1829 veröffentlichte Heinrich August Wilhelm Meyer, ein bis dahin völlig unbekannter evangelischer Dorfpfarrer aus dem Herzogtum Sachsen-Meiningen, mit 29 Jahren eine zweibändige Textausgabe des Neuen Testamentes mit paralleler deutscher Übersetzung. Zum Gesamtkonzept gehörte, wie das Titelblatt (Abb. 1)Footnote 1 zeigt, von vornherein ein „kritischer und exegetischen Kommentar“. Gedruckt war das Werk beim Göttinger Universitätsverlag Vandenhoeck und Ruprecht.
Es handelte sich also um ein Gesamtunternehmen mit zwei Teilen: (a) dem Text- und Übersetzungsteil und (b) dem Kommentarteil. Der erste Band der Kommentierung, der die Auslegung der drei ersten Evangelien umfasste, erschien dann auch 1832.Footnote 2 Er hat eine besonders umfangreiche Titelei:Footnote 3 Auf p. ii findet sich wieder der Titel des Gesamtunternehmens: „Das Neue Testament griechisch usw.“, aber jetzt heißt es in der unteren Hälfte: „Zweiter Theil den Kommentar enthaltend“; rechts davon, auf p. iii folgt der Obertitel der Kommentarreihe: „Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament“, und erst wenn man weiterblättert, findet man auf p. v den Titel des betreffenden Bandes selbst (vgl. Abb. 2),Footnote 4 in den ersten Jahrzehnten interessanterweise als „Handbuch“ bezeichnet.Footnote 5
Auffallend ist, dass im Titel des Gesamtwerks (Abb. 1) von einem „kritischen und (!) exegetischen Kommentar“ die Rede ist, der direkt gegenüber stehende Reihentitel für die Kommentarreihe (p. iii, ohne Abb.) dagegen von einem „Kritisch exegetischen Kommentar“ spricht und der einzelne Band ebenfalls „Kritisch exegetisches Handbuch“ (vgl. Abb. 2) heißt, also jeweils ohne „und“, allerdings auch ohne Bindestrich. Das weist auf einen unterschiedlichen Gebrauch von „kritisch“ hin. „Kritisch“ meint bei Meyer immer „textkritisch“. So beginnen die Kommentierungen jedes Kapitels immer mit einem Abschnitt zur Textkritik, erst dann folgen die exegetischen Ausführungen. Zum Doppelbegriff „kritisch exegetisch“ ist die Wortfügung erst später geworden, den Bindestrich, der das dann endgültig zum Ausdruck bringt, gibt es erst seit 1893.
Der Verfasser, Heinrich August Wilhelm Meyer, war 1832 inzwischen Dorfpfarrer im Königreich Hannover,Footnote 6 und zwar in der Nähe von Göttingen; er hatte ursprünglich nur einen zweibändigen Kommentar zum ganzen Neuen Testament geplant, parallel zur ebenfalls zweibändigen Text- und Übersetzungsausgabe. Schon mit dem ersten Kommentarband von 1832, der die drei ersten Evangelien umfasste, jedoch nicht das Johannesevangelium, war dieser Plan faktisch schon aufgegeben worden. Als 1869 die Kommentierung des gesamten Neuen Testamentes abgeschlossen war, war das Kommentarwerk auf 16 Bände angewachsen, damals „Abtheilungen“ genannt, eigentlich sogar auf 17, denn bereits in der zweiten Auflage 1844 musste Meyer den besonders umfangreichen Band zu den drei ersten Evangelien in zwei Teilbände unterteilen.Footnote 7
Der Stahlstich (Abb. 3)Footnote 8 zeigt Meyer im Alter von 45 bis 50 Jahren, also bereits auf der Höhe seines Erfolgs. Aus den frühen Jahren, in denen er das Projekt auf den Weg gebracht hat, gibt es noch keine derartig repräsentative Darstellung.
