Einleitung
Das Johannesevangelium berichtet von einer Begegnung zwischen Jesus und einer namenlosen samaritanischen FrauFootnote 1 am Jakobsbrunnen. Diese Begegnung, die als Anspielung auf ein Motiv der „Schrift“ verstanden werden kann,Footnote 2 hat die exegetische Literatur stark befruchtet. Der Verfasser des Johannesevangeliums scheint bei seiner Konstruktion der Erzählung auf der narrativen Ebene Aussagen über das Verhältnis von Juden und Samaritanern eingebunden zu haben, die vor dem Hintergrund der „Schrift” eine tiefere Bedeutung erhalten.Footnote 3
1. Traditionelle Deutungen der Perikope
Von der Deutung der Samaritanerin (und damit eben gerade auch von der Beurteilung des Verhältnisses von Juden und Samaritanern) hängt ab, ob die vorliegende Stelle als speziell für die Samaritaner-Mission verfasst bzw. aus dieser entstanden oder als eine „Sendung Jesu in die Welt“Footnote 4 gedeutet wird. Die Samaritanerin wird teilweise als gesellschaftliche „Außenseiterin“Footnote 5 konstruiert. Allerdings hat sie ein ausreichendes Ansehen, dass aufgrund ihres Zeugnisses Samaritaner zum Glauben kommen (Joh 4.39). Dies würde gegen die Zuschreibung einer „Außenseiter-Rolle“ sprechen.Footnote 6 Und so kann dann diese Erzählung auch als „Ausdruck der hohen Wertschätzung [gewertet werden], die Frauen in den johanneischen Gemeinden offenkundig genossen: Die Samaritanerin ist die erste Missionarin im Buch (Maria Magdalena die letzte); überwältigt von Jesus, bringt sie viele Menschen ihrer Heimatstadt durch ihr Zeugnis (V. 39) zum Glauben an ihn.“Footnote 7
Als eine mögliche Interpretation der Erzählung und gleichzeitig als möglicher Sitz im Leben wird eine christliche Mission unter Samaritanern vorgeschlagen.Footnote 8 Nach Jürgen Zangenberg handelt es sich bei der vorliegenden Passage um eine „ätiologische Legende zur Begründung der Existenz samarischer Christen und paränetischen Appell zur Legitimation ihrer Aufnahme in den joh Gemeindeverband“.Footnote 9 Diese These ist nach Martina Böhm „in ihrem ersten Teil plausibel, in ihrem zweiten aber so wohl kaum belegbar“.Footnote 10 Die Perikope von der Samaritanerin wird bei einer solchen Interpretation häufig im Zusammenhang mit Apg 1.8 und 8.4–8 gesehen. Allerdings weist z. B. Raymond Brown ausdrücklich darauf hin, dass in der Apostelgeschichte nicht erwähnt wird, dass Jesus bereits vor den Aktivitäten des Philippus Anhänger in Samarien hatte.Footnote 11
Eine Deutung der vorliegenden Passage als „Sendung in die Welt“,Footnote 12 d. h. eine Mission „außerhalb des Judentums“,Footnote 13 wird häufig auch durch die synoptischen Inter- bzw. PrätexteFootnote 14 bestärkt. Dietzfelbinger weist darauf hin, dass die „Synoptiker … keinen missionarischen Erfolg Jesu bei den Samaritanern …“ kennen und dass erst „nachösterlich“ mit Verweis auf die Apostelgeschichte von einer Mission in Samarien gesprochen werden könne.Footnote 15 So findet sich in Mt 10.5b ein Verbot, „die Stadt der Samariter? zu besuchen. Die „Zwölf“ werden in Mt 10.5–6 von Jesus nicht zu den „Völkern“ und nicht zu den Samaritanern, sondern vielmehr zu den „verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ gesandt. Nach Mt 10.6 scheinen die Samaritaner nicht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu