget*innen müssten reflektieren, dass sie selbst in einem geschichtlichen Wirkungszusammenhang stehen, von dem sie geprägt sind und der ihnen daher ein bestimmtes Verstehen, eine bestimmte Interpretation nahelegt.

Eben dieses sich bewusst zu machen und bei der Auslegung von Texten in Anschlag zu bringen, meint das eine, was Gadamer das ‚wirkungsgeschichtliche Bewusstsein‘ nennt: ein Bewusstsein davon, dass man sich der prägenden Wirkungen von Geschichte auf das Verstehen bewusst zu sein hat. Das andere, was „the artfully ambigous phrase“,Footnote 2 der kunstvoll-doppeldeutige Begriff ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ meint, ist schlicht das, was ich soeben mit ‚in einem geschichtlichen Wirkungszusammenhang stehen‘ bezeichnet habe: Auch ohne dass wir es uns reflektierend bewusst machen, haben wir ein ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘, ein von den Wirkungen der Geschichte immer schon geprägtes Bewusstsein oder ‚Verstehen‘ – ein ‚Vorverständnis‘, wie es Bultmann, von dem Gadamer gelernt hat,Footnote 3 nannte.

Zu Recht insistiert Burnet mit anderen darauf, dass ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ der für Gadamers Konzept einer philosophischen Hermeneutik viel wichtigere und viel treffendere Begriff sei als ‚Wirkungsgeschichte‘. Eben dieses wirkungsgeschichtliche Bewusstsein, so postuliert Burnet überzeugend, sei keine Methode, sondern eine hermeneutische Haltung – und ich möchte vorschlagen, diese hermeneutische Haltung klassifikatorisch zu präzisieren: Denn es gibt sie als eine hermeneutische Haltung erster und zweiter Ordnung. Eine hermeneutische Haltung erster Ordnung nimmt mein wirkungsgeschichtliches, immer schon von wirksamer Geschichte geprägtes Bewusstsein unbewusst ein: Ich verstehe nur bedingt, und zwar bedingt durch die Geschichte. Die hermeneutische Haltung zweiter – und das heißt doch wohl: höherer – Ordnung nehme ich ein, wenn ich mir mein Bewusstsein bewusst mache, wenn ich mir also Rechenschaft ablege über die historische Bedingtheit und das historische Vorgeprägtsein meines Verstehens.

Eben die Berücksichtigung der Historizität allen Verstehens ist nach Burnet die Bedingung des Verstehens, und zwar während der exegetischen Arbeit. Die Berücksichtigung der Historizität allen Verstehens ist keine zusätzliche Technik, die nach dem gewissenhaften Abarbeiten der historisch-kritischen Methodenschritte zum Einsatz kommt. Ausleger*innen müssen sich vielmehr bei ihrer Übersetzung, bei ihrer textkritischen Analyse, bei ihrer literar- und redaktionskritischen, bei ihrer rhetorischen und narrativen Analyse bewusst davon beeinflussen lassen, dass die Auslegung anderer, früherer Ausleger*innen, die Burnet the readers of the past nennt, ihrerseits beeinflusst war von einem bestimmten historischen Kontext. Burnets Plädoyer lautet daher, Exeget*innen sollten die ‚Von-Anfang-an-bis-heute-Auslegung‘ studieren und dabei tipping points, Kipppunkte, Wendepunkte in der Geschichte der Auslegung eines biblischen Textes identifizieren, um beschreiben zu können, wann und aus welchen Gründen eine Auslegungstradition abbricht oder umbricht und in neue Bahnen gelenkt wird. Nach Ansicht Burnets sind es einerseits ‚nomadische‘ Texterkundungen (wie er das in Anlehnung an Brennan Breed nennt),Footnote 4 die den Text auf seine Aussagemöglichkeiten hin befragen und Neues entdecken lassen, andererseits aber maßgeblich mentalitätsgeschichtliche Gründe, auf die konzeptionelle Umbrüche zurückgehen. Wir lernen von ihm: „Studying the history of interpretation always points to a history of mentalities.“Footnote 5

Sein Ansatz Reading the New Testament Today with the Readers of the Past (so der Untertitel seiner Monographie Exegesis and History of Reception), den er in Leuven am Beispiel des sekundären Markusschlusses veranschaulichte, führt genau dies vor und offenbart dabei ein stupendes Wissen konfessioneller und überkonfessioneller christlicher Mentalitätsgeschichte, eine atemberaubende Gelehrtheit im Durchdringen theologischer Problemstellungen und eine beeindruckende Sicherheit im hermeneutischen Umgang mit Quellen von der Spätantike bis zur Gegenwart.