Das 1829 begonnene Projekt war, wie erwähnt, 1869, also nach 40 Jahren vollendet. In der Zwischenzeit bis 1869 hatte sich allerdings viel getan: Die ersten Bände waren bereits in der dritten bzw. vierten, ja z.T. in der fünfte überarbeiteten Auflage erschienen.Footnote 9 Gleichzeitig wurden die letzten sieben Bände ab 1850 von anderen Autoren verfasst, da durch die fortlaufende Überarbeitung der bereits vorhandenen Bände das Werk Dimensionen angenommen hatte, die ein einzelner Autor nicht mehr bewältigen konnte.Footnote 10
Woran lag der Erfolg dieser Kommentarserie, die es ja bis heute gibt? Meyer, der nie eine akademische Stellung an einer Universität oder einer höheren Lehranstalt innehatte, sozusagen ein Nobody in der Fachwelt,Footnote 11 hatte eine Zielsetzung, mit der er auf Distanz zu den damals dominanten Strömungen in der protestantischen Theologie ging. Er forderte das „unbefangene, historisch grammatische von keiner Zeitphilosophie beherrschte, Studium des Neuen Testaments“.Footnote 12 Er wehrte sich sowohl gegen eine philosophisch-theologische Überfrachtung des Textes, andererseits gegen eine konfessionalistische Auslegung, deren vordringliches Interesse es war, die Lehrsätze der lutherischen Bekenntnisschriften im Neuen Testament wiederzufinden. So schreibt er ebenfalls 1829 im Vorwort zur Textausgabe über seine künftige Auslegung:
Denn den Sinn, wie ihn der S c h r i f t s t e l l e rFootnote 13 bei seinen Worten gedacht hat, ganz unpartheiisch, historisch grammatisch zu eruiren, – das ist die Pflicht des Exegeten; in welchem Verhältnis aber dieser eruirte Sinn zu den Lehren der Philosophie stehe, wie er mit den Dogmen der Kirche, oder mit den Ansichten ihrer Theologen stimme, wie ihn der Dogmatiker für seine Wissenschaft zu verarbeiten habe, – das geht den Exegeten, als Solchen, nichts an.Footnote 14
Hier kämpft ein Verfasser für die Eigenständigkeit und das Eigenrecht der Exegese innerhalb von Theologie und Philosophie, und genau in diesem Sinne ist auch das Projekt eines exegetischen Kommentars zu verstehen.
Gegenüber der damals weit verbreiteten Tendenz, die neutestamentlichen Texte mithilfe der Philosophie des Deutschen Idealismus zu interpretieren, kann Meyer seine Kritik auch durchaus witzig formulieren. Im Vorwort zur Synoptikerauslegung von 1832 schreibt er: Er werde sich nie mit einer Exegese anfreunden, „welche den Sinn der ntl. Aussprüche philosophisch zurichtet, als ob Jesus und Paulus zu den Füssen Kant's oder Schellings gesessen hätten“Footnote 15.
Damit hatte Meyer einen eigenen Weg zwischen den damaligen großen Lagern der Theologie gefunden, einen Mittelweg, durch den seine Kommentare nicht auf eine bestimmte inhaltliche Linie festgelegt waren, sondern deren Markenzeichen die philologische Methode war. Auch gegenüber den Konstruktionen der Tübinger TendenzkritikFootnote 16 blieb er skeptisch und hat ebenso gegen pietistische Verbiegungen Position bezogen. Diese Unabhängigkeit im Zugang zu den Texten führte offenbar zu der breiten Akzeptanz der Kommentarreihe und sicherte so auch deren verlegerischen Erfolg.Footnote 17
Bei den einzelnen exegetischen Streitfragen war er dementsprechend sehr zurückhaltend. Dabei ist nicht so sehr das Festhalten an der Echtheit des Kolosser- und Epheserbriefs auffällig,Footnote 18 wichtig ist aber, dass er diese Fragen von Auflage zu Auflage immer wieder durchdenkt und Früheres z.T. deutlich revidiert. Besonders bemerkenswert ist, dass er 1853, bei der dritten Auflage des Mt-Kommentars,Footnote 19 dazu übergeht, die Mk-Priorität vorauszusetzen.Footnote 20 Hier, wie auch in anderen Kommentaren, kann man sehen, wie Meyer nicht nur exegetische Meinungen referierte, sondern auch bestrebt war, sie ernsthaft zu bedenken.
