1. In einem jüngeren Papier umreißt Peter C. Moore zunächst eine nicht selten im Blick auf Gal 3.10 vertretene exegetische Auffassung:Footnote 1
The long standing interpretation of this verse treats Paul's argument as a syllogism with a suppressed minor premise. Paul begins with the conclusion: ʻAs many as are of the works of the law are under a curse.' The citation of Deut 27.26 provides the major premise: ʻCursed is everyone who does not remain in all the things written in the book of the law, to do them.' The implied minor premise is that no one is able to do the law sufficiently.
Davon ausgehend, gelangt der am Westminster Theological Seminary wirkende Neutestamentler zu der Auffassung, dass es sich in Gal 3.10, genau besehen, gar nicht um eine „suppressed“ bzw. „implied minor premise“ handle. Die entsprechende Prämisse sei vielmehr bereits in Gal 2.16c mit einer dort im wesentlichen aufgegriffenen Formulierung aus Ps 143(142).2 zum Ausdruck gebracht worden. Mit anderen Worten: Dieser Exeget „supports the traditional understanding“ und vertritt dabei die These, dass „the […] traditional premise in Gal 3.10 is already present in 2.16“Footnote 2.
2. Moore weist fraglos zu Recht auf einen gewissen Konnex zwischen 2.15–21 und dem nachfolgenden Passus 3.1ss. hin.Footnote 3 Zwar ist umstritten, wie man den Galaterbrief genauer zu gliedern haben wird.Footnote 4 Indes, das ab 2.15 zunächst im Blick auf den sog. antiochenischen Konflikt (von 2.11ss.) Geäußerte ist für Paulus offenkundig hinsichtlich der in 3.1 angesprochenen „unverständigen Galater“Footnote 5 von erheblicher Relevanz, denen „[doch] Jesus Christus als Gekreuzigter vor Augen gemalt worden“ war. Darauf deutet etwa auch die Formulierung von Jesus Christus als „Gekreuzigtem“ hin (s. 3.1), die ja an die zuvor in 2.19 gebrauchte Wendung Χριστῷ συνεσταύρωμαι anknüpfen dürfte. Was 2.16 und 3.1ss. – dort insbesondere 3.10(–12) – anbetrifft, fällt zudem die Wiederaufnahme des Syntagmas ἔργα νόμου (von 2.16a, 16b, 16c) in 3.2, 5, 10 auf, ferner der erneute Gebrauch von Vokabeln der Wortfamilie um πίστις (s. bes. 3.2, 5, 6, 7, 8, 9, 11, 12, 14, 20, 23, 24, 25, 26; zuvor: 2.16a, 20) sowie des Verbs δικαιοῦν (s. bes. 3.8, 11, 24; zuvor: 2.16a, 16b, 16c, 17; vgl. δικαιοσύνη [s. bes. 3.6, 21; zuvor: 2.21], auch δίκαιος [3.11]), überdies die Verwendung von θεός (s. bes. 3.6, 8, 11; zuvor: 2.19, 20, 21) und von σάρξ (s. 3.3; zuvor: 2.16, 20). Das zuletzt angesprochene Detail verdient auch insofern Erwähnung, als hinsichtlich der in recht deutlicher Anlehnung an Ps 142.2LXX gewählten Schlussworte von 2.16c (οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σάρξ) gelten wird: „Paul […] departs from the Septuagint by using πᾶσα σάρξ [!] instead of πᾶς ζῶν“Footnote 6.
Überdies wirkt das von Moore zu einem Syllogismus in 3.10(–12) Erwogene weithin durchaus interessant. Das betrifft schon die grundsätzliche Bereitschaft, gerade auch hier mit der Möglichkeit einer solchen durch klassische logische Prinzipien bestimmten Argumentation zu rechnen, sodann die Vorstellung, es werde diesmal die Konklusion nicht nachfolgen, vielmehr voranstehen, und schließlich die Überlegung, bei den Prämissen könnten Schriftworte – wie Dtn 27.26 und Ps 143(142).2 – eine Rolle spielen.