2. Fragen und Perspektiven, die sich für mich aus dem Gespräch mit Régis Burnet ergeben

(1) Die Diskussion um Phänomen und Terminologie der Wirkungsgeschichte, die das Fach Neues Testament prägend seit der Konstituierung des Evangelisch-Katholischen Kommentars (EKK) begleitet und in den letzten Jahren durch Blackwell's Kommentarreihe Through the Centuries neu angefacht wurde, zeigt, dass Gadamers Rede vom ‚wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein‘ kommunikationstechnisch von dem Ausdruck ‚Wirkungsgeschichte‘ dominiert und dabei semantisch umgeprägt wurde. Es hat sich in der neutestamentlichen Exegese ein post-Gadamer'scher Sprachgebrauch entwickelt, der mit ‚Wirkungsgeschichte‘ nicht die von Burnet eingeklagte hermeneutische Haltung assoziiert, sondern dezidiert das, was ‚reconstructed impact history‘ genannt wird.Footnote 6

Wenn nun Burnet darauf abhebt, was Gadamer ursprünglich mit ‚wirkungsgeschichtlichem Bewusstsein‘ gemeint habe: Durchbricht er dann nicht sein eigenes hermeneutisches Konzept eines reading with tradition, das tipping points identifiziert, um zu erkennen, wo Umbrüche einer Tradition zu erkennen sind? Die Konzeption des EKK Ende der 1960iger Jahre und das Erscheinen des ersten Bandes dieser Reihe 1975 – dies war die Kommentierung des Philemonbriefes durch Peter Stuhlmacher – bedeutet nach meiner durch Burnets Ansatz geschärften Einschätzung eben einen solchen tipping point, einen Wendepunkt in der Rezeption Gadamers: Gadamer wird ab jetzt als Referenzgröße für das genutzt, was ‚Einflussgeschichte‘ meint. Gewiss: Burnet hält das für ein Missverständnis und er widmet den ‚misuses of Wirkungsgeschichte‘ ein eigenes Kapitel.Footnote 7 Aber können wir nicht produktiv mit diesem Missverständnis umgehen, indem wir sagen, dass es genau dieses Missverständnis ist, das der Rezeptionsgeschichte als einem Arbeitsbereich unseres Faches Neues Testament den Weg gebahnt hat?

(2) Wenn Burnet hervorhebt, das ‚wirkungsgeschichtliche Bewusstsein‘ sei keine Methode, keine exegetische Technik, ‚Wirkungsgeschichte‘ sei aber zu Unrecht immer wieder – etwa in Lehrbüchern wie jenen von Georg Strecker und Udo Schnelle, Stephen Pricket, W. Randolph Tate und eben auch von Kommentarreihen wie EKK und Blackwell's – „as a kind of tool to be used at the end of a text study“Footnote 8 präsentiert worden: Hat er dann damit recht und wenn ja, inwiefern? Er hat insofern recht, als immer wieder zu lesen ist, dass die Nachwirkung biblischer Texte neues Licht auf den exegesierten Text werfe und zu seinem Verständnis beitragen könne. Dies kann man zwar, wie ich mit bestimmten Fragen meines Fragenrasters zur verfahrensbezogenen/methodologischen Rezeptionskritik andeute, hinterfragen.Footnote 9 Aber wenn vorausgesetzt wird, dass der Blick auf die Nachwirkung eines ausgelegten Textes diesen weiter erhellt, dann bedeutet dies, Rezeptionsgeschichte als exegetisches Werkzeug zu benutzen, um den Sinn des Textes zu erfassen. Was ist daran verkehrt? Nutzt Burnet nicht ebenfalls die Beispiele der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte, um das – wie er es nennt – ‚übergeschichtliche‘ Thema eines Textes zu entschlüsseln und die Exeget*innen herauszufordern, sich mit diesem ‚übergeschichtlichen Thema‘, das sie theologisch und existentiell angeht, auseinanderzusetzen?Footnote 10 Ja, das tut er. Aber er tut es eben nicht erst am Schluss, „after dissecting the text according to various exegetical protocols“,Footnote 11 er tut es nicht als vermeintlich unerheblichen Appendix der exegetischen Arbeit, der ebenso gut entfallen könnte, wären nicht manche neugierig darauf; sondern Burnet begleitet permanent, ja gründet seine Exegese auf der Auslegungsgeschichte bzw. der history of reception. Wir müssen Burnet daher auch mit Moisés Mayordomo ins Gespräch bringen,Footnote 12 der vorgeschlagen hat, a) die wirkungsgeschichtliche Betrachtung eines neutestamentlichen Textes seiner Exegese voranzustellen, um von hier aus die eigenen Fragen und Perspektiven exegetischen Arbeitens zu schärfen, oder b) die Trennung zwischen ‚eigentlicher‘ Exegese und Wirkungsgeschichte ganz aufzuheben – was bei Mayordomo so zu verstehen ist, dass Stimmen der exegetischen Forschungsdiskussion und Stimmen der Wirkungsgeschichte gleichermaßen und gleichzeitig gelauscht wird. Eine solche Haltung des Hörens auf die verschiedensten Stimmen bezeichnet Mayordomo als „‘Ethik‘ der Interpretation“Footnote 13 – ein Konzept, das wir, Burnets reading with tradition modellierend, ‚listening the tradition and research‘ nennen könnten.