Damit sind wir bereits bei dem zweiten Grund für den Erfolg der Kommentarreihe, der ständigen Aktualisierung der Kommentare. Schon 1844, nach zwölf Jahren, Meyer war mit den neu zu bearbeitenden Texten bis zum EpheserbriefFootnote 21 vorgestoßen, da erschien bereits die zweite Auflage des Mt-Kommentars, jetzt als selbständiger Band, dem dann 1846 die zweite Auflage des Kommentars zu Markus und Lukas folgte. Es gab dann nur noch eine Neuedition durch ihn selbst, die sog. „9. Abtheilung“, die die Kommentare über den Philipper-, Kolosser- und Philemonbrief umfasste, ansonsten nur noch Aktualisierungen. Hatte Meyer in den ersten zwölf Jahren acht Neubearbeitungen herausgebracht, so folgten in den anschließenden 30 Jahren, also von 1844 bis zu seinem Tod 1873, insgesamt 39 Bände, eine Neubearbeitung (Phil/Kol/Phlm) und 38 Neuauflagen, also mehr als ein Band pro Jahr. Dabei wurden die Abstände zwischen den Neuauflagen pro kommentierter Schrift immer kürzer, vielfach nur fünf oder sechs Jahre, was sicher auch mit der sich steigernden Nachfrage zu tun hatte.Footnote 22 Das sind natürlich Zahlen, die man heute nie erreichen kann. Auch wenn das Arbeitspensum von Meyer sicher enorm gewesen sein muss – die Menge der zu verarbeitenden Literatur und deren regelmäßige Vermehrung hat heute ganz andere Dimensionen erreicht.
Als Meyer, zum Schluss längst nicht mehr Dorfpfarrer, sondern Superintendent und Konsistorialrat in Hannover und Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Göttingen, im Jahre 1873 starb, hatte er längst mit dem Verlag Vandenhoeck und Ruprecht die Fortführung des Kommentarwerks geregelt. Das war ein entscheidender Schritt für die Fortexistenz der Reihe über den Tod ihres Begründers hinaus. Schon 1850, nach einer schweren Krankheit, hatte Meyer für die letzten verbleibenden sieben Bände weitere Autoren herangezogen. Damit hatte er bereits zu Lebzeiten den Kommentar ein Stück weit von seiner Person abgelöst. Das geschah jetzt endgültig. Die Verantwortung für die Fortführung lag von nun an bei dem jeweiligen Verleger, der die neuen Bearbeiter gewinnen und bestimmen musste.Footnote 23 Erst ab 1971 gibt es einen eigenen Herausgeber für den KEK.
Von 1832, als Meyer den ersten Kommentarband veröffentliche, bis zu seinem Tod 1873 hat sich der Kommentar bereits erheblich gewandelt. Dominierte zunächst im exegetischen Teil der sog. glossatorische Methode, also das Verfahren, am Text entlang philologische und exegetische Beobachtungen aus der Auslegungsgeschichte zu sammeln und dazu Stellung zu beziehen, so ging Meyer selbst im Laufe der Zeit dazu über, diese glossatorische Kommentierung durch thematische Erörterungen zu ergänzen.
Auf dieser letzten Stufe der Entwicklung von Meyer's Kommentar erfolgte eine Übersetzung ins Englische, die beim Verlag T. & T. Clark in Edinburgh ab 1873 erschien.Footnote 24 Hauptherausgeber war William P. Dickson,Footnote 25 in Zusammenarbeit mit Frederick CrombieFootnote 26 und William Stewart.Footnote 27 Die insgesamt 20 Bände umfassende Ausgabe begann mit dem Kommentar zum Römerbrief, dessen erster Band 1873 erschien (Abb. 4).Footnote 28
Er enthielt neben einer ausführlichen Einleitung, in der der Herausgeber Meyer's Kommentarwerk würdigt (p. v - xvii), auch ein von Meyer selbst verfasstes und auf „March 1873“ datiertes Vorwort: „Preface Specially Written by the Author for the English Edition“ (p. xxxi - xxxv). Während der Drucklegung war Meyer verstorben (†21.6.1873), so dass der Herausgeber sein Vorwort um eine persönliche Würdigung ergänzte und einen kurzen biographischen Abriss, verfasst von Meyer's Sohn Gustav Meyer, anfügte. Übersetzt wurden sämtliche von Meyer selbst verfassten Kommentarbände, und zwar jeweils in der letzten von ihm selbst besorgten Auflage.Footnote 29 Die von Gottlieb Lünemann und Johannes Eduard Huther verfassten Kommentare (1/2 Thess; Past; 1/2 Petr, Jud, Hebr, 1 − 3 Joh) wurden ebenfalls übersetzt, aber nicht mehr unter der Verantwortung von W. P. Dickson.Footnote 30 Die Übersetzung des Kommentars zur Johannesoffenbarung durch Friedrich Düsterdieck unterblieb aus Mangel an InteresseFootnote 31 seitens der Subskribenten.