gehören.Footnote 16 Auch in Lk 9.52–3 ist eine eher feindliche Haltung zwischen Jesus und den Samaritanern zu erkennen,Footnote 17 eine Deutung, die man ebenfalls durch Joh 4.9c begründet sieht,Footnote 18 wo in einem redaktionellen Kommentar die große Distanz zwischen Samaritanern und Juden betont zu werden scheint.Footnote 19 Da dieser Teil des Verses in Codex Sinaiticus (1. Hd.), in Codex Bezae Cantabrigiensis und in einer Reihe lateinischer Handschriften fehlt, wird dies auch als eine nachträgliche Glosse gedeutet.Footnote 20
Auch tritt teilweise die Frau in den Vordergrund der Auslegungen. Sie kann zum Typus des „Menschen an sich“ werden, der auf die Botschaft Jesu reagiert.Footnote 21 Ferner kann auch die persönliche Situation der Frau in ihren Beziehungen – so beispielsweise bei Johannes CalvinFootnote 22 – in einer moralischen Weise gewertet werden.Footnote 23 In diesem Kontext wird auch die Frage der Unwürdigkeit der Frau in Relation zu ihrer Zeugnisfähigkeit thematisiert.Footnote 24 Vor dem Hintergrund dieser Deutungsmöglichkeiten ist nun zu fragen, ob möglicherweise andere Deutungen in dem Text angelegt sein könnten.
2. Die Begegnung am Brunnen als Motiv der „Schrift“
2.1 Brunnen und keine Brautwahl
Grundsätzlich sprachen Männer nicht mit unbekannten Frauen, sodass eine derartige Begegnung mit Aufnahme eines Dialogs als Motiv gesehen werden muss.Footnote 25 Begegnungen an einem Brunnen können in der Schrift mit dem Motiv der Brautwahl bzw. Anbahnung einer Hochzeit verbunden sein.Footnote 26 Dies gilt gerade für Texte, die dem Pentateuch zuzuordnen sind.Footnote 27 Der Pentateuch wird von Juden und Samaritanern benutzt, sodass dieses Motiv sowohl für Samaritaner als auch für Juden eine Bedeutung hat. Deswegen wird in diesem Kontext auch von einer „,messianischen Brautwerbung' Jesu in Samarien“Footnote 28 gesprochen.
Diese potentielle Brautwerbungsszene nimmt jedoch einen untypischen Verlauf. Eine Frau wird aufgefordert, ihren Mann zu rufen (Joh 4.16), und antwortet (formal korrekt), dass sie „keinen Mann habe“ (Joh 4.17a), bezeichnet sich also auf den ersten Blick als unverheiratet. Es scheint, dass mit Jesus und dieser Frau zwei unverheiratete (und damit heiratsfähige) Personen an diesem Brunnen zusammengekommen sind. Dieser Eindruck wird durch die Antwort Jesu zerstört (Joh 4.18): Fünf Männer habe sie gehabt und der, den sie jetzt habe, sei nicht ihr Mann. Deswegen habe sie wahr gesprochen.
In der Auslegung wird häufig die eheliche Situation der Frau moralisch wertendFootnote 29 thematisiert. Die fünf Männer der Samaritanerin wurden aber auch allegorisch als die fünf Sinne des Menschen oder die fünfFootnote 30 Götzen der SamaritanerFootnote 31 und der „Buhle Jahwe“ gedeutet.Footnote 32 Vom Leser wird bei dieser Deutung des Textes einerseits eine vergleichsweise genaue Kenntnis von 2 Kön 17.24–41 (dort vor allem 30–1)Footnote 33 und andererseits eine Unkenntnis des samaritanischen Pentateuch erwartet, der die Grundlage des „israelitischen“Footnote 34 Monotheismus der Samaritaner mit ihrem Zentralheiligtum auf dem Garizim darstellt.Footnote 35 Dies erweist die Deutung auf die „Götzen“ als problematisch und eröffnet die Frage nach dem Ort der Begegnung.