(3) Der Ansatz eines reading with tradition beinhaltet für Burnet „a definition of the term ‚reading‘ broad enough to include literary and poetic works, plastic works, music and even popular culture“.Footnote 14 Von der Väterexegese bis zur Popkultur reicht Burnets Arbeitsfeld. Er deckt damit die vierte und fünfte Domäne der EBR ab (‚Christianity‘ und ‚Reception History‘), was mich in höchstes Staunen versetzt und mir größten Respekt abringt. Gerade der Blick auf sein weitgespanntes Arbeitsfeld lässt mich selbstkritisch über zwei Fragen bzgl. meines eigenen Ansatzes nachdenken:

Erstens. Lässt sich wirklich so klar zwischen auslegungsgeschichtlicher Rezeption und nicht-auslegungsgeschichtlicher Rezeption unterscheiden, wie ich es insinuiere? Gehören nicht die Artefakte ebenfalls in den Bereich dessen, was ‚Auslegung‘ meint?Footnote 15 Werden wir manche der literarischen Artefakte sogar als rewritten Bible, rewritten Scripture oder New Testament retellings einordnen können?Footnote 16 Und sollten wir für die Rezeptionen neutestamentlicher Texte in den ‚schönen Künsten‘ den bereits von Ulrich LuzFootnote 17 aufgegriffenen weiten Auslegungsbegriff Gerhard Ebelings in Anschlag bringen? Ebeling formulierte:

„Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift vollzieht sich nicht nur in Verkündigung und Lehre und erst recht keineswegs etwa primär in Kommentaren, sondern auch im Handeln und Leiden. Auslegung der Heiligen Schrift vollzieht sich in Kultus und Gebet, in theologischer Arbeit und persönlichen Entscheidungen, in kirchlicher Organisation und Kirchenpolitik, in der Weltherrschaft der Päpste und in der Kirchenhoheit von Landesherren, in Kriegen im Namen Gottes und in Werken barmherziger Liebe, in christlicher Kulturgestaltung und klösterlicher Weltflucht, in Martyrien und Ketzerverbrennungen. Unter ‚Auslegung‘ will nicht nur die ausgesprochene, sondern auch die unausgesprochene, nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußte, nicht nur die positive, sondern auch die negative Beziehung zur Heiligen Schrift verstanden sein. Denn wo immer Beziehung zur Heiligen Schrift besteht – und dieser Tatbestand liegt für die Geschichte des Abendlandes z. B. nahezu universal vor –, da stehen die geschichtlichen Ereignisse in einer Weise unter der Gewalt dieses geschichtlichen Movens, dass sie, mit welchen Vorzeichen auch immer, zu kirchengeschichtlichen Ereignissen werden.