Unmittelbar danach, von 1873 bis 1887 erschien in New York bei Verlag Funk & Wagnalls eine weitere, allerdings unautorisierte englische Ausgabe des KEK. Sie war eine Wiedergabe der bei T. & T. Clark erschienenen Übersetzung, ergänzt um die Übersetzung des Kommentars zur Apokalypse von Friedrich Düsterdieck, wobei es keinen Reihenherausgeber gab, sondern sich acht Herausgeber die Editionsarbeit teilten.Footnote 32 Diese elf Bände umfassende Ausgabe enthielt außer einem eigenen Vorwort des jeweiligen Herausgebers auch „Notes by the American Editor“, die nach jedem Kapitel anfügt wurden. In diesen „Notes“ führt der Herausgeber ergänzende und abweichende Positionen aus der neueren Literatur an, berücksichtigt dabei auch die inzwischen erschienenen Neubearbeitungen des „Meyer“ (z.B. durch Bernhard Weiß) und bezieht auch selbst – z.T. sehr dezidiert – Stellung.Footnote 33
Nach dem Tode von Meyer 1873 lag, wie bereits erwähnt, die Fortführung des Kommentars allein in den Händen des zuständigen Verlegers, Carl Johann Friedrich Wilhelm Ruprecht, der den Verlag von 1861 bis 1897 führte. Es war offenbar der Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl,Footnote 34 der den Verleger auf den jungen aufstrebenden Neutestamentler Bernhard Weiß, damals noch in Kiel, hinwies. Bernhard Weiß war in der Tat die entscheidende Figur in dieser kritischen Phase.Footnote 35
Er bearbeitete zwischen 1878 und 1902 insgesamt sieben Bände („Abteilungen“) des Kommentars, und zwar alle Evangelien, den Römerbrief, die Pastoralbriefe, den Hebräerbrief und die Johannes-Briefe, jeweils in mehreren Auflagen, insgesamt 22 Bände,Footnote 36 und dies neben zahlreichen anderen Publikationen.
Mit dem immensen Einsatz von Bernhard Weiß war einerseits das Überleben der Reihe gesichert, andererseits aber auch eine starke persönliche Fixierung gegeben. Bernhard Weiß schrieb Meyers Kommentare fort, gestaltete sie auch um, ohne völlig neue Bahnen zu betreten. Immerhin wurde neben Bernhard Weiß der damals in Marburg lehrende Georg Heinrici mit der Bearbeitung der Korintherkommentare betreut,Footnote 37 der sich schrittweise von den Meyerschen Vorgaben löste und neues religionsgeschichtliches Material in die Kommentierung mit einbezog.
Nicht zufällig gründete Heinrici 1915 das Forschungsprojekt des „Corpus Hellenisticum“;Footnote 38 aus diesem Bereich stammen auch Heinricis Schüler Eduard von Dobschütz, Martin Dibelius und Hans Windisch, die dann alle Kommentatoren des KEK wurden. Allerdings geschah dies mit einiger zeitlichen Verzögerung: Dobschütz' Kommentar zu den Thessalonicherbriefen erschien 1909,Footnote 39 die Kommentare von Dibelius und Windisch erst nach dem Ersten Weltkrieg, 1921 Dibelius zu Jakobus,Footnote 40 und 1924 Windisch zum 2. Korintherbrief.Footnote 41 Auch für die Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule im engeren Sinne galt dies genauso: Der einzige hier schon früh zu nennende Autor ist Wilhelm Bousset.