2.2 Sychar beim Brunnen
Der Brunnen hat bereits bei seiner ersten Erwähnung eine zentrale Stellung. Er scheint wichtiger zu sein als der Ort,Footnote 36 in dessen Nähe er liegt, befindet sich doch nach dem Wortlaut der Stelle der Ort „Sychar in der Nähe des Feldes, das Jakob seinem Sohn Josef gab. Und dort war der Brunnen“ (vgl. Joh 4.5–6a). Die relativ unbekannte Stadt Sychar begegnet auch in einigen anderen Quellen.Footnote 37 Christliche Autoren der Antike scheinen für den Ort auf Joh 4.5 Bezug zu nehmen, ohne genaue Ortskenntnis zu besitzen. Eine Lokalisierung bei dem heutigen arabischen Dorf ‘Askar scheint möglich,Footnote 38 jedoch alles andere als sicher.Footnote 39 In der syrischen Überlieferung wird der Name der Stadt zur bekannten Stadt Sichem korrigiert.Footnote 40 Es ist also die Frage, worin die Bedeutung des „geschichtsträchtigen Ortes“ genau besteht.Footnote 41 Der Ort wird auch als „Nachfolgesiedlung des durch Johannes Hyrkan zerstörten Sichem“ gesehen.Footnote 42 Auffällig ist, dass der „Jakobsbrunnen“ nur in christlichen Quellen begegnet.Footnote 43
Die eher unbekannte Stadt Sychar betont also den Brunnen. Und dieser ist mit einer Genealogie verbunden: Das Feld wurde von Jakob seinem Sohn Josef gegeben. Und der Brunnen ist „die Quelle des Jakob“. Gleich an drei Stellen in der vorliegenden Erzählung von der Begegnung am Brunnen – aber dafür nur dort – begegnet der Erzvater Jakob im Johannesevangelium.Footnote 44 Ferner handelt es sich um die einzige Erwähnung des Stammvaters Josef im gesamten Johannesevangelium.Footnote 45 Mit der wiederholten Erwähnung Jakobs wird der Blick geöffnet auf die Bedeutung des Erzvaters innerhalb der vorliegenden Erzählung. Dies ist im folgenden Abschnitt zu untersuchen.
2.3 Jakob, Josef und die Samaritaner
Am Beginn der Erzählung wird durch die Erwähnung des Umstandes, dass Jakob seinem Sohn Josef dieses Land gegeben hat, der Ort, an dem Jesus und die Frau einander begegnen, als zum Hause JosefFootnote 46 gehörig identifiziert.Footnote 47 Das Gebiet wird durch die Erwähnung des Stammvaters Josef für die Stämme Ephraim und Manasse reklamiert.Footnote 48 Historisch war das Gebiet Samarien weitgehend identisch mit dem Stammesgebiet von Ephraim und Manasse.Footnote 49 Nicht nur für Juden, sondern auch für Samaritaner gilt offensichtlich nach dieser Einleitung, dass sie vom Stammvater Jakob abstammen. Damit sind sie den zwölf Stämmen Israels zugeordnet und Teil des erwählten Volkes.Footnote 50 In epigraphischen Zeugnissen bezeichnen sich Samaritaner als Israeliten.Footnote 51
Gegen diese Deutung könnte man die Frage der Frau anführen: „Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritanische Frau?“Footnote 52 Der redaktionelle Kommentar in 4.9c scheint eine strikte Trennung zwischen Juden und Samaritanern zu bestätigen.Footnote 53 Der genaue Sinn des redaktionellen Kommentars hängt unter anderem mit der Deutung von συγχράομαι zusammen. Man könnte als Übersetzung – bei einer eher engen Deutung des Wortes – auch vorschlagen: „Denn die Juden gebrauchen nicht gemeinsam mit den Samaritanern.“Footnote 54 „Nun fehlt freilich in Joh 4,9c ein direktes Objekt zum Verbum συγχράομαι“,Footnote 55 doch auch ohne die Nennung eines Gefäßes als Objekt scheint das Wort nicht zwingend mit „Umgang pflegen“ zu übersetzen, da die Grundbedeutung „gemeinsam gebrauchen“ ist.Footnote 56