Der Begriff der Auslegung greift darum gerade unübersehbar weit, insofern auch anscheinend rein ‚profane‘ politische, von dem Gebiet des ‚Kirchlichen‘ ganz abseits liegende Phänomene kraft der nun einmal bestehenden, wenn auch noch so verborgenen Beziehung zur Heiligen Schrift zu kirchengeschichtlichen Phänomenen werden. Aber der Begriff der Auslegung ist anderseits allerdings sehr eng, insofern ausschließlich kraft dieser ausgesprochenen oder unausgesprochenen, bewußten oder unbewußten, positiven oder negativen Beziehung zur Heiligen Schrift ein Ereignis ein kirchengeschichtliches ist. Diese Relation des Geschehens zur Heiligen Schrift aufzudecken und an ihr das Geschehen zu ordnen und zu wägen, ist die Aufgabe kirchengeschichtlicher Arbeit.“Footnote 18

Für manche der Artefakte wird sich dieser weite Auslegungsbegriff ohne Zweifel als hilfreich erweisen. Doch es bleibt die Aufgabe, Rezeptionen, die auf neutestamentliche Texte entweder im Sinne ‚kultureller Diffusion‘Footnote 19 oder im Sinne grundlegender anthropologischer ErfahrungenFootnote 20 verweisen, präzise zu kategorisieren.

Zweitens. Die beiden Fragenkataloge, die ich mit meinem Ansatz eines Doing Reception Criticism vorschlage zu bearbeiten (und zwar keineswegs zwingend zur Gänze, sondern durchaus in gezielter Auswahl): Wären sie nicht auch hilfreich für das methodisch kontrollierte Vorgehen auslegungsgeschichtlicher Arbeit? Den letzten Satz des Ebeling-Zitats aufgreifend und modifizierend, ließe sich formulieren: Die Relation des auslegenden Textes, des auslegenden Mediums, des künstlerischen Artefakts zum neutestamentlichen Text unter den Aspekten der Gattungskongruenz/Gattungsdivergenz, der Substanzkonvergenz/Substanzdivergenz, der Diskurskonvergenz/Diskursdivergenz und der Spezifitätskonvergenz/Spezifitätsdivergenz aufzudecken und von dieser Relation her den auslegenden Text, das auslegende Medium, das künstlerische Artefakt komparatistisch einzuordnen, wobei das Vorgehen des Vergleichens differenziert zu reflektieren und die Vergleichsergebnisse kritisch zu prüfen sind, ist die Aufgabe rezeptionskritischer Analyse, welche die Voraussetzung auslegungs- und rezeptionsgeschichtlicher Einsichten darstellt.Footnote 21

(4) Verstehe ich es richtig, dass Burnet mit seinem auslegungs- bzw. rezeptionsgeschichtlichen Ansatz das ‚wirkungsgeschichtliche Bewusstsein‘ Gadamers voll zur Anwendung und Geltung bringt und dabei nicht nur Kirchengeschichte im Sinne Ebelings, sondern auch Theologiegeschichte und Theologie treibt? Ja, Burnet betreibt mit seinem Ansatz einer histoire de la réception Theologie. Und ich plädiere in diesem Zusammenhang dafür, dass wir unsere ‚Theologien‘ erweitern: So wie wir eine dogmatische Theologie von einer biblischen Theologie und einer praktischen Theologie unterscheiden und zugleich im Sinne des Ganzen der Theologie aufeinander beziehen, so sollten wir auch wagen, auf der Basis von Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte eine ‚Literaturtheologie‘, eine ‚Musiktheologie‘, eine ‚Bildtheologie‘ zu beschreiben und systematisch im Blick auf ihre eigenständige Aussagekraft auszuwerten.Footnote 22 Meiner Ansicht nach bergen Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte das Potential, zu einer ‚ästhetischen Theologie‘ weiterentwickelt zu werden. Zugleich verweist uns die Art und Weise, in der Burnet mittels Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte Theologie treibt, darauf, dass Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte Arbeitsfelder theologischer Enzyklopädie sind.Footnote 23

(5) Was bedeutet es, so zu arbeiten, wie Régis Burnet auf der einen und ich auf der anderen Seite es vorschlagen? Ich könnte diese Frage als multiple-choice-Frage stellen und darum bitten, die richtige Antwort anzukreuzen – Mehrfachnennungen sind möglich!