Bousset, übrigens mit dem Hause Ruprecht persönlich verbunden, veröffentlichte 1896 den Kommentar zur Offenbarung des Johannes,Footnote 42 was nun auch wieder bezeichnend ist, denn das war das Buch, das in der bisherigen Exegese – und auch im „Kritisch-exegetischen Kommentar“ – keinen besonders guten Stand hatteFootnote 43 und mit dem jedoch Hermann Gunkel 1894 in seinem Buch „Schöpfung und Chaos“Footnote 44 seine neue, die religionsgeschichtliche Methode programmatisch exemplifizierte und damit die religionsgeschichtliche Schule im eigentlichen Sinne begründet hat.Footnote 45 Erst 1910 erschien mit Johannes Weiß der nächste Kommentar aus der religionsgeschichtlichen Schule, nämlich zum 1. Korintherbrief.Footnote 46
Der alte Tanker „Meyerscher Kommentar“ war also nicht so leicht umzusteuern. Die neue Verlegergeneration, der religionsgeschichtlichen Schule und ihren Vertretern auch persönlich durchaus verbunden, erschuf daher im Verlag ein eigenes religionsgeschichtliches KommentarwerkFootnote 47 neben dem KEK, die von Johannes Weiß in zwei Bänden herausgegebenen: „Schriften des Neuen Testaments“.Footnote 48 Im „Meyer“ ging es, wie gesagt, langsamer voran. Aber: es ging immerhin voran, während ja die „Schriften des Neuen Testaments“ ohne Nachfolge blieben.Footnote 49
Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist beides festzustellen, die Fortführung bisheriger Ansätze, d.h. der philologischen und religionsgeschichtlichen Kommentierung im Horizont der liberalen Theologie, dazu gehören, wie schon erwähnt, Dibelius und Windisch.Footnote 50 Daneben stehen theologische Neuaufbrüche, die sich auf ganz spezifische Weise im „Meyer“ widerspiegeln, nämlich im Nebeneinander von Ernst LohmeyerFootnote 51 und Rudolf Bultmann.Footnote 52
Von E. Lohmeyer stammen im KEK zwei vollständige Kommentarbände und ein Sonderband: der 1930 erschienene Kommentar zum Philipper-, Kolosser- und Philemonbrief;Footnote 53 sodann 1937 der Kommentar zum MarkusevangeliumFootnote 54 und 1956 erschienen postum als Sonderband Lohmeyers Vorarbeiten für den geplanten Mt-Kommentar.Footnote 55 Von R. Bultmann erschienen im KEK (wie von E. Lohmeyer) zwei Kommentarbände und ein Sonderband: von 1937 bis 1941 der Kommentar zum Johannesevangelium,Footnote 56 dem erst 1967 der Kommentar zu den Johannesbriefen folgte;Footnote 57 als Sonderband erschien 1976 der Kommentar zum 2. Korintherbrief.Footnote 58
Angesichts der nach dem Ersten Weltkrieg ausgebrochenen Krise der liberalen Theologie wollten beide Autoren nicht bei der historisch orientierten Texterklärung verharren, sondern durchstoßen zu einer Begegnung mit der in den Texten gemeinten Sache,Footnote 59 wobei Bultmann, dessen Kommentar zum JohEv in Lieferungen ab 1937 erschien, dabei die literarischen und religionsgeschichtlichen Fragen nicht überspringen wollte, sondern zum Ausgangspunkt für eine bewusst theologische Exegese benutzte. Bei Lohmeyer wird dagegen „der philologisch-historische Stoff fast durchweg in die Anmerkungen verwiesen“, so im Vorwort der Gesamtausgabe der neunten Abteilung von 1929, die den Philipper-, Kolosser- und Philemonbrief umfasste.Footnote 60 Im diesem Vorwort sagt Lohmeyer auch ausdrücklich, „daß die Kommentare nicht nur im einzelnen nachgeschlagen, sondern im ganzen gelesen werden möchten“.Footnote 61 Den gleichen Anspruch erhebt auch Bultmann in einem Brief an den Verlag von 1941, als der Verlag ihm mitteilte,Footnote 62 nach dem Erscheinen der letzten Lieferung des Johanneskommentars gäbe es Leser, die auf die noch ausstehende Einleitung warteten. Bultmann verweigert eine solche Einleitung. Er schreibt an den Verlag:
Natürlich werden Leser, die den Inhalt des Kommentars kennen lernen möchten, ohne sich die Mühe der Durcharbeitung zu machen, eine zusammenfassende Einleitung vermissen. Aber ich lege keinen Wert darauf, ihnen entgegen zu kommen.Footnote 63
Immerhin hat Bultmann auf Bitten des Verlags seinen Standpunkt in einem „Nachwort“, das als Einlegeblatt dem gebundenen Kommentar beigegeben wurde, erläutert:Footnote 64
Ich habe darauf verzichtet, dem Kommentar eine Einleitung, wie es sonst üblich ist, voraufzuschicken. Was in ihr über die literargeschichtlichen und literarkritischen Fragen zu sagen wäre, ist im Kommentar, zumal in den Analysen, die der Exegese jeweils vorausgehen, hinreichend gesagt. Ebenso enthält der Kommentar selbst das Notwendige über den theologischen Gehalt und die religionsgeschichtliche Stellung des Evangeliums. Eine zusammenfassende Darstellung glaubte ich in diesen Hinsichten durch ausführliche Register ersetzen zu können. Was aber die Diskussion der Verfasserfrage betrifft, so trägt sie für die Exegese gar nichts aus und scheint mir deshalb nicht in einen Kommentar, sondern in das Gebiet der „Einleitung in das Neue Testament“ bzw. in das der alten Kirchengeschichte zu gehören.