An der vorliegenden Stelle wird bei dieser Deutung die Gefahr der rituellen Verunreinigung durch gemeinsamen Gebrauch von GefäßenFootnote 57 oder den Umgang mit Personen, die sich nicht an die strengen jüdischen Reinheitsgebote halten, vorausgesetzt;Footnote 58 eine derartige Gefahr wird auch an einer anderen Stelle des Johannesevangeliums thematisiert.Footnote 59 Bei diesem Verständnis von Joh 4.9c könnte man hinter dieser Frage der Frau (Joh 4.9b) eine Anspielung auf die zur Zeit Jesu existierende Auffassung finden, dass samaritanische Frauen als unrein galtenFootnote 60 und deswegen keine gemeinsame Nutzung von (potentiell unreinen) Gegenständen durch Juden und Samaritaner stattfand.Footnote 61 Die fehlende Tischgemeinschaft führt selbstverständlich auch zu einer soziologischen Trennung von Juden und Samaritanern,Footnote 62 die durchaus auch von jüdischen Rabbinern bewusst vorangetrieben wurde.Footnote 63
Dass der Kommentar in Joh 4.9c in seiner traditionellen Deutung die Narrative der vorliegenden Passage durchbricht, wird durch den weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich: In Vers 12 bemerkt die Frau: „Bist du denn mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh.“Footnote 64 Die Samaritanerin bezeichnet mit dem Personalpronomen der ersten Person Plural im Genitiv – und damit ersetzt das Personalpronomen ein Possessivpronomen – ihr Verhältnis zu dem Stammvater Jakob. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, diese Zuordnung zu verstehen. Die naheliegende Möglichkeit ist, dass es sich um einen inklusiven Gebrauch des possessiv verwendeten Personalpronomens handelt: In diesem Fall würde die Frau zwischen ihrer eigenen Existenz als Samaritanerin und Jesu jüdischer Identität eine Brücke durch den gemeinsamen Vater Jakob schlagen. Er ist der Stammvater aller Israeliten und sowohl Juden als auch Samaritaner – d. h. Mitglieder der Stämme Ephraim und ManasseFootnote 65 aus dem Hause Josef – gehören zu einem Volk.
Eine andere, nicht völlig auszuschließende Deutungsmöglichkeit wäre ein exklusiver Gebrauch.Footnote 66 In diesem Fall würde die Frau Jakob als Stammvater für sich reklamieren und dadurch in eben der Art, wie ein Teil der jüdischen Überlieferung den Samaritanern ihre Zugehörigkeit zum Volk Israel, den Juden ihre Zugehörigkeit zum Volk Israel absprechen und für sich allein die wahre Überlieferung reklamieren. Gegen diese Deutung lässt sich das Ende der wörtlichen Rede der Frau in Joh 4.12 anführen: Jakob hat zusammen mit seinen Kindern aus diesem Brunnen getrunken. Damit nimmt die Samaritanerin in ihren wörtlichen Reden einerseits auf die Aufteilung der Stammesgebiete durch Jakob Bezug: Das Land, auf dem dieser Brunnen liegt, wurde den Samaritanern gegeben. Andererseits betont sie, dass zwischen den Nachkommen Jakobs Gemeinschaft bestand: Jakob, seine Söhne und sein Vieh haben aus diesem Brunnen getrunken.