Syllogismen begegnen bei Paulus nämlich verschiedentlich,Footnote 7 und jedenfalls das γάρ vor dem Deuteronomium–Zitat von 3.10b passt zum Beginn einer Prämisse (insbesondere: einer praemissa maior).Footnote 8 Dass die „Schlussfolgerung“ zu Beginn ihren Platz hat, ist in der Antike und auch bei Paulus nicht eben ungewöhnlich.Footnote 9 Man nennt die conclusio deshalb in solchen Fällen gerne auch propositio.Footnote 10 Zudem sind natürlich als wahr geltende Aussagen, also z.B. manche Formulierungen von Glaubensbekenntnissen oder bestimmte Bibelworte, als Prämissen recht gut geeignet.Footnote 11 Man möchte von derart für richtig erachteten Sätzen her ja letztlich doch auch die conclusio (bzw. propositio) als wahr begreifen.Footnote 12
3. Freilich: Es drängen sich im Hinblick auf Moores Ausführungen durchaus auch gewisse Anfragen auf. Diese haben es nicht zuletzt mit dem rückwärtigen Kontext von 3.10 zu tun, vor allem jedoch damit, dass dieser Exeget nicht wirklich erwägt, ob auch die beiden nachfolgenden Verse, V. 11–12, jenem Syllogismus–Gebilde zuzurechnen sein werden, das (bereits) in V. 10a eben mit einer „conclusion“ aufzuwarten scheint.
(1) Was den „rückwärtigen Kontext von 3.10“ anbetrifft, sei dreierlei angesprochen:
(a) Nicht genug dürfte Moore berücksichtigen, dass es in 2.15–21 zunächst nicht schon unmittelbar um die „unverständigen Galater“ (3.1) geht, sondern erst einmal um einen Kreis von solchen Menschen, die „von Geburt Juden“ sind, „nicht [!] Sünder aus den Heiden“ (2.15). Die in V. 16c fraglos in Anlehnung zumal an Ps 143(142).2 gewählten Worte, welche Paulus im Übrigen nicht als Zitat – nicht etwa unmittelbar durch ein ὅτι (s. z.B. 3.10b [Dtn 27.26] und 3.11b [Hab 2.4]) – einleitet, begegnen hier denn auch schwerlich in Gestalt einer Prämisse.Footnote 13 Mit V. 16c wird vielmehr das bereits zuvor in V. 16a und V. 16b Gesagte nochmals bekräftigt, dass es nämlich „aus Werken des Gesetzes“ nicht zur Rechtfertigung komme bzw. kommen werde.
(b) Nicht eben sonderlich glücklich kann einem auch der Umgang Moores mit dem Syntagma ἔργα νόμου (von 2.16a, 16b, 16c [und von 3.2, 5, 10]) vorkommen, das er zunächst mit „works of the law“ wiedergibt,Footnote 14 dann aber verschiedentlich „einfach“ auch mit „works“ aufzugreifen unternimmt.Footnote 15 Zwar kann er – angesichts der „crises in Antioch and Galatia“Footnote 16 (und vielleicht auch wegen 2.1–10 [s. bes. V. 3, 7–9]) – durchaus sagen: „the context shows“: „ἔργα νόμου distinguish Jew from gentile“.Footnote 17 Aber gegenüber einer Fokussierung auf so etwas wie „boundary markers“ des JudentumsFootnote 18 verhält er sich gleichwohl recht skeptisch, sofern „the inclusion of this phrase in the [2.16c–] allusion to Ps 143.2“, wie er meint: „suggests that these works have moral significance“ (d.h.: „they contribute to or constitute one's moral standing before God“).Footnote 19 Der briefliche Zusammenhang (vgl. im Blick auf ihn neben 2.1–14 etwa auch 5.2–3, 6, 11; 6.12–13, 15) tritt damit in merkwürdiger Weise zurück, während das, wie wir zu urteilen hatten, lediglich „bekräftigende“ Wort gemäß Ps 143(142).2 doch wohl zu stark akzentuiert wird. (Die bislang einzige vorpaulinische Parallele zum Ausdruck ἔργα νόμου, welche bekanntlich ja in 4QMMT C27 begegnet,Footnote 20 wird im Übrigen in Moores Papier nicht eigens angesprochen.)