  1. (a) eine pure Überforderung

  2. (b) eine frustrierende Sisyphosarbeit

  3. (c) eine Aufgabe des Fachs Kirchengeschichte, nicht des Fachs Neues Testament

  4. (d) eine Aufgabe der Kulturwissenschaft, nicht des Fachs Neues Testament

  5. (e) reinen Dilettantismus

Ja: Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments im Rahmen der innerkanonischen, interkanonischen und frühen außerkanonischen Zeit sowie jenseits davon zu betreiben, heißt, ein kulturgeschichtliches Quellenmaterial zu bearbeiten, das quantitativ niemals vollständig überblickt und qualitativ niemals erschöpfend erfasst werden kann. Aber stellen wir die Gegenfrage: Kapitulieren vor ihrer unerschöpflichen Quellenbasis unsere Kolleg*innen in den Geschichts- und Literaturwissenschaften? Wird es sich nicht lohnen, dass manche von uns Neutestamentler*innen und Judaist*innen und manche jener, die wir als Nachwuchs im Fach Neues Testament / Antikes Judentum fördern, die Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte unserer Texte ganz oben auf die Agenda setzen, und zwar als eigene explorative Kreuzfahrt, nicht nur als optionalen Landgang bei schönem Wetter – ein Bild, zu dem mich Régis Burnet inspiriert, wenn er in Auseinandersetzung mit Anthony ThiseltonFootnote 24 sagt: „This ist the common idea about reception history: […] a sort of optional excursion during a cruise“ – ?Footnote 25 Gehen wir gemeinsam auf die Reise, zu der uns die Arbeit am Evangelisch-Katholischen Kommentar zum Neuen Testament, an Blackwell's Through the Centuries und an der Encyclopedia of the Bible and Its Reception einlädt!

Competing interests

The author declares none.

References

1 Burnet, Régis, Exegesis and History of Reception. Reading the New Testament Today with the Readers of the Past (WUNT 455; Tübingen: Mohr Siebeck, 2021) 25–57Google Scholar.

2 So Andrew Judd, „Gadamer, Wirkungsgeschichtliches Bewusstsein, and What To Do about Judas (Acts 1.12–22)“, ABR 66 (2018) 43–58.

3 Vgl. dazu exemplarisch Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999) 312–14; Bultmann Handbuch (ed. Christof Landmesser; Tübingen: Mohr Siebeck, 2017) 145–50.

4 Breed, Brennan W., Nomadic Text: A Theory of Biblical Reception History (Indiana Studies in Biblical Literature; Bloomington: Indiana University Press, 2014)Google Scholar; vgl. dazu Burnet, History of Reception, 196.

5 Burnet, History of Reception, 196.

6 Vgl. dazu exemplarisch The Reception of Jesus in the First Three Centuries (ed. Chris Keith, Helen K. Bond, Christine Jacobi, Jens Schröter; London: T&T Clark, 2020) xvi mit Anm. 3.

7 Burnet, History of Reception, II.2

8 Régis Burnet, „Why ‚Reception History‘ Is Not Just Another Exegetical Method: The Case Of Mark's Ending“, NTS 69 (2023).

9 Diese Fragen lauten: Erwarte ich, dass das Artefakt etwas Neues sagt über den Text? Gehe ich davon aus, dass der neutestamentliche Text dadurch, dass ich sein ‚Nachleben‘ in Artefakten berücksichtige, an Sinn gewinnt, den ich ohne das Artefakt nicht entdeckt hätte?

10 Vgl. dazu Burnet, History of Reception, Chapter 7. Burnet zeigt hier drei elementare, durch Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte aufgedeckte ‚übergeschichtliche‘ theologische Themen auf: Die Rezeption der Figur des Barabbas führe zu der Frage „What Is Our Relationship with Christ?“ (155–67). Die Rezeption der Figur des johanneischen Lazarus stelle vor die Frage „What Is Our Relationship to Death?“ (167–81). Die Rezeption der Metapher ‚The Temple of the Holy Spirit‘ lasse fragen: „What Is Our Relationship to the Church?“ (181–93).