Grundsätzlich lassen sich diese zwei möglichen Deutungen des possessiv gebrauchten Personalpronomens mit der ambivalenten Situation zwischen Juden, Samaritanern und dem Selbstverständnis der Samaritaner in Verbindung bringen: Der Name „Samaritaner“ wurde aus dem zweiten Buch der Könige abgeleitet, wo er als Beispiel für eine Gruppe geführt wird, die Gott fürchtete, allerdings zusätzlich ihre Götzen anbetete.Footnote 67 Nach dieser Darstellung handelt es sich um eine ethnisch dem Judentum zuzurechnende Gruppe, die jedoch den jüdischen Monotheismus um synkretistische Tendenzen erweitert hat.Footnote 68
Möglicherweise sogar als direkte Reaktion auf diese Herleitung der Entstehung der Samaritaner in einer für die Samaritaner nicht kanonischen Schrift des Judentums wurde der Name der Glaubensgemeinschaft von den Samaritanern selbst nicht von dem von ihnen besiedelten Land, sondern vom hebräischen Wort שׁמר abgeleitet: Die Bedeutung des Namens kann bei dieser Etymologie mit „die Hüter des göttlichen Gesetzes“ angegeben werden.Footnote 69 Ein relativ später Beleg für diese etymologische Deutung des Namens findet sich bei Epiphanius von Salamis.Footnote 70 Der samaritanische Pentateuch hält selbstverständlich am jüdischen Monotheismus fest, sodass der in 2 Kön 17 zu findende Vorwurf des Synkretismus diese Gemeinschaft nicht korrekt zu charakterisieren scheint. Gerade weil der samaritanische Pentateuch die normative Schrift der Gemeinschaft ist,Footnote 71 stehen die unterstellten synkretistischen Tendenzen nicht in Einklang mit der theologischen Ausrichtung der Samaritaner.Footnote 72
Die Betonung einer direkten Abstammung der Samaritaner vom Stammvater Jakob stellte eine Provokation dar.Footnote 73 Trotzdem bezeichnet die unbekannte Samaritanerin am Brunnen sich und alle Samaritaner unwidersprochen als „Kinder Jakobs“. Gerade weil Jesus an anderer Stelle den Juden die Abrahamskindschaft abspricht,Footnote 74 muss betont werden, dass die Berufung auf den gemeinsamen Vorfahren und Vater Jakob unwidersprochen bleibt.Footnote 75 Nach Urban von Wahlde handelt es sich bei der polemischen Aussage Jesu, dass die Juden „Kinder des Teufels seien“ (Joh 8.37ff.), um die Formulierung einer innerjüdischen Polemik,Footnote 76 mit welcher eine gegnerische Gruppe ausgegrenzt und dieser die jüdische Identität abgesprochen werden sollte.Footnote 77 Die Beziehung zwischen den beiden Passagen wird sicher auch dadurch verstärkt, dass die Frage der Samaritanerin in Joh 4.12a (μὴ σὺ μείζων εἶ τοῦ πατϱὸς ἡμῶν Ἰαϰώβ) – falls man den dort verwendeten Namen austauscht – wörtlich der Frage der Juden in Joh 8.53a (μὴ σὺ μείζων εἶ τοῦ πατϱὸς ἡμῶν Ἀβϱαάμ) entspricht.Footnote 78 In beiden Fällen wird die Identität durch die Genealogie zum Ausdruck gebracht.
Durch die Erwähnung des Feldes, das „Jakob seinem Sohn Josef gab, wo der Brunnen des Jakob war“ (Joh 4.5), und der Bezugnahme auf „unseren Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat“ (Joh 4.12), wird auf der narrativen Ebene die Selbstdefinition der Samaritaner anerkannt. „Sie sehen sich als direkte Nachfahren der Söhne Josephs und Enkel Jakobs, Ephraim und Manasse, an, und setzen den Ursprung ihrer Geschichte mit der Landnahme der zwölf Stämme im Heiligen Land an.“Footnote 79 Gerade wenn der Evangelist „über die Ortslage und auch über den Konflikt zwischen Samaritanern und Juden relativ präzise Bescheid weiß“,Footnote 80 muss ihm bewusst gewesen sein, dass diese Berufung der Samaritanerin auf den gemeinsamen Vater Jakob in jüdischer Perspektive als klare Aussage einer Zugehörigkeit zum Haus Josef und zum Volk Israel gewertet werden muss.Footnote 81
2.4 Die potentielle Wiedervereinigung von Juda und dem Haus Josef durch einen davidischen Herrscher