(c) Zudem sollte der in 2.15–21 (und in 3.1) nahezu unübersehbare Christus–Bezug (s. 2.16, 17, 20, 21 [mit nicht weniger als acht Belegen für das Lexem Χριστός!]) ernsthaft bedacht werden. Spätestens die Aussage von V. 21b macht nämlich deutlich (s. indes etwa auch V. 18Footnote 21), dass sich die Einsicht in die Nicht–Rechtfertigung durch das Gesetz nach dem Duktus dieses Passus nicht eigentlich aufgrund von Ps 143(142).2 ergeben hat, vielmehr als Folgerung aus dem Anschluss an Christus und aus dem (als heilvoll begriffenen) Tod Jesu Christi.Footnote 22
Dem „rückwärtigen Kontext von 3.10“ geht es in dem Passus 2.15–21 erst einmal um „Juden“, die sich zunächst offenbar eben nicht den nicht–jüdischen „Sündern“ zurechnen zu müssen glaubten. Sie sollen dann indes durch die Begegnung mit Christus bzw. dem Christus–Evangelium erfasst haben, dass „ein Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerechtgesprochen wird“ (2.16a) und dass auch nicht gilt: διὰ νόμου δικαιοσύνη (2.21b; vgl. 2.16c, 17a, 18). Die auf Ps 143(142).2 zurückgreifende Formulierung von 2.16c bekräftigt diese Einsicht. Aber das „Zitat“ wird hier eben gerade nicht in der sprachlichen Gestalt einer Syllogismus–Prämisse präsentiert, und es fehlt ihm auch der pluralische Ausdruck „Werke des Gesetzes“ – oder eine damit vergleichbare Formulierung –, der es doch wohl mit „boundary markers“ des Judentums zu tun haben dürfte, insbesondere mit der Beschneidungsregel und mit bestimmten jüdischen Speisevorschriften.Footnote 23 Gerade solche „halakhischen Bestimmungen“ waren ja angesichts von zur Gemeinde der Christus–Anhänger/innen hinzugekommenen nicht–jüdischen Personen in 2.1–10 und 2.11–4 schon anzusprechen – und nicht zuletzt um derartige Leute geht es offenkundig gerade auch bei den „unvernünftigen Galatern“ von 3.1(ss.) (s. dazu bes 4.8–10).
(2) Vor allem indes spricht gegen den Versuch, dem „Syllogismus“ von 3.10 mit dem Ps 143(142).2–Wort von Gal 2.16c als einer in 3.10(–12) angeblich fehlenden Prämisse aufzuhelfen, ein genauerer BlickFootnote 24 auf V. 10–12: Es folgen der in V. 10b aus Dtn 27.26 aufgenommenen Formulierung nämlich noch zwei weitere alttestamentliche Worte, eines aus Hab 2.4 und eines aus Lev 18.5, und in beiden Fällen deutet die Art, wie Paulus diese Zitate in Gal 3.11b, 12b einführt, darauf hin, dass es sich hier um Prämissen handeln wird.Footnote 25 Deshalb dürfte in 3.10–12 auch nicht nur ein einziger Syllogismus vorliegen. Man wird vielmehr von einer Aufeinanderfolge – und einem Miteinander – zweier prädikatenlogischer Syllogismen zu sprechen haben.
Der Rhetorik–Kenner Heinrich Lausberg jedenfalls urteilt generell, dass eben bei solchen Syllogismen „die praemissa maior […] häufig durch eine begründende Partikel (γάρ, nam, fr. car) eingeführt wird“ und die kleinere Prämisse „als Gegensatz […] zur praemissa maior häufig durch eine adversative Partikel (δέ, sed, at; fr. mais, or)“.Footnote 26 Dazu passt, dass in 3.10–12 ein ausgesprochen „interessantes Nacheinander“ begegnet, „das die innere Verknüpfung zu erhellen verspricht: γάρ (V. 10b), (ὅτι) δέ, (V. 11a), ὅτι (V. 11b), δέ, (V. 12a)“, womit ja „zweimal“ so etwas wie ein „denn …, aber …“ zum Ausdruck gebracht wird.Footnote 27 Fasst man mit Moore V. 10a als „conclusion“ auf – genauer: als propositio –, so ließe sich sehr gut an das Nacheinander von fünf Syllogismus–Sätzen denken. Das würde freilich für zwei Syllogismen numerisch noch nicht ganz reichen – bräuchte es dazu doch eigentlich nicht fünf, sondern sechs Aussagen –. Indes: V. 11a lässt sich als propositio von V. 11a–12 und zugleich auch als praemissa minor von V. 10a–11a begreifen!