11 Burnet, „Why ‚Reception History‘ Is Not Just Another Exegetical Method.“

12 Moisés Mayordomo, „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Wirkungsgeschichte? Hermeneutische Überlegungen mit einem Seitenblick auf Borges und die Seligpreisungen (Mt 5, 3–12)“, in: ThZ 72 (2016) 42–67.

13 Mayordomo, Wirkungsgeschichte, 64.

14 Burnet, History of Reception, 5.

15 Claire Clivaz und weitere Kolleg*innen aus dem Forschungsbereich der Textkritik hoben in der Diskussion meines main papers in Leuven hervor, dass Handschriften nicht anders denn als Artefakte zu verstehen seien, in denen sich von den frühesten bis zu den spätesten Zeugen Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments vollzieht.

16 Adele Reinhartz, „‚Rewritten Gospel. The Case of Caiaphas the High Priest‘“, NTS 55 (2009) 160–78, führt die Kategorie ‚rewritten Gospel‘ / ‚postcanonical Jesus narratives‘ ein und ordnet dieser zwei Beispiele aus der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts zu: Dorothy L. Sayers‘ Hörspielzyklus The Man Born to Be King (1941/42) und den Roman The Nazarene von Sholem Asch (1939).

17 Vgl. Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7) (EKK I/1; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1985) 78Google Scholar.

18 Gerhard Ebeling, „Kirchengeschichte als Auslegung der Heiligen Schrift“ (1947), in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964, 19662) 24.

19 Von ‚kultureller Diffusion‘ könnte im Rezeptionsdiskurs – angelehnt an sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien – dann gesprochen werden, wenn ein neutestamentlicher Text oder ein neutestamentliches Motiv aufgrund kultureller ‚Allgegenwart‘ jenseits seiner biblisch-religiösen Sprach- und Denkform in Alltagssprache und weltliches Denken eingegangen ist.

20 Die grundlegende Erfahrung menschlichen Leidens etwa wird in der Kunst immer wieder – ohne dass sinnkohärent das alttestamentliche Buch und seine komplexe Motivik rezipiert werden – mit dem gleichsam als Metapher genutzten Namen ‚Hiob‘ verknüpft.

21 Zum Vergleichen als „wesentliche(r) Aktivität einer jeden Wissenschaft“ vgl. Vittorio Hösle, „Über den Vergleich von Texten. Philosophische Reflexionen zu der grundlegenden Operation der literaturwissenschaftlichen Komparatistik“, in: ders., Goethe und Dickens als christliche Dichter, Literatur und Philosophie 3 (Baden-Baden: Verlag Karl Alber, 2022) 211–32 (Zitat: 211).

22 Ansätze zu solchen ‚Theologien‘ gibt es in Geschichte und Gegenwart. Vgl. etwa den Entwurf einer Musicotheologie des von Christian Wolff und Johann Sebastian Bach beeinflussten Musiktheoretikers Lorenz Christoph Mizler von Kolof (1711–1778); das Programm einer Bildtheologie bei Handbuch Bildtheologie (Bde. 1–4; ed. Reinhard Hoeps; Paderborn: Brill, 2007–2021); die Skizze einer Literaturtheologie bei Christina Hoegen-Rohls, ‘“Über alles ist zu loben/ feines Lied und Psaltersang”: Die Psalmen als schelmisch-festliche “Gottespoesei” in Thomas Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder’, in ‘Gerechtigkeit und Recht zu üben(Gen 18,19): Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. Festschrift für Eckart Otto zum 65. Geburtstag, ed. Reinhard Achenbach und Martin Arneth (Wiesbaden Harrassowitz, 2009) 377–86.

23 Vgl. dazu auch die Überlegungen in Auseinandersetzung mit Ebeling von Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973 (1987)) 374–406.

24 Thiselton, Anthony C., Thiselton on Hermeneutics: The Collected Works and New Essays of Anthony Thiselton (Ashgate Contemporary Thinkers on Religion; Routledge: Abingdon/New York, 2006)Google Scholar.

25 Burnet, History of Reception, 67. Das Zitat als Ganzes lautet: „This is the common idea about reception history: Like a holiday in the countryside that persuades jaded city dwellers it's better to keep living downtown, the Wirkungsgeschichte allows small expeditions to foreign lands of the past to reveal the beauty of modern exegesis in contrast, as a sort of optional excursion during a cruise.“