Dass der halachische Ausschluss der Samaritaner als Teil jüdischer Identitätsbildung gesehen werden muss, ist offensichtlich.Footnote 82 Dieser machte jedoch ein positives Verständnis der Samaritaner als „Israeliten“ schwierig.Footnote 83 Dies ändert jedoch nichts daran, dass in prophetischer Literatur „Israel“ sehr wohl die Reste aller Stämme umfassen konnte,Footnote 84 während Texte des Talmud auch mit Rückgriff auf die Geschichte Israels die Samaritaner nicht zu „Israel“ rechnen.Footnote 85 Im Propheten Ezechiel (37.15–28) wird die Wiedervereinigung des Hauses Juda mit dem Haus Josef angekündigt – und zwar unter „David“:Footnote 86 Das Bild, das dafür gewählt wird, ist das von zwei Hölzern die wiedervereinigt werden: „So sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will das Holz Josefs, das in der Hand Ephraims ist, nehmen samt den Stämmen Israels, die sich zu ihm halten, und will sie zu dem Holz Judas tun und ein Holz daraus machen, und sie sollen eins sein in meiner Hand.“Footnote 87 Dies scheint auch der Standpunkt anderer normativer Texte des Judentums zu sein.Footnote 88 Interessant ist sicherlich in diesem Zusammenhang, dass die abschließenden Worte des rabbinischen Traktates über die KutimFootnote 89 (bereits diese Bezeichnung für die Samaritaner stellt eine implizite Polemik dar)Footnote 90 eine Abkehr von der Verehrung auf dem Berg Garizim und eine Rückkehr zum Jerusalemer Kult als Vorbedingung einer Anerkennung der Samaritaner als Israeliten nennen.Footnote 91 Und damit thematisiert die im Verlauf der Begegnung am Jakobsbrunnen zu findende Frage, an welchem Ort angebetet werden müsse,Footnote 92 einen nach dem Traktat Kutim zentralen Punkt der Differenzen zwischen Juden und Samaritanern.Footnote 93 „Im Gespräch mit der Samaritanerin stellt Jesus eine neue Verehrung Gottes in Aussicht, in welcher der Streit um die beiden Kultorte und der verfeindeten Religionsparteien überwunden sein wird … Im johanneischen Text und für das Verständnis der johanneischen Adressaten ist dies die Verehrung des Gottes Israels … Der ‘Streit der Parteien’ wird insofern von Jesus selbst überwunden und gerade darin erweist er sich als derjenige, der die eschatologische Erfüllung nicht nur ankündigt, sondern selbst verkörpert.“Footnote 94 Diese Beschreibung des Gesprächs zwischen Jesus und der Samaritanerin durch Jörg Frey könnte man durchaus auch als Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Samaritaner mit den Juden deuten, welche Teil prophetischer Hoffnung war,Footnote 95 und als solche auch im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt.Footnote 96 In diesem Kontext kann die Anbetung in „Geist und Wahrheit“ (Joh 4.24) anstelle „auf diesem Berg oder in Jerusalem“ (Joh 4.21) als Überwindung des Streits zwischen Juden und Samaritanern um den rechten Ort der Anbetung gewertet werden.Footnote 97
3. Ergebnis
Die Schilderung der Samaritanerin in Joh 4 ist weit positiver als bisher wahrgenommen; implizit wird sogar eine Aussage über ihre Zugehörigkeit zu Israel getroffen.Footnote 98 Deswegen greift selbst die relativ positive Bewertung der Passage durch Martina Böhm zu kurz: „Bei Joh 4 fällt dabei auf, daß die Erzählung eher um reale theologische Differenzen zwischen Juden und Samaritanern im 1. Jh.n. kreist, als daß sie Teil hat an zeitgenössischer Polemik und Vorurteilen, die durch die Versionen von 2Kön 17 geprägt worden sein könnten. Insofern dürfte der Text als ein Beispiel für eine ‚neutrale' Schilderung der Samaritaner stehen.“Footnote 99