Damit ergeben sich nun die folgenden beiden Syllogismen (von denen man den voranstehenden gemäß mittelalterlicher Terminologie der „Ersten Figur“ zuzurechnen hat und genauer als „Barbara“ beschreiben kann, während der andere als „Camestres“ zur „Zweiten Figur“ gehörtFootnote 28):Footnote 29
V. 10a: Jeder aus Werken des Gesetzes Seiende ist ein Verfluchter.
V. 10b: Jeder Verletzer von Gesetzesvorschriften ist ein Verfluchter [Dtn 27.26].
V. 11a: Jeder aus Gesetzesvorschriften Seiende ist ein Verletzer von Gesetzesvorschriften.
V. 11a: Jeder aus Gesetzesvorschriften Seiende ist ein Nicht–Gerechter.
V. 11b: Jeder Gerechte ist aus Glauben [Hab 2.4].
V. 12: Jeder aus Gesetzesvorschriften Seiende ist nicht aus Glauben [Lev 18.5].
Bei den einzelnen Sätzen wurden soeben die in 3.10–12 gegen Beginn der entsprechenden Formulierungen verwandten Partikel weggelassen, und die dem jeweiligen Syllogismus voranstehende conclusio (bzw. propositio) wurde zudem in beiden Fällen durch Kursivdruck hervorgehoben. So wird die Aufeinanderfolge von einzelnen Sätzen und die Korrektheit jeder der beiden Folgerungen aus den als richtig vorausgesetzten Prämissen hinreichend deutlich vor Augen stehen – jedenfalls dann, wenn man eine gewisse Parallelität der Ausdrücke „Werke des Gesetzes“ und „Gesetzesvorschriften“ einräumtFootnote 30, ferner die Entsprechung von „Verletzer von Gesetzesvorschriften“ und „Nicht–Gerechter“Footnote 31. Es handelt sich demnach in der Tat um zwei recht bemerkenswerte paulinische Syllogismen. Die Folgerungen ergeben sich dabei, wie soeben durch die eckigen Klammern angedeutet werden sollte, durchweg aus biblischen Aussagen, freilich nicht aus Ps 143(142).2, vielmehr bei V. 11a aus Hab 2.4 („der aus Glauben Gerechte wird leben“) sowie aus Lev 18.5 („wer sie getan hat, wird durch sie leben“), bei V. 10a aus Dtn 27.26 („Verflucht ist jeder, der nicht beharrt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht, dass er es tue“) sowie, angesichts der propositio Gal 3.11a, eben auch aus Hab 2.4 und Lev 18.5.Footnote 32
4. Als Ergebnis wird man darum wohl Folgendes festzuhalten haben: Da Paulus sich in den Versen Gal 3.10–12 bei den Prämissen der hier von ihm gebotenen argumentativen „Sätze“ letztlich durchweg auf alttestamentliche Aussagen bezieht, wird sich „[t]he long standing interpretation of this verse“, i.e.: 3.10, kaum halten lassen, es handle sich hier um „a syllogism with a suppressed [!] minor premise“. Auch Moores alternative These, es sei „the […] traditional premise in Gal 3.10 […] already present in 2.16“, vermag schwerlich zu überzeugen, zumal Ps 143(142).2 in Gal 2.16c ja nicht eigentlich als eine Prämisse gebraucht wird, vielmehr allein der Bekräftigung des in V. 16 bereits zuvor Ausgeführten dient. Dem Apostel geht es in 3.10–12 nicht zuletzt um die Frage, was die – z.B. beim antiochenischen Konflikt umstrittenen – „Werke des Gesetzes“, was „boundary markers“ des Judentums (wie etwa auch die Beschneidungsregel [vgl. bes. Gen 17.10–14]) für nicht–jüdische Christus–Anhänger/innen bedeuten werden.Footnote 33 Nicht zuletzt gegenüber solchen PersonenFootnote 34 unternimmt es Paulus, in diesen drei Versen mit zwei entscheidend durch biblische Formulierungen – jenseits von Ps 143(142).2 – geprägten (prädikatenlogischen) Syllogismen (der „Ersten“ sowie der „Zweiten Figur“) zu demonstrieren, dass gerade auch bei den Adressaten des Galaterbriefs „Werke des Gesetzes“ nicht Positives bewirken würden, vielmehr Negatives (s. bes. V. 10a).
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