Marburg, im Juli 1941 Rudolf Bultmann.Gleichzeitig gibt es auch einen auffälligen Unterschied zwischen Lohmeyers und Bultmanns Kommentaren. Lohmeyers Kommentar zum Philipperbrief (in der Separatausgabe von 1928) ist der erste Kommentar im KEK überhaupt, der eine Übersetzung enthält, die dem jeweils behandelten Textabschnitt vorangestellt ist. Eine derartige Übersetzung fehlte in allen bisherigen Kommentaren, angefangen vom ersten Kommentar 1832 von Meyer zu den Synoptikern, bis 1924, dem Kommentar von Windisch zum 2. Korintherbrief. Der Grund für dieses in der Tat ungewöhnliche Verfahren ist zunächst darin zu sehen, dass Meyer selbst als Auftakt seiner Kommentararbeit eine Text- und Übersetzungsausgabe des gesamten Neuen Testaments vorangeschickt hatte, so dass die einzelne Übersetzung sich zunächst erübrigte. Dabei ist es bis 1928 geblieben. Hier hat der Verlag für eine Änderung gesorgt.
Lohmeyer schreibt im Vorwort zur Separatausgabe des Philipperkommentars von 1928: „Auf Wunsch des Verlages ist der Erklärung eine deutsche Übersetzung beigegeben“Footnote 65 – dieses „auf Wunsch des Verlages“ hat er 1929 im Vorwort der Gesamtausgabe fortgelassen,Footnote 66 aber es folgt jeweils eine Zusatzbemerkung, etwas unterschiedlich formuliert, die 1929 so lautet: „dass sie [nämlich die Übersetzung] den griechischen Text nicht ersetzen, sondern im strengen Sinne ihn übersetzen, d.h. zugleich deuten soll, ist vielleicht nicht ganz unnütz hervorzuheben“.Footnote 67 Lohmeyer hat diese Möglichkeit der Textdeutung auf dem Wege der Übersetzung sofort beim Schopfe ergriffen, und zwar indem er wiederholt den übersetzten Text in Stichen anordnete, so dass das Druckbild bereits die in der Auslegung vorausgesetzte bzw. ermittelte Textstruktur erkennen ließ. Dies gilt neben anderen Teilen des Phil insbesondere für den sog. Philipperhymnus Phil 2,6–11. Hier macht schon die Druckanordnung Lohmeyers Strukturanalyse sichtbar.Footnote 68 Analoges gilt dann für seinen Mk-Kommentar von 1937, wo er den Redentext von Mk 13, 5–37 in Stichen gesetzt hat.Footnote 69
Bultmann hat sich dagegen konsequent geweigert, dem Wunsch des Verlages nach einer Übersetzung des kommentierten Texts nachzukommen. Schon 1928 schreibt er an den Verlag, offenbar auf eine entsprechende Anfrage: „Es wird vermutlich wichtiger sein, den griechischen Text in der stichischen Ordnung (in den in Frage kommenden Partien)Footnote 70 zu drucken, als eine Übersetzung“.Footnote 71 Dabei ist es dann geblieben, und das gilt nicht nur für den 1941 abgeschlossenen Kommentar zum Johannesevangelium, sondern sogar noch für das Spätwerk, den Kommentar zu den Johannesbriefen von 1967.Footnote 72
Abbildung 5 zeigt ein Verlagsprospekt von 1937, eine „Subskriptionseinladung“,Footnote 73 und zwar für insgesamt fünf Bände, deren Neubearbeitung vor kurzem erfolgt war, bzw. in Kürze erwartet wurde. Dabei sind zwei Kommentare bereits erschienen: E. Lohmeyer: „Das Markus-Evangelium“Footnote 74 1937 und O. Michel: „Der Hebräerbrief“Footnote 75 bereits 1936. Besonders interessant sind die Angaben über die noch in Vorbereitung befindlichen Bände:
(a) R. Bultmann: „Das Johannes-Evangelium“;Footnote 76 am Fuß der Seite heißt es, die erste Lieferung ist „vor kurzem erschienen“. Die siebte und letzte Lieferung erschien dann 1941, und Bultmanns Kommentar war der letzte, der geschlossen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen ist.Footnote 77
(b) Aufschlussreich ist auch die Ankündigung des Kommentars über den Römerbrief, der ursprünglich von Ernst von Dobschütz verfasst werden sollte. Nach dessen Tod im Jahre 1934 war der aus Norwegen stammende, in Schweden lehrende Neutestamentler Anton Fridrichsen vorgesehen. Fridrichsen war mit der deutschen Theologie eng verbunden, mit Bultmann befreundet und 1927 Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Marburg geworden.Footnote 78 Allerdings: Nach dem deutschen Überfall auf Norwegen gab Fridrichsen diesen Auftrag zurück.Footnote 79 Mit der Kommentierung des Römerbriefs wurde dann Otto Michel beauftragt.Footnote 80
(c) Schließlich wird auch die Kommentierung des Galaterbriefs durch Heinrich Schlier angekündigt; die erste Lieferung konnte noch 1939 ausgegeben werden, der Gesamtkommentar erschien jedoch erst 1949.Footnote 81
Bultmanns Kommentar konnte allerdings erst nach 1945 seine Wirkung entfalten. Er erschien 1950 in korrigierter Auflage, die dann noch zehnmal nachgedruckt wurde, analog zu Lohmeyers Mk-Auslegung von 1937, die 1951 postum in durchgesehener Auflage erschien und dann noch sechsmal nachgedruckt wurde. Und es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit: Zu beiden Kommentaren erschien mit der ersten korrigierten Auflage ein Beiheft mit größeren Ergänzungen und Änderungen, die jeweils auf die Autoren zurückgingen, bei Bultmann ohnehin und bei Lohmeyer postum aufgrund der Notizen in seinem Handexemplar.Footnote 82
Ein Paukenschlag war dann der Apostelgeschichtskommentar von Ernst Haenchen; Haenchen war von Hause aus Systematiker, ab 1939 in Münster tätig, aber bereits 1946 emeritiert.Footnote 83 Der Kommentar, der 1956 erschien,Footnote 84 gehört faktisch in die Phase der sich entwickelnden Redaktionsgeschichte, und fragt nicht nach den historischen Ereignissen, von denen Lk erzählt, sondern danach, was Lk seinen Lesern von diesen Ereignissen erzählt und wie er es erzählt.Footnote 85 D.h. Haenchen dreht die Perspektive um und nimmt damit viele heutige Einsichten der narrativen Exegese vorweg. Haenchen hat unermüdlich an seinem Kommentar weitergearbeitet. Fünf weitere Auflagen sind erschienen, die letzte 1977 bereits postum, wobei drei Auflagen gründliche Umarbeitungen darstellen.Footnote 86
Mit diesem „Klassiker“ zur Auslegung der Apostelgeschichte soll der Durchgang durch den ursprünglich von Meyer im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begründeten „Kritisch-exegetischen Kommentar über das Neue Testament“ beendet werden.Footnote 87 Die Tendenzen des 20. Jh.s setzen sich im 21. Jh. fort. Folgende Grundtendenzen sind erkennbar:
1 Die philologische, religionsgeschichtliche und traditionsgeschichtliche Analyse der zu kommentierenden Texte ist unumstritten.
2 Genauso unabweisbar ist, dass die Texte als theologische Texte ernst zu nehmen sind, was in der jeweiligen Interpretation zur Geltung kommen sollte.
3 Der Selbstanspruch der Kommentarreihe ist dabei ein doppelter:
a. Der Kommentar will den Lesern eine Analyse und Interpretation der jeweiligen neutestamentlichen Schrift auf der Höhe der gegenwärtigen Fachdiskussion liefern.
b. Der Kommentar will den Lesern eine Auslegung bieten, die auch in 20 oder 30 Jahren noch Bestand hat und nicht nach fünf Jahren überholt ist.
4 Ob allerdings ein Kommentar ein epochemachendes Werk sein wird oder nicht (und es gab ja im KEK durchaus echte Klassiker!), das lässt sich nicht im Voraus festlegen und daher auch in keinen Verlagsvertrag hineinschreiben.