Es handelt sich nicht einfach um eine „neutrale“ Darstellung. Vielmehr darf sich die Samaritanerin durch die von Jesus nicht in Frage gestellte Berufung auf ihre Abstammung von „unserem Vater Jakob“ stellvertretend für alle Samaritaner als vollwertiges Mitglied eines der Stämme Israels bezeichnen.Footnote 100 Die Tatsache, dass der Brunnen in dem Gebiet liegt, „das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte“, zeigt ferner, dass die Samaritaner im Johannesevangelium korrekt dem „Haus Josef“Footnote 101 und damit den Stämmen Ephraim und Manasse zugeordnet werden. Auch an anderen Stellen dieser Passage des Johannesevangeliums scheint ein großes Wissen um samaritanische Theologie vorausgesetzt zu werden.Footnote 102
Ferner wird durch die pointierte Darstellung der Samaritanerin als in einer nicht der Tora entsprechenden Beziehung lebend, die intratextuell mit den Juden kontrastiert wird, denen Jesus die Abrahamskindschaft abspricht, eine eindeutige theologische Aussage bezüglich der Samaritaner gemacht. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die theologische Bedeutung der Frage nach einer „Herkunft aus dem Ehebruch“ im Rahmen der Auseinandersetzung um die Herkunft der Juden von Abraham dezidiert thematisiert wird.Footnote 103 Eine samaritanische Frau, die nach fünf EhenFootnote 104 mit einem Mann, „der nicht ihr Mann ist“, lebt,Footnote 105 darf durch ihre Berufung auf den Erzvater Jakob ihre Zugehörigkeit zum Volk Israel unwidersprochen feststellen.Footnote 106
Der Verfasser des Textes wählt durch die verwendete Genealogie eine Kodierung, die in besonderer Weise jüdischen Lesern verständlich ist. Dies zeigt, wie sehr der Verfasser in jüdischen Traditionen verwurzelt war, während gleichzeitig ein erstaunlich positives Bild der samaritanischen Identität gezeichnet wird.Footnote 107 Es ist also nicht mehr möglich, unter Verweis auf Joh 4.9 zu behaupten, dass sich generell im Neuen Testament eine ablehnende Haltung gegenüber den Samaritanern belegen ließe.Footnote 108
Vielmehr sollte die Begegnung von Jesus mit der Frau am Brunnen als ein Beleg dafür gewertet werden, dass die Samaritaner sich selbst um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als Nachkommen des Hauses Josef – mit den Stämmen Ephraim und Manasse – ansahen und dass johanneische Christen, die selbst einen „Messias“Footnote 109 verehrten, den sie auch als den „Gesalbten“ (χϱιστός)Footnote 110 bezeichneten, und zu denen zweifellos zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums auch zahlreiche Juden-Christen gehörten, welche die genealogische Argumentation des vorliegenden Textes verstanden, diese Samaritaner implizit als Teil des Volkes Israel anerkannten.Footnote 111 Damit ist die traditionelle Auslegung dieser Passage als Grundlegung von „Heidenmission“ und weltweiter Verkündigung des Christentums Teil christlicher Identität, der im Gegensatz zum Judentum genealogische Argumente fremd sind: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“Footnote 112 Die hier – und an vielen anderen Stellen neutestamentlicher, vor allem paulinischer, Schriften – zu findende Entgrenzung des „Volkes Gottes“ im Sinne „aller Gläubigen“ aus „allen Völkern“ ist, wie anhand der impliziten genealogischen Argumente gezeigt wurde, in der vorliegenden Stelle des Johannesevangeliums nicht zu finden. Ferner muss aufgrund der vorliegenden Analyse die Hypothese abgelehnt werden, dass es sich bei den Samaritanern aus Sicht des Johannesevangliums um „‚halbe Heiden'“ gehandelt habe, „die hier stellvertretend für alle Heiden stehen“.Footnote 113
Und damit ist die vorliegende Stelle als eine der Passagen zu werten, in denen die frühchristliche Identität eine (zumindest zu Teilen) judenchristliche Identität war, bei der es erst einmal um die Frage ging, wer „ein wahrer Israelit“ (Joh 1.47b) sei – schließlich gab es im ersten Jahrhundert auch die heiß umkämpfte Frage, ob die Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Gottes auch für Christen gelte (vgl. Apg